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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Überwindung des europäischen Nihilismus

der Persönlichkeit abhängt. Nicht alle Menschen können gleich stark werten,
nicht alle in gleichem Maße das Bedürfnis nach letzten und absoluten Werten
in sich tragen, nicht alle also in gleicher Weise Werte schaffen, aus sich heraus¬
stellen und der Welt auferlegen. Die Gabe der Wertbildung ist vielmehr letzten
Endes dem ethischen oder religiösen Genie aufgespart. Der Mensch dieser Art
wertet alles, auch das Kleine und Alltägliche, aus der letzten, absoluten Wertung;
er wertet mit elementarer Leidenschaftlichkeit; er trägt seine werterzeugende Kraft
wie ein Naturgesetz, als objektiven, "göttlichen" Wert mit sich herum, er vermag
sie in einem Äußerlich sichtbaren Symbol auszudrücken, und er ist in der gro߬
artigen Naivität, mit der er seine Wertung als den Wert schlechtweg empfindet,
fähig, der übrigen Menschheit seinen Willen, oder wie man mit einem alten
mißverständlichen Ausdruck sagen kann: einen neuen Glauben zu suggerieren.
Denn auch wir wissenschaftlichen Menschen vertragen nicht nur, sondern brauchen
den Glauben, trotz des monistischen Jahrhunderts. Einen Glauben freilich, der
mit unserem Wissen in Widerspruch steht, weisen wir von uns; aber jenseits
des Wissens beginnt heute wie immer der Glaube, d. h. das Wertsetzen.
Darauf verzichten hieße das Kronrecht der Menschenwürde aufgeben.

Aus allen diesen Prämissen ergibt sich nun von selbst die erlösende Folge¬
rung: Die Welt kann nicht sinnlos werden, denn sie kann nicht wertlos werden,
oder wenn sie es eine Zeitlang ist, weil die alten Werte unter dem Fortschritt
des Wissens zusammenbrechen, so kann doch nie bewiesen werden, daß sie wertlos
sei, so wenig wie das Kausalgesetz als eine Grundfunktion der Seele widerlegt
werden kann. Es kann folglich auch nie bewiesen werden, daß die Welt zwecklos
oder ziellos sei; denn der neue Wert wird sich von selbst als Zweck in den
Kosmos projizieren. Was die Naturwissenschaft leisten kann und wohl heute
geleistet hat, ist der Nachweis, daß der bisher angenommene Zweck einer
beständigen Aufwärtsbewegung zum Vollkommenerer nicht besteht. Aber damit
ist nicht entschieden, daß die Welt nicht einen ganz anderen Zweck haben könnte.
Wir unterliegen freilich der Empfindung, als sei jener Zweck der einzig mögliche,
der einzige, der den Begriff Zweck ausfüllt. Das aber ist Täuschung, darauf
beruhend, daß er die genau entsprechende Projizierung der bisherigen, Jahr¬
tausende alten, wie Nietzsche sagt, "moralistischen" Wertsetzung war. Hat uns
ein neuer Prophet eine neue "amoralistische" Wertsetzung gegeben, d. h. eine
nicht auf dem Glauben an einen persönlichen, sittlich vollkommenen Gott
beruhende Wertsetzung, so wird sich daraus die genau entsprechende Zweck- und
Zielvorstellung notwendig ergeben, deren Inhalt dann unzweifelhaft nicht die
Vervollkommnung in inkinitum sein wird.

Jetzt erst ist die Gefahr des europäischen Nihilismus, die Nietzsche mit
grellen Farben gemalt hat, überwunden; vielmehr: jetzt ist bewiesen, daß diese
Gefahr überwunden werden kann, daß es einen Weg gibt, der aus der Sinn¬
losigkeit und Ratlosigkeit herausführt. Nietzsche hatte also mit seiner genialen
Konzeption, daß wenn die Welt keinen Sinn hat, man ihr einen geben müsse.


Die Überwindung des europäischen Nihilismus

der Persönlichkeit abhängt. Nicht alle Menschen können gleich stark werten,
nicht alle in gleichem Maße das Bedürfnis nach letzten und absoluten Werten
in sich tragen, nicht alle also in gleicher Weise Werte schaffen, aus sich heraus¬
stellen und der Welt auferlegen. Die Gabe der Wertbildung ist vielmehr letzten
Endes dem ethischen oder religiösen Genie aufgespart. Der Mensch dieser Art
wertet alles, auch das Kleine und Alltägliche, aus der letzten, absoluten Wertung;
er wertet mit elementarer Leidenschaftlichkeit; er trägt seine werterzeugende Kraft
wie ein Naturgesetz, als objektiven, „göttlichen" Wert mit sich herum, er vermag
sie in einem Äußerlich sichtbaren Symbol auszudrücken, und er ist in der gro߬
artigen Naivität, mit der er seine Wertung als den Wert schlechtweg empfindet,
fähig, der übrigen Menschheit seinen Willen, oder wie man mit einem alten
mißverständlichen Ausdruck sagen kann: einen neuen Glauben zu suggerieren.
Denn auch wir wissenschaftlichen Menschen vertragen nicht nur, sondern brauchen
den Glauben, trotz des monistischen Jahrhunderts. Einen Glauben freilich, der
mit unserem Wissen in Widerspruch steht, weisen wir von uns; aber jenseits
des Wissens beginnt heute wie immer der Glaube, d. h. das Wertsetzen.
Darauf verzichten hieße das Kronrecht der Menschenwürde aufgeben.

Aus allen diesen Prämissen ergibt sich nun von selbst die erlösende Folge¬
rung: Die Welt kann nicht sinnlos werden, denn sie kann nicht wertlos werden,
oder wenn sie es eine Zeitlang ist, weil die alten Werte unter dem Fortschritt
des Wissens zusammenbrechen, so kann doch nie bewiesen werden, daß sie wertlos
sei, so wenig wie das Kausalgesetz als eine Grundfunktion der Seele widerlegt
werden kann. Es kann folglich auch nie bewiesen werden, daß die Welt zwecklos
oder ziellos sei; denn der neue Wert wird sich von selbst als Zweck in den
Kosmos projizieren. Was die Naturwissenschaft leisten kann und wohl heute
geleistet hat, ist der Nachweis, daß der bisher angenommene Zweck einer
beständigen Aufwärtsbewegung zum Vollkommenerer nicht besteht. Aber damit
ist nicht entschieden, daß die Welt nicht einen ganz anderen Zweck haben könnte.
Wir unterliegen freilich der Empfindung, als sei jener Zweck der einzig mögliche,
der einzige, der den Begriff Zweck ausfüllt. Das aber ist Täuschung, darauf
beruhend, daß er die genau entsprechende Projizierung der bisherigen, Jahr¬
tausende alten, wie Nietzsche sagt, „moralistischen" Wertsetzung war. Hat uns
ein neuer Prophet eine neue „amoralistische" Wertsetzung gegeben, d. h. eine
nicht auf dem Glauben an einen persönlichen, sittlich vollkommenen Gott
beruhende Wertsetzung, so wird sich daraus die genau entsprechende Zweck- und
Zielvorstellung notwendig ergeben, deren Inhalt dann unzweifelhaft nicht die
Vervollkommnung in inkinitum sein wird.

Jetzt erst ist die Gefahr des europäischen Nihilismus, die Nietzsche mit
grellen Farben gemalt hat, überwunden; vielmehr: jetzt ist bewiesen, daß diese
Gefahr überwunden werden kann, daß es einen Weg gibt, der aus der Sinn¬
losigkeit und Ratlosigkeit herausführt. Nietzsche hatte also mit seiner genialen
Konzeption, daß wenn die Welt keinen Sinn hat, man ihr einen geben müsse.


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[0616] Die Überwindung des europäischen Nihilismus der Persönlichkeit abhängt. Nicht alle Menschen können gleich stark werten, nicht alle in gleichem Maße das Bedürfnis nach letzten und absoluten Werten in sich tragen, nicht alle also in gleicher Weise Werte schaffen, aus sich heraus¬ stellen und der Welt auferlegen. Die Gabe der Wertbildung ist vielmehr letzten Endes dem ethischen oder religiösen Genie aufgespart. Der Mensch dieser Art wertet alles, auch das Kleine und Alltägliche, aus der letzten, absoluten Wertung; er wertet mit elementarer Leidenschaftlichkeit; er trägt seine werterzeugende Kraft wie ein Naturgesetz, als objektiven, „göttlichen" Wert mit sich herum, er vermag sie in einem Äußerlich sichtbaren Symbol auszudrücken, und er ist in der gro߬ artigen Naivität, mit der er seine Wertung als den Wert schlechtweg empfindet, fähig, der übrigen Menschheit seinen Willen, oder wie man mit einem alten mißverständlichen Ausdruck sagen kann: einen neuen Glauben zu suggerieren. Denn auch wir wissenschaftlichen Menschen vertragen nicht nur, sondern brauchen den Glauben, trotz des monistischen Jahrhunderts. Einen Glauben freilich, der mit unserem Wissen in Widerspruch steht, weisen wir von uns; aber jenseits des Wissens beginnt heute wie immer der Glaube, d. h. das Wertsetzen. Darauf verzichten hieße das Kronrecht der Menschenwürde aufgeben. Aus allen diesen Prämissen ergibt sich nun von selbst die erlösende Folge¬ rung: Die Welt kann nicht sinnlos werden, denn sie kann nicht wertlos werden, oder wenn sie es eine Zeitlang ist, weil die alten Werte unter dem Fortschritt des Wissens zusammenbrechen, so kann doch nie bewiesen werden, daß sie wertlos sei, so wenig wie das Kausalgesetz als eine Grundfunktion der Seele widerlegt werden kann. Es kann folglich auch nie bewiesen werden, daß die Welt zwecklos oder ziellos sei; denn der neue Wert wird sich von selbst als Zweck in den Kosmos projizieren. Was die Naturwissenschaft leisten kann und wohl heute geleistet hat, ist der Nachweis, daß der bisher angenommene Zweck einer beständigen Aufwärtsbewegung zum Vollkommenerer nicht besteht. Aber damit ist nicht entschieden, daß die Welt nicht einen ganz anderen Zweck haben könnte. Wir unterliegen freilich der Empfindung, als sei jener Zweck der einzig mögliche, der einzige, der den Begriff Zweck ausfüllt. Das aber ist Täuschung, darauf beruhend, daß er die genau entsprechende Projizierung der bisherigen, Jahr¬ tausende alten, wie Nietzsche sagt, „moralistischen" Wertsetzung war. Hat uns ein neuer Prophet eine neue „amoralistische" Wertsetzung gegeben, d. h. eine nicht auf dem Glauben an einen persönlichen, sittlich vollkommenen Gott beruhende Wertsetzung, so wird sich daraus die genau entsprechende Zweck- und Zielvorstellung notwendig ergeben, deren Inhalt dann unzweifelhaft nicht die Vervollkommnung in inkinitum sein wird. Jetzt erst ist die Gefahr des europäischen Nihilismus, die Nietzsche mit grellen Farben gemalt hat, überwunden; vielmehr: jetzt ist bewiesen, daß diese Gefahr überwunden werden kann, daß es einen Weg gibt, der aus der Sinn¬ losigkeit und Ratlosigkeit herausführt. Nietzsche hatte also mit seiner genialen Konzeption, daß wenn die Welt keinen Sinn hat, man ihr einen geben müsse.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/616>, abgerufen am 24.08.2024.