Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Engländer in Indien

Für normale Zustände des politischen Lebens hat die periodische Festsetzung
der Friedenspräsenz jede Bedeutung verloren. Das derzeitige Friedenspräsenz¬
gesetz vom 27. März 1911, das für die nächsten fünf Jahre gelten sollte, ist
schon einmal durch eine Erhöhung durchbrochen worden und wird voraussichtlich
demnächst nochmals durchbrochen werden. Denn höher als das Friedenspräsenz¬
gesetz steht die verfassungsmäßige Grundlage unseres Heerwesens, die allgemeine
Wehrpflicht. Sie nicht zu unterbinden, sondern zur Wahrheit zu machen, ist
die Aufgabe des Friedensprüsenzgesetzes.




Die Engländer in Indien
Nadir Von

le Eroberung Indiens durch die Engländer entsprang, wie bereits
in Heft 2 d. Jhrg. der Grenzboten dargetan wurde, keinem wohl¬
überlegten Plane. Sie erfolgte vielmehr zufällig, nicht selten
sogar gegen den Willen der englischen Regierung. Ebenso trug
und trägt zum Teil noch heute die Verwaltung des Landes den
Charakter des Improvisierten. Sie gleicht einem Gebäude, das ohne einheit¬
lichen Bauplan den jeweiligen Augenblicksbedürfnissen entsprechend errichtet,
vergrößert und umgestaltet wurde. In dieser Abneigung gegen alles Doktrinäre,
gegen alle einengende Prinzipienreiterei erkennt man einen Hauptcharakterzug
des englischen Wesens wieder.

England war es, das zuerst den Verfassungsgedanken in die Tat umsetzte
und trotzdem wird es bald das einzige Land der Erde sein, das keine geschriebene
Verfassung besitzt. Nicht nach den längst veralteten Verfassungsurkunden der
"Magna Charta" und den "Habeas - Corpus-Akten", sondern nach einem un¬
geschriebenen Gewohnheitsrecht wird das heutige England regiert. Gewiß sind
dadurch manche überlebten Gebräuche erhalten worden, Atavismen, die zum
Teil dem Nichtengländer geradezu lächerlich erscheinen. Aber dennoch hat keine
noch so schön ausgeklügelte Verfassung sich so plastisch allen neuentstehenden
Bedürfnissen des öffentlichen Lebens anzupassen vermocht, wie das auf altehr¬
würdige Traditionen aufgebaute parlamentarische Regierungssystem Englands.
Während europäische Festlandstaaten trotz aller verbrieften und beschworenen
Konstitutionen nie aus den Verfassungskrisen herauskamen (oder geschah das
vielleicht gerade wegen dieser einengendem Bestimmungen?), verstand es England,
sich seinen Rock stets rechtzeitig nach seinen Bedürfnissen und seinem Geschmack
umzuändern. Diese staatsmännische Anlage eines ganzen Volkes erklärt das


Die Engländer in Indien

Für normale Zustände des politischen Lebens hat die periodische Festsetzung
der Friedenspräsenz jede Bedeutung verloren. Das derzeitige Friedenspräsenz¬
gesetz vom 27. März 1911, das für die nächsten fünf Jahre gelten sollte, ist
schon einmal durch eine Erhöhung durchbrochen worden und wird voraussichtlich
demnächst nochmals durchbrochen werden. Denn höher als das Friedenspräsenz¬
gesetz steht die verfassungsmäßige Grundlage unseres Heerwesens, die allgemeine
Wehrpflicht. Sie nicht zu unterbinden, sondern zur Wahrheit zu machen, ist
die Aufgabe des Friedensprüsenzgesetzes.




Die Engländer in Indien
Nadir Von

le Eroberung Indiens durch die Engländer entsprang, wie bereits
in Heft 2 d. Jhrg. der Grenzboten dargetan wurde, keinem wohl¬
überlegten Plane. Sie erfolgte vielmehr zufällig, nicht selten
sogar gegen den Willen der englischen Regierung. Ebenso trug
und trägt zum Teil noch heute die Verwaltung des Landes den
Charakter des Improvisierten. Sie gleicht einem Gebäude, das ohne einheit¬
lichen Bauplan den jeweiligen Augenblicksbedürfnissen entsprechend errichtet,
vergrößert und umgestaltet wurde. In dieser Abneigung gegen alles Doktrinäre,
gegen alle einengende Prinzipienreiterei erkennt man einen Hauptcharakterzug
des englischen Wesens wieder.

England war es, das zuerst den Verfassungsgedanken in die Tat umsetzte
und trotzdem wird es bald das einzige Land der Erde sein, das keine geschriebene
Verfassung besitzt. Nicht nach den längst veralteten Verfassungsurkunden der
„Magna Charta" und den „Habeas - Corpus-Akten", sondern nach einem un¬
geschriebenen Gewohnheitsrecht wird das heutige England regiert. Gewiß sind
dadurch manche überlebten Gebräuche erhalten worden, Atavismen, die zum
Teil dem Nichtengländer geradezu lächerlich erscheinen. Aber dennoch hat keine
noch so schön ausgeklügelte Verfassung sich so plastisch allen neuentstehenden
Bedürfnissen des öffentlichen Lebens anzupassen vermocht, wie das auf altehr¬
würdige Traditionen aufgebaute parlamentarische Regierungssystem Englands.
Während europäische Festlandstaaten trotz aller verbrieften und beschworenen
Konstitutionen nie aus den Verfassungskrisen herauskamen (oder geschah das
vielleicht gerade wegen dieser einengendem Bestimmungen?), verstand es England,
sich seinen Rock stets rechtzeitig nach seinen Bedürfnissen und seinem Geschmack
umzuändern. Diese staatsmännische Anlage eines ganzen Volkes erklärt das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0512" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325382"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Engländer in Indien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2350"> Für normale Zustände des politischen Lebens hat die periodische Festsetzung<lb/>
der Friedenspräsenz jede Bedeutung verloren. Das derzeitige Friedenspräsenz¬<lb/>
gesetz vom 27. März 1911, das für die nächsten fünf Jahre gelten sollte, ist<lb/>
schon einmal durch eine Erhöhung durchbrochen worden und wird voraussichtlich<lb/>
demnächst nochmals durchbrochen werden. Denn höher als das Friedenspräsenz¬<lb/>
gesetz steht die verfassungsmäßige Grundlage unseres Heerwesens, die allgemeine<lb/>
Wehrpflicht. Sie nicht zu unterbinden, sondern zur Wahrheit zu machen, ist<lb/>
die Aufgabe des Friedensprüsenzgesetzes.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Engländer in Indien<lb/><note type="byline"> Nadir</note> Von</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2351"> le Eroberung Indiens durch die Engländer entsprang, wie bereits<lb/>
in Heft 2 d. Jhrg. der Grenzboten dargetan wurde, keinem wohl¬<lb/>
überlegten Plane. Sie erfolgte vielmehr zufällig, nicht selten<lb/>
sogar gegen den Willen der englischen Regierung. Ebenso trug<lb/>
und trägt zum Teil noch heute die Verwaltung des Landes den<lb/>
Charakter des Improvisierten. Sie gleicht einem Gebäude, das ohne einheit¬<lb/>
lichen Bauplan den jeweiligen Augenblicksbedürfnissen entsprechend errichtet,<lb/>
vergrößert und umgestaltet wurde. In dieser Abneigung gegen alles Doktrinäre,<lb/>
gegen alle einengende Prinzipienreiterei erkennt man einen Hauptcharakterzug<lb/>
des englischen Wesens wieder.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2352" next="#ID_2353"> England war es, das zuerst den Verfassungsgedanken in die Tat umsetzte<lb/>
und trotzdem wird es bald das einzige Land der Erde sein, das keine geschriebene<lb/>
Verfassung besitzt. Nicht nach den längst veralteten Verfassungsurkunden der<lb/>
&#x201E;Magna Charta" und den &#x201E;Habeas - Corpus-Akten", sondern nach einem un¬<lb/>
geschriebenen Gewohnheitsrecht wird das heutige England regiert. Gewiß sind<lb/>
dadurch manche überlebten Gebräuche erhalten worden, Atavismen, die zum<lb/>
Teil dem Nichtengländer geradezu lächerlich erscheinen. Aber dennoch hat keine<lb/>
noch so schön ausgeklügelte Verfassung sich so plastisch allen neuentstehenden<lb/>
Bedürfnissen des öffentlichen Lebens anzupassen vermocht, wie das auf altehr¬<lb/>
würdige Traditionen aufgebaute parlamentarische Regierungssystem Englands.<lb/>
Während europäische Festlandstaaten trotz aller verbrieften und beschworenen<lb/>
Konstitutionen nie aus den Verfassungskrisen herauskamen (oder geschah das<lb/>
vielleicht gerade wegen dieser einengendem Bestimmungen?), verstand es England,<lb/>
sich seinen Rock stets rechtzeitig nach seinen Bedürfnissen und seinem Geschmack<lb/>
umzuändern. Diese staatsmännische Anlage eines ganzen Volkes erklärt das</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0512] Die Engländer in Indien Für normale Zustände des politischen Lebens hat die periodische Festsetzung der Friedenspräsenz jede Bedeutung verloren. Das derzeitige Friedenspräsenz¬ gesetz vom 27. März 1911, das für die nächsten fünf Jahre gelten sollte, ist schon einmal durch eine Erhöhung durchbrochen worden und wird voraussichtlich demnächst nochmals durchbrochen werden. Denn höher als das Friedenspräsenz¬ gesetz steht die verfassungsmäßige Grundlage unseres Heerwesens, die allgemeine Wehrpflicht. Sie nicht zu unterbinden, sondern zur Wahrheit zu machen, ist die Aufgabe des Friedensprüsenzgesetzes. Die Engländer in Indien Nadir Von le Eroberung Indiens durch die Engländer entsprang, wie bereits in Heft 2 d. Jhrg. der Grenzboten dargetan wurde, keinem wohl¬ überlegten Plane. Sie erfolgte vielmehr zufällig, nicht selten sogar gegen den Willen der englischen Regierung. Ebenso trug und trägt zum Teil noch heute die Verwaltung des Landes den Charakter des Improvisierten. Sie gleicht einem Gebäude, das ohne einheit¬ lichen Bauplan den jeweiligen Augenblicksbedürfnissen entsprechend errichtet, vergrößert und umgestaltet wurde. In dieser Abneigung gegen alles Doktrinäre, gegen alle einengende Prinzipienreiterei erkennt man einen Hauptcharakterzug des englischen Wesens wieder. England war es, das zuerst den Verfassungsgedanken in die Tat umsetzte und trotzdem wird es bald das einzige Land der Erde sein, das keine geschriebene Verfassung besitzt. Nicht nach den längst veralteten Verfassungsurkunden der „Magna Charta" und den „Habeas - Corpus-Akten", sondern nach einem un¬ geschriebenen Gewohnheitsrecht wird das heutige England regiert. Gewiß sind dadurch manche überlebten Gebräuche erhalten worden, Atavismen, die zum Teil dem Nichtengländer geradezu lächerlich erscheinen. Aber dennoch hat keine noch so schön ausgeklügelte Verfassung sich so plastisch allen neuentstehenden Bedürfnissen des öffentlichen Lebens anzupassen vermocht, wie das auf altehr¬ würdige Traditionen aufgebaute parlamentarische Regierungssystem Englands. Während europäische Festlandstaaten trotz aller verbrieften und beschworenen Konstitutionen nie aus den Verfassungskrisen herauskamen (oder geschah das vielleicht gerade wegen dieser einengendem Bestimmungen?), verstand es England, sich seinen Rock stets rechtzeitig nach seinen Bedürfnissen und seinem Geschmack umzuändern. Diese staatsmännische Anlage eines ganzen Volkes erklärt das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/512
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/512>, abgerufen am 04.07.2024.