Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.Die Überwindung des europäischen Nihilismus damit ist das Leben im ganzen noch nicht gerechtfertigt; denn es bleibt immer Diese Gefahr, daß mit dem Absterben der Religionen des persönlichen Grenzboten I 1S13 39
Die Überwindung des europäischen Nihilismus damit ist das Leben im ganzen noch nicht gerechtfertigt; denn es bleibt immer Diese Gefahr, daß mit dem Absterben der Religionen des persönlichen Grenzboten I 1S13 39
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Die Überwindung des europäischen Nihilismus
damit ist das Leben im ganzen noch nicht gerechtfertigt; denn es bleibt immer
die Frage übrig, welches der Wert all dieser Werte sei. Und wir werden uns
nicht eher beruhigen, als bis wir den letzten, absoluten, von menschlichen Be¬
ziehungen unabhängigen, namentlich nicht an den Erfolg oder die Dauer ge¬
bundenen Wert, kurz, den objektiven Wert des Daseins oder der Welt gefunden
haben. Wenn also die Naturwissenschaft glaubt, nachweisen zu können, daß es
ein Ziel, einen objektiven Zweck der Weltentwicklung nicht gibt, so gibt es auch
keinen absoluten oder objektiven Wert; vielmehr stellen sich alle Werte als sub¬
jektiv heraus. Wenn der ganze Aufstieg der organischen Welt von der Zelle
bis zum Menschen oder darüber hinaus nicht eine Folge ins Ewige hat, sondern
einmal im Nichts verlöschen wird, wenn also die Erde in die Sonne fällt und
alle darauf angehäuften Leistungen dem Untergang geweiht werden, so sind sie
auch wirklich radikal vernichtet; es gibt keinen Gott, der die guten Taten in
ein Buch zu ewigem Andenken verzeichnete. Die höchsten Schöpfungen des
Genius, die größten Heldentaten der Heroen sind, als wären sie nie gewesen.
Der Wert aller Werte ist also an die Zeit, an die Dauer, an den Erfolg ge¬
bunden; oder, da bei der Beurteilung des ewigen Wertes es gleichgültig ist,
ob das Ende nach tausend oder nach tausend Millionen Jahren kommt, so gibt
es also keinen Wert; es ist ins große und ganze gerechnet gleichgültig, ob wir
gut oder schlecht sind, ob wir uns abmühen oder es uns wohl sein lassen, ob
es mit den Völkern aufwärts oder abwärts geht, ob die erschaffene Welt sich
„entwickelt" oder nicht. Wenn der ewige Zweck fehlt, der durch das alles
verwirklicht werden soll, so hat es nur zufälligen, vorübergehenden, sub¬
jektiven Wert.
Diese Gefahr, daß mit dem Absterben der Religionen des persönlichen
Gottes und auf Grund unserer Naturerkenntnis alle Werte sich als subjektiv
herausstellen, ist eigentlich die Krisis, die Nietzsche unter dem Namen des euro¬
päischen Nihilismus voraus verkündet hat. Das Zeitalter der Ratlosigkeit und
Verzweiflung, das der große Moralist heraufkommen sah, ist das Zeitalter der
erkannten Subjektivität aller Werte. Damit ist auch schon gesagt, daß Nietzsches
Versuch einer neuen Wertsetzung uns nichts nützt; denn sie gibt sich ja bewußt
als gesetzten, d. h. als subjektiven Wert. Wenn er den Übermenschen lehrt, so
predigt er gewiß einen Wert. Aber ist es der Wert? Daß es nicht der Wert,
der eigentliche und objektive ist, gibt ja Nietzsche zu, wenn er ihn verkündet
nicht auf Grund seiner Erkenntnis, sondern kraft des menschlichen Rechtes,
„Tafeln der Werte" aufzustellen. Das kann uns nichts nützen. Wenigstens
nicht, wenn es richtig ist, was wir hier vorausgesetzt haben, daß der Wert der
Welt an die Existenz eines objektiven Wertes gebunden ist. Und das ist nun
tatsächlich das Grund- und Kernproblem, von dessen Lösung die Möglichkeit
einer neuen Wertsetzung, die Erneuerung der Religion und der Ethik, die Über¬
windung der Sinnlosigkeit und des von Nietzsche so genannten europäischen
Nihilismus abhängt: Müssen wir mit dem Nachweis der Subjektivität
Grenzboten I 1S13 39
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