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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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L. ZV, Raiffeisen

lag es besonders im Argen und vor allem der Viehwucher hatte einen Umfang
und Formen angenommen, die einen Menschenfreund wie Rmffeisen erschrecken
mußten. Nach seiner Versetzung nach dem benachbarten Flammersfeld gründete
denn Naiffeisen 1849 eine neue Vereinigung unter dem Namen "Flammers-
felder Hilfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte", die sich namentlich
die Beschaffung von gutem Vieh zur Aufgabe stellte, daneben aber auch Funk¬
tionen einer Sparkasse erfüllen sollte. Wie in Weverbusch hatte Raiffeisen auch
hier nur die Wohlhabenden zusammengeschlossen, um seiner Vereinigung Kredit
zu beschaffen, während die Hilfsbedürftigen nicht die Träger des Unternehmens
waren. Immerhin war diese Vereinigung keine Wohltätigkeits-, sondern eine
Wohlfahrtseinrichtung im heutigen Sinne, denn die Hilfsbedürftigen erhielten
nicht Almosen, sondern nur den bisher entbehrten Kredit und zahlten Zinsen
und Abträge wie jeder andere Schuldner.

Wenn der Flammersfelder Hilfsverein nach dem Gesagten auch noch nicht
sämtliche Elemente einer Genossenschaft im heutigen Sinne aufweist -- es fehlt
die Beteiligung der Kreditbedürftigen als Träger des Unternehmens -- so sind
doch alle anderen für die späteren ländlichen Genossenschaften kennzeichnenden
Grundzüge bereits in ihm enthalten und er ist zweifellos der unmittelbare Vor¬
läufer des "Spar- und Darlehnskassenvereins", der eigentlichen Schöpfung
Raiffeisens. Es ist dies nicht ohne Bedeutung, da diese Flammersfelder Gründung,
wie feststeht, ein originales Werk Raiffeisens und unbeeinflußt von den gleich¬
zeitigen Versuchen Schulze-Delitzschs zustande gekommen ist.

1852 wurde Raiffeisen nach Heddesdors bei Neuwied versetzt, wo er bis
1865 Bürgermeister war und bis zu seinem Ende lebte.

Hier schuf er nach dem Vorbilde seines Flammersfelder Vereins 1854 den
"Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein", der zahlreiche Aufgaben, wie Kinderfürsorge,
Versorgung entlassener Sträflinge, aber auch Kreditgewährung und Sparkafsen-
tätigkeit in sein Programm aufnahm. Während seines zehnjährigen Bestehens
mußte er aber eine Aufgabe nach der anderen fallen lassen, bis ihm schließlich
das Kreditgeschäft, dieses allerdings in immer steigendem Umfang und bei guten
Erfolgen, als einziges Arbeitsgebiet verblieb. Noch immer war aber der Verein
auf den wohlhabenden Einwohnern aufgebaut und die Darlehen wurden an
NichtMitglieder gegeben. Dieses Verhältnis, an dem Raiffeisen lange und bewußt
festhielt, findet seine Erklärung in seiner christlichen Grundanschauung, die es
ihm geboten erscheinen ließ, durch seinen Verein den Wohlhabenden Gelegenheit
zu praktischem Christentum zu geben, wie er selbst ohne jeden persönlichen Vorteil
nur im Interesse der bedürftigen Volksgenossen die Arbeit im Verein leistete.
Endlich im Jahre 1864 wandelte Raiffeisen in Anlehnung an Schulze-Delitzsch
seinen Verein in den "Heddesdorfer Darlehnskassenverein" um. nachdem er in
seiner langen Praxis den wirtschaftlichen und moralischen Wert der Mitwirkung
der Hilfsbedürftigen, der Selbsthilfe, kennen gelernt hatte. Nach einigen Jahren
praktischer Erprobung ließ Raiffeisen jedoch die von Schulze-Delitzsch über-


Grenzboten I 1913 36
L. ZV, Raiffeisen

lag es besonders im Argen und vor allem der Viehwucher hatte einen Umfang
und Formen angenommen, die einen Menschenfreund wie Rmffeisen erschrecken
mußten. Nach seiner Versetzung nach dem benachbarten Flammersfeld gründete
denn Naiffeisen 1849 eine neue Vereinigung unter dem Namen „Flammers-
felder Hilfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte", die sich namentlich
die Beschaffung von gutem Vieh zur Aufgabe stellte, daneben aber auch Funk¬
tionen einer Sparkasse erfüllen sollte. Wie in Weverbusch hatte Raiffeisen auch
hier nur die Wohlhabenden zusammengeschlossen, um seiner Vereinigung Kredit
zu beschaffen, während die Hilfsbedürftigen nicht die Träger des Unternehmens
waren. Immerhin war diese Vereinigung keine Wohltätigkeits-, sondern eine
Wohlfahrtseinrichtung im heutigen Sinne, denn die Hilfsbedürftigen erhielten
nicht Almosen, sondern nur den bisher entbehrten Kredit und zahlten Zinsen
und Abträge wie jeder andere Schuldner.

Wenn der Flammersfelder Hilfsverein nach dem Gesagten auch noch nicht
sämtliche Elemente einer Genossenschaft im heutigen Sinne aufweist — es fehlt
die Beteiligung der Kreditbedürftigen als Träger des Unternehmens — so sind
doch alle anderen für die späteren ländlichen Genossenschaften kennzeichnenden
Grundzüge bereits in ihm enthalten und er ist zweifellos der unmittelbare Vor¬
läufer des „Spar- und Darlehnskassenvereins", der eigentlichen Schöpfung
Raiffeisens. Es ist dies nicht ohne Bedeutung, da diese Flammersfelder Gründung,
wie feststeht, ein originales Werk Raiffeisens und unbeeinflußt von den gleich¬
zeitigen Versuchen Schulze-Delitzschs zustande gekommen ist.

1852 wurde Raiffeisen nach Heddesdors bei Neuwied versetzt, wo er bis
1865 Bürgermeister war und bis zu seinem Ende lebte.

Hier schuf er nach dem Vorbilde seines Flammersfelder Vereins 1854 den
„Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein", der zahlreiche Aufgaben, wie Kinderfürsorge,
Versorgung entlassener Sträflinge, aber auch Kreditgewährung und Sparkafsen-
tätigkeit in sein Programm aufnahm. Während seines zehnjährigen Bestehens
mußte er aber eine Aufgabe nach der anderen fallen lassen, bis ihm schließlich
das Kreditgeschäft, dieses allerdings in immer steigendem Umfang und bei guten
Erfolgen, als einziges Arbeitsgebiet verblieb. Noch immer war aber der Verein
auf den wohlhabenden Einwohnern aufgebaut und die Darlehen wurden an
NichtMitglieder gegeben. Dieses Verhältnis, an dem Raiffeisen lange und bewußt
festhielt, findet seine Erklärung in seiner christlichen Grundanschauung, die es
ihm geboten erscheinen ließ, durch seinen Verein den Wohlhabenden Gelegenheit
zu praktischem Christentum zu geben, wie er selbst ohne jeden persönlichen Vorteil
nur im Interesse der bedürftigen Volksgenossen die Arbeit im Verein leistete.
Endlich im Jahre 1864 wandelte Raiffeisen in Anlehnung an Schulze-Delitzsch
seinen Verein in den „Heddesdorfer Darlehnskassenverein" um. nachdem er in
seiner langen Praxis den wirtschaftlichen und moralischen Wert der Mitwirkung
der Hilfsbedürftigen, der Selbsthilfe, kennen gelernt hatte. Nach einigen Jahren
praktischer Erprobung ließ Raiffeisen jedoch die von Schulze-Delitzsch über-


Grenzboten I 1913 36
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/565>, abgerufen am 22.12.2024.