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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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L, !V. Raiffeisen

der vorbildlichen Propagandaarbeit in Wort und Schrift, die sich seine Nach¬
folger in der Leitung des von ihm geschaffenen "Allgemeinen Verbandes" haben
angelegen sein lassen, während die nach ihm organisierten Genossenschaften
der Zahl nach hinter denen anderer Richtungen weit zurückstehen. Namentlich
die ländlichen Genossenschaften sind es, die sich in ihrem Aufbau wesentlich
von den nach Schulze-Delitzsch aufgebauten "Volksbanken", "Vorschußvereinen"
unterscheiden.

Ihr Schöpfer ist Raiffeisen, dessen Todestag sich am 11. März zum fünf-
undzwanzigstenmal jährte. Auf ihn und seine Schöpfung soll im folgenden kurz
eingegangen werden.

Friedrich Wilhelm Raiffeisen wurde geboren am 30. März 1818 in
Hamm a. d. Sieg als Sohn des dortigen Bürgermeisters. Nach dem frühen
Tod seines Vaters genoß der Knabe den Unterricht der heimischen Volksschule
und alsdann, dank dem Verständnis des Ortspfarrers Seippel, noch drei Jahre
Privatunterricht bei diesem. Er trat mit siebzehn Jahren als Freiwilliger bei
der Artillerie in Köln ein, bestand das Examen als Oberfenerwerker und
arbeitete dann an einer staatlichen Geschützgießerei. Eines Augenleidens wegen,
das später zu seiner fast völligen Erblindung führen sollte, mußte er den
Militärdienst aufgeben und trat bei der Negierung in Koblenz als Zivilsuper-
numerar zur Verwaltungslaufbahn über. Schon in jenen Jahren betonen
Zeugnisse von Außenstehenden den sittlichen Ernst des jungen Mannes, seine
innige Religiosität und den praktischen Blick, mit dem er soziale und moralische
Nöte erkannte und zu ihrer Besserung Hand anzulegen suchte.

Bereits mit fünfundzwanzig Jahren wurde Raiffeisen zum Kreissekretär in
einem Eifelstädtchen ernannt und mit siebenundzwanzig Jahren mit der Ver¬
waltung der fünfundzwanzig Ortschaften umfassenden Landbürgermeisterei
Weyerbusch im Westerwald betraut. Hier erlebte er die für die Landbevölkerung
des ganzen Gebietes so unheilvollen Teuerungsjahre 1846 und 1847. Er
mußte mit ansehen, wie der kleine Bauer und Tagelöhner infolge der Mißernten
geradezu zum Sklaven feiner wucherischer Geldgeber herabgedrückt wurde und
nicht nur seine wirtschaftliche Selbständigkeit mehr oder weniger schwinden sah.
sondern auch seine moralische Widerstandskraft, seinen Trieb, durch eigenes
Handeln sein Los zu verbessern, mehr und mehr verlor.

Sein praktischer Sinn ließ Raiffeisen schnell nach Hilfsmitteln suchen und
so schuf er unter Mitwirkung einer Reihe wohlhabender Einwohner eine Art
von Konsumverein, der billiges Getreide beschaffen sollte und dem der Betrieb
einer eigenen Bäckerei angegliedert wurde, die gegen billigen Preis den ärmeren
Einwohnern Brot lieferte und darüber hinaus bald preisregulierend auf die
ganze Gegend wirkte.

Raiffeisen erkannte aber klar, daß die Gründung in Weyerbusch nur zur
Linderung eines vorübergehenden Notstands geeignet und der Landbevölkerung
nur mit einer dauernden Verbesserung der Kreditverhältnisse geholfen sei. Hier


L, !V. Raiffeisen

der vorbildlichen Propagandaarbeit in Wort und Schrift, die sich seine Nach¬
folger in der Leitung des von ihm geschaffenen „Allgemeinen Verbandes" haben
angelegen sein lassen, während die nach ihm organisierten Genossenschaften
der Zahl nach hinter denen anderer Richtungen weit zurückstehen. Namentlich
die ländlichen Genossenschaften sind es, die sich in ihrem Aufbau wesentlich
von den nach Schulze-Delitzsch aufgebauten „Volksbanken", „Vorschußvereinen"
unterscheiden.

Ihr Schöpfer ist Raiffeisen, dessen Todestag sich am 11. März zum fünf-
undzwanzigstenmal jährte. Auf ihn und seine Schöpfung soll im folgenden kurz
eingegangen werden.

Friedrich Wilhelm Raiffeisen wurde geboren am 30. März 1818 in
Hamm a. d. Sieg als Sohn des dortigen Bürgermeisters. Nach dem frühen
Tod seines Vaters genoß der Knabe den Unterricht der heimischen Volksschule
und alsdann, dank dem Verständnis des Ortspfarrers Seippel, noch drei Jahre
Privatunterricht bei diesem. Er trat mit siebzehn Jahren als Freiwilliger bei
der Artillerie in Köln ein, bestand das Examen als Oberfenerwerker und
arbeitete dann an einer staatlichen Geschützgießerei. Eines Augenleidens wegen,
das später zu seiner fast völligen Erblindung führen sollte, mußte er den
Militärdienst aufgeben und trat bei der Negierung in Koblenz als Zivilsuper-
numerar zur Verwaltungslaufbahn über. Schon in jenen Jahren betonen
Zeugnisse von Außenstehenden den sittlichen Ernst des jungen Mannes, seine
innige Religiosität und den praktischen Blick, mit dem er soziale und moralische
Nöte erkannte und zu ihrer Besserung Hand anzulegen suchte.

Bereits mit fünfundzwanzig Jahren wurde Raiffeisen zum Kreissekretär in
einem Eifelstädtchen ernannt und mit siebenundzwanzig Jahren mit der Ver¬
waltung der fünfundzwanzig Ortschaften umfassenden Landbürgermeisterei
Weyerbusch im Westerwald betraut. Hier erlebte er die für die Landbevölkerung
des ganzen Gebietes so unheilvollen Teuerungsjahre 1846 und 1847. Er
mußte mit ansehen, wie der kleine Bauer und Tagelöhner infolge der Mißernten
geradezu zum Sklaven feiner wucherischer Geldgeber herabgedrückt wurde und
nicht nur seine wirtschaftliche Selbständigkeit mehr oder weniger schwinden sah.
sondern auch seine moralische Widerstandskraft, seinen Trieb, durch eigenes
Handeln sein Los zu verbessern, mehr und mehr verlor.

Sein praktischer Sinn ließ Raiffeisen schnell nach Hilfsmitteln suchen und
so schuf er unter Mitwirkung einer Reihe wohlhabender Einwohner eine Art
von Konsumverein, der billiges Getreide beschaffen sollte und dem der Betrieb
einer eigenen Bäckerei angegliedert wurde, die gegen billigen Preis den ärmeren
Einwohnern Brot lieferte und darüber hinaus bald preisregulierend auf die
ganze Gegend wirkte.

Raiffeisen erkannte aber klar, daß die Gründung in Weyerbusch nur zur
Linderung eines vorübergehenden Notstands geeignet und der Landbevölkerung
nur mit einer dauernden Verbesserung der Kreditverhältnisse geholfen sei. Hier


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[0564] L, !V. Raiffeisen der vorbildlichen Propagandaarbeit in Wort und Schrift, die sich seine Nach¬ folger in der Leitung des von ihm geschaffenen „Allgemeinen Verbandes" haben angelegen sein lassen, während die nach ihm organisierten Genossenschaften der Zahl nach hinter denen anderer Richtungen weit zurückstehen. Namentlich die ländlichen Genossenschaften sind es, die sich in ihrem Aufbau wesentlich von den nach Schulze-Delitzsch aufgebauten „Volksbanken", „Vorschußvereinen" unterscheiden. Ihr Schöpfer ist Raiffeisen, dessen Todestag sich am 11. März zum fünf- undzwanzigstenmal jährte. Auf ihn und seine Schöpfung soll im folgenden kurz eingegangen werden. Friedrich Wilhelm Raiffeisen wurde geboren am 30. März 1818 in Hamm a. d. Sieg als Sohn des dortigen Bürgermeisters. Nach dem frühen Tod seines Vaters genoß der Knabe den Unterricht der heimischen Volksschule und alsdann, dank dem Verständnis des Ortspfarrers Seippel, noch drei Jahre Privatunterricht bei diesem. Er trat mit siebzehn Jahren als Freiwilliger bei der Artillerie in Köln ein, bestand das Examen als Oberfenerwerker und arbeitete dann an einer staatlichen Geschützgießerei. Eines Augenleidens wegen, das später zu seiner fast völligen Erblindung führen sollte, mußte er den Militärdienst aufgeben und trat bei der Negierung in Koblenz als Zivilsuper- numerar zur Verwaltungslaufbahn über. Schon in jenen Jahren betonen Zeugnisse von Außenstehenden den sittlichen Ernst des jungen Mannes, seine innige Religiosität und den praktischen Blick, mit dem er soziale und moralische Nöte erkannte und zu ihrer Besserung Hand anzulegen suchte. Bereits mit fünfundzwanzig Jahren wurde Raiffeisen zum Kreissekretär in einem Eifelstädtchen ernannt und mit siebenundzwanzig Jahren mit der Ver¬ waltung der fünfundzwanzig Ortschaften umfassenden Landbürgermeisterei Weyerbusch im Westerwald betraut. Hier erlebte er die für die Landbevölkerung des ganzen Gebietes so unheilvollen Teuerungsjahre 1846 und 1847. Er mußte mit ansehen, wie der kleine Bauer und Tagelöhner infolge der Mißernten geradezu zum Sklaven feiner wucherischer Geldgeber herabgedrückt wurde und nicht nur seine wirtschaftliche Selbständigkeit mehr oder weniger schwinden sah. sondern auch seine moralische Widerstandskraft, seinen Trieb, durch eigenes Handeln sein Los zu verbessern, mehr und mehr verlor. Sein praktischer Sinn ließ Raiffeisen schnell nach Hilfsmitteln suchen und so schuf er unter Mitwirkung einer Reihe wohlhabender Einwohner eine Art von Konsumverein, der billiges Getreide beschaffen sollte und dem der Betrieb einer eigenen Bäckerei angegliedert wurde, die gegen billigen Preis den ärmeren Einwohnern Brot lieferte und darüber hinaus bald preisregulierend auf die ganze Gegend wirkte. Raiffeisen erkannte aber klar, daß die Gründung in Weyerbusch nur zur Linderung eines vorübergehenden Notstands geeignet und der Landbevölkerung nur mit einer dauernden Verbesserung der Kreditverhältnisse geholfen sei. Hier

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/564>, abgerufen am 22.07.2024.