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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Überwindung des europäischen Nihilismus

aller Werte auf den absoluten Wert überhaupt verzichten? Müssen
wir uns damit begnügen, daß Werte nur Illusionen sind?

Ich gedenke zu zeigen, daß dieser verhängnisvollen Frage ein Denkfehler
zugrunde liegt. Ich gedenke zu zeigen, daß mit der Entdeckung der Subjektivität
der Werte im Gegenteil dem Dasein Sinn und Wert zurückgegeben und ein für
allemal gesichert ist.

Denn zunächst: was heißt das, objektive Werte? Sind damit allgemein¬
gültige Werte gemeint, solche, die von allen Menschen ohne Ausnahme als Werte
empfunden werden, so gibt es deren unzweifelhaft, z. B. Gesundheit. Aber es
gehört gar nicht zum Wesen eines Wertes, daß er allgemeingültig sei; wir
empfinden unsere ästhetischen und moralischen Wertungen als durchaus gültig,
auch wenn kein anderer sie anerkennen will. Versteht man jedoch unter objektiven
Werten solche, die gelten, abgesehen von einem Werdenden, so ist der Begriff
ein völliger Unsinn. Werte setzen den wertenden Menschen voraus, ebenso wie
die Farben das Auge. Sobald es keine vernünftigen Wesen mehr gibt, haben
auch alle Werte aufgehört, und es besteht durchaus keine Möglichkeit, einen Wert
"objekiv" oder "absolut", d. h. außerhalb des wertenden Subjekts zu konstituieren.
Von diesem Sachverhalt wäre auch ein -- wie immer gefundener -- letzter Wert
von Welt und Dasein nicht ausgenommen. Wenn also die Werte notwendig
subjektiv sind in dem Sinne, daß sie ohne werdendes Subjekt nicht gedacht
werden können, so darf man sie darum noch nicht für Illusion. Täuschung halten.
Auch Raum, Zeit, Kausalität gehören nicht den Dingen selbst an und können
abgesehen vom vernunftbegabten Menschen nicht gedacht werden. Dennoch sind
sie nicht Illusion, sondern Realität. Ebenso folgt aus dem bloßen Nachweis
der Subjektivität aller Werte noch nicht, daß sie Illusionen seien. Und nun
fragen wir uns, auf welche Weise Werte überhaupt entstehen.

Wir haben oben gesagt, indem wir dem allgemeinen und naiven Gefühl
folgten, daß den Werten Zwecke zugrunde liegen müßten, durch welche jene
gerechtfertigt würden, daß es also einen objektiven oder absoluten Wert geben
würde, wenn es gelänge, den objektiven oder absoluten Zweck zu finden, und daß, seit
uns die Naturwissenschaften diese Hoffnung zerstört hätten, auch jenes Bedürfnis
unbefriedigt bleiben müsse. Dieser Deduktion liegt jedoch abermals ein Denk¬
fehler zugrunde, der nun aufgedeckt werden muß. Wir wollen uns die Be¬
griffe, um die es sich hier handelt, zuvor näher ansehen. Es ist nicht von
dem Wert der Dinge die Rede, den man auch ihren Preis nennt; sondern
wir sprechen von ideellen, moralischen, letzten Werten. Wir fragen etwa: was
hat die Wahrheit für einen Wert? Oder das Glück? Es sind die Werte,
über die der Prediger gegrübelt hat, als er zu dem Ergebnis kam: alles ist
eitel. Diese Werte sind scheinbar von einem Zweck abhängig; der Wert der
guten Taten z. B. ist gegründet, wenn sie sich ansammeln zu einem ewigen
Schatze, dessen Segen der Menschheit zugute kommt. Der Wert der Arbeit
kann nicht bezweifelt werden, wenn jeder Strebende sein bescheidenes Teil zur


Die Überwindung des europäischen Nihilismus

aller Werte auf den absoluten Wert überhaupt verzichten? Müssen
wir uns damit begnügen, daß Werte nur Illusionen sind?

Ich gedenke zu zeigen, daß dieser verhängnisvollen Frage ein Denkfehler
zugrunde liegt. Ich gedenke zu zeigen, daß mit der Entdeckung der Subjektivität
der Werte im Gegenteil dem Dasein Sinn und Wert zurückgegeben und ein für
allemal gesichert ist.

Denn zunächst: was heißt das, objektive Werte? Sind damit allgemein¬
gültige Werte gemeint, solche, die von allen Menschen ohne Ausnahme als Werte
empfunden werden, so gibt es deren unzweifelhaft, z. B. Gesundheit. Aber es
gehört gar nicht zum Wesen eines Wertes, daß er allgemeingültig sei; wir
empfinden unsere ästhetischen und moralischen Wertungen als durchaus gültig,
auch wenn kein anderer sie anerkennen will. Versteht man jedoch unter objektiven
Werten solche, die gelten, abgesehen von einem Werdenden, so ist der Begriff
ein völliger Unsinn. Werte setzen den wertenden Menschen voraus, ebenso wie
die Farben das Auge. Sobald es keine vernünftigen Wesen mehr gibt, haben
auch alle Werte aufgehört, und es besteht durchaus keine Möglichkeit, einen Wert
„objekiv" oder „absolut", d. h. außerhalb des wertenden Subjekts zu konstituieren.
Von diesem Sachverhalt wäre auch ein — wie immer gefundener — letzter Wert
von Welt und Dasein nicht ausgenommen. Wenn also die Werte notwendig
subjektiv sind in dem Sinne, daß sie ohne werdendes Subjekt nicht gedacht
werden können, so darf man sie darum noch nicht für Illusion. Täuschung halten.
Auch Raum, Zeit, Kausalität gehören nicht den Dingen selbst an und können
abgesehen vom vernunftbegabten Menschen nicht gedacht werden. Dennoch sind
sie nicht Illusion, sondern Realität. Ebenso folgt aus dem bloßen Nachweis
der Subjektivität aller Werte noch nicht, daß sie Illusionen seien. Und nun
fragen wir uns, auf welche Weise Werte überhaupt entstehen.

Wir haben oben gesagt, indem wir dem allgemeinen und naiven Gefühl
folgten, daß den Werten Zwecke zugrunde liegen müßten, durch welche jene
gerechtfertigt würden, daß es also einen objektiven oder absoluten Wert geben
würde, wenn es gelänge, den objektiven oder absoluten Zweck zu finden, und daß, seit
uns die Naturwissenschaften diese Hoffnung zerstört hätten, auch jenes Bedürfnis
unbefriedigt bleiben müsse. Dieser Deduktion liegt jedoch abermals ein Denk¬
fehler zugrunde, der nun aufgedeckt werden muß. Wir wollen uns die Be¬
griffe, um die es sich hier handelt, zuvor näher ansehen. Es ist nicht von
dem Wert der Dinge die Rede, den man auch ihren Preis nennt; sondern
wir sprechen von ideellen, moralischen, letzten Werten. Wir fragen etwa: was
hat die Wahrheit für einen Wert? Oder das Glück? Es sind die Werte,
über die der Prediger gegrübelt hat, als er zu dem Ergebnis kam: alles ist
eitel. Diese Werte sind scheinbar von einem Zweck abhängig; der Wert der
guten Taten z. B. ist gegründet, wenn sie sich ansammeln zu einem ewigen
Schatze, dessen Segen der Menschheit zugute kommt. Der Wert der Arbeit
kann nicht bezweifelt werden, wenn jeder Strebende sein bescheidenes Teil zur


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[0614] Die Überwindung des europäischen Nihilismus aller Werte auf den absoluten Wert überhaupt verzichten? Müssen wir uns damit begnügen, daß Werte nur Illusionen sind? Ich gedenke zu zeigen, daß dieser verhängnisvollen Frage ein Denkfehler zugrunde liegt. Ich gedenke zu zeigen, daß mit der Entdeckung der Subjektivität der Werte im Gegenteil dem Dasein Sinn und Wert zurückgegeben und ein für allemal gesichert ist. Denn zunächst: was heißt das, objektive Werte? Sind damit allgemein¬ gültige Werte gemeint, solche, die von allen Menschen ohne Ausnahme als Werte empfunden werden, so gibt es deren unzweifelhaft, z. B. Gesundheit. Aber es gehört gar nicht zum Wesen eines Wertes, daß er allgemeingültig sei; wir empfinden unsere ästhetischen und moralischen Wertungen als durchaus gültig, auch wenn kein anderer sie anerkennen will. Versteht man jedoch unter objektiven Werten solche, die gelten, abgesehen von einem Werdenden, so ist der Begriff ein völliger Unsinn. Werte setzen den wertenden Menschen voraus, ebenso wie die Farben das Auge. Sobald es keine vernünftigen Wesen mehr gibt, haben auch alle Werte aufgehört, und es besteht durchaus keine Möglichkeit, einen Wert „objekiv" oder „absolut", d. h. außerhalb des wertenden Subjekts zu konstituieren. Von diesem Sachverhalt wäre auch ein — wie immer gefundener — letzter Wert von Welt und Dasein nicht ausgenommen. Wenn also die Werte notwendig subjektiv sind in dem Sinne, daß sie ohne werdendes Subjekt nicht gedacht werden können, so darf man sie darum noch nicht für Illusion. Täuschung halten. Auch Raum, Zeit, Kausalität gehören nicht den Dingen selbst an und können abgesehen vom vernunftbegabten Menschen nicht gedacht werden. Dennoch sind sie nicht Illusion, sondern Realität. Ebenso folgt aus dem bloßen Nachweis der Subjektivität aller Werte noch nicht, daß sie Illusionen seien. Und nun fragen wir uns, auf welche Weise Werte überhaupt entstehen. Wir haben oben gesagt, indem wir dem allgemeinen und naiven Gefühl folgten, daß den Werten Zwecke zugrunde liegen müßten, durch welche jene gerechtfertigt würden, daß es also einen objektiven oder absoluten Wert geben würde, wenn es gelänge, den objektiven oder absoluten Zweck zu finden, und daß, seit uns die Naturwissenschaften diese Hoffnung zerstört hätten, auch jenes Bedürfnis unbefriedigt bleiben müsse. Dieser Deduktion liegt jedoch abermals ein Denk¬ fehler zugrunde, der nun aufgedeckt werden muß. Wir wollen uns die Be¬ griffe, um die es sich hier handelt, zuvor näher ansehen. Es ist nicht von dem Wert der Dinge die Rede, den man auch ihren Preis nennt; sondern wir sprechen von ideellen, moralischen, letzten Werten. Wir fragen etwa: was hat die Wahrheit für einen Wert? Oder das Glück? Es sind die Werte, über die der Prediger gegrübelt hat, als er zu dem Ergebnis kam: alles ist eitel. Diese Werte sind scheinbar von einem Zweck abhängig; der Wert der guten Taten z. B. ist gegründet, wenn sie sich ansammeln zu einem ewigen Schatze, dessen Segen der Menschheit zugute kommt. Der Wert der Arbeit kann nicht bezweifelt werden, wenn jeder Strebende sein bescheidenes Teil zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/614>, abgerufen am 22.12.2024.