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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Englisches und deutsches Friedenspräsenzrecht

Nach Art. 63 der Reichsverfassung bestimmt der Kaiser den Präsenzstand.
Diese Bestimmung würde neben der gesetzlichen Bestimmung der Friedenspräsenz
unverständlich sein, wenn die gesetzliche Bestimmung nicht bloß das Höchstmaß
bezeichnete. Der Kaiser bestimmt innerhalb des Rahmens des Gesetzes. Er
kann danach den tatsächlichen Friedenspräsenzstand niedriger festsetzen als den
gesetzlichen, z. B. durch Entlassung der Reservisten schon vor der Mitternachts¬
stunde zum 1. Oktober, durch spätere Einziehung der Rekruten. Aber die
kaiserliche Bestimmung ist an das Gesetz gebunden. Solange ein Friedens¬
präsenzgesetz besteht, das den Höchstbestand festsetzt, darf der Kaiser nicht darüber
hinausgehen. Ist dagegen das Friedenspräsenzgesetz abgelaufen, so bindet es
den Kaiser selbstverständlich weiter nicht. Der Kaiser bestimmt dann innerhalb
der allein noch bestehenden gesetzlichen Schranke, derjenigen der allgemeinen
Wehrpflicht. Deren Grenzen darf er nicht verschieben, z. B. nicht den Dienst
der Fußtruppen wieder von zwei Jahren auf drei Jahre verlängern. Aber er
kann anderseits, ungehindert durch ein Friedenspräsenzgesetz, die allgemeine
Wehrpflicht voll ausnutzen und die Friedenspräsenz derart bestimmen, daß alle
Wehrfähigen während der Dauer der Dienstpflicht auch zum Dienste mit der
Waffe herangezogen werden.

Die Lücke des Verfassungsrechtes, die bei dem preußischen Verfassungs¬
konflikte der sechziger Jahre eine so große Rolle spielte, besteht also nach der
Reichsverfassung nicht. Sie wird ausgefüllt durch die kaiserliche Macht¬
vollkommenheit der Festsetzung nach Art. 63. Diese kaiserliche Befugnis könnte
nur eine sehr geringe Rolle spielen, wenn das Friedenspräsenzgesetz als dauerndes
Gesetz erlassen wäre. Sie ist eine gewaltige Waffe im Arsenale des staatlichen
Notrechtes, wenn das alte Friedenspräsenzgesetz abgelaufen, ein neues nicht
erlassen ist. Über die Verfassungswidrigkeit dieses Zustandes ist ebensowenig
ein Wort zu verlieren wie über seine Möglichkeit, zumal kein Faktor der Gesetz¬
gebung gezwungen werden kann, einem Gesetze zuzustimmen.

Die Urheber der periodischen Festsetzung der Friedenspräsenz auf dem
Reichstage von 1874 haben somit in der teilweisen Übertragung des englischen
Systems auf Deutschland das Gegenteil dessen erreicht, was sie bezweckten.
Für Betätigung parlamentarischer Machtansprüche hat sich die periodische Fest¬
setzung als gänzlich gegenstandslos erwiesen. Eine Herabsetzung der Friedens¬
präsenz ist nie in Frage gekommen. Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten
und einige Male von Konflikten zwischen den verbündeten Regierungen und
dem Reichstage war immer nur die Frage der Erhöhung der Friedenspräsenz.
Und diese Frage wäre auch bei dauernder Festlegung der Friedenspräsenz
praktisch geworden. Anderseits gibt die periodische Festsetzung dem Kaiser gegen¬
über einem dauernd oppositionellen Reichstage ein gewaltiges Machtmittel.
Entgegen der ursprünglichen Auffassung hat sich daher die Regierung allmählich
mit dem periodisch zu erneuernden Friedenspräsenzgesetze ausgesöhnt. Der Fremd¬
körper englischen Rechtes ist in unser Verfassungsleben als unschädlich eingekapselt.


Englisches und deutsches Friedenspräsenzrecht

Nach Art. 63 der Reichsverfassung bestimmt der Kaiser den Präsenzstand.
Diese Bestimmung würde neben der gesetzlichen Bestimmung der Friedenspräsenz
unverständlich sein, wenn die gesetzliche Bestimmung nicht bloß das Höchstmaß
bezeichnete. Der Kaiser bestimmt innerhalb des Rahmens des Gesetzes. Er
kann danach den tatsächlichen Friedenspräsenzstand niedriger festsetzen als den
gesetzlichen, z. B. durch Entlassung der Reservisten schon vor der Mitternachts¬
stunde zum 1. Oktober, durch spätere Einziehung der Rekruten. Aber die
kaiserliche Bestimmung ist an das Gesetz gebunden. Solange ein Friedens¬
präsenzgesetz besteht, das den Höchstbestand festsetzt, darf der Kaiser nicht darüber
hinausgehen. Ist dagegen das Friedenspräsenzgesetz abgelaufen, so bindet es
den Kaiser selbstverständlich weiter nicht. Der Kaiser bestimmt dann innerhalb
der allein noch bestehenden gesetzlichen Schranke, derjenigen der allgemeinen
Wehrpflicht. Deren Grenzen darf er nicht verschieben, z. B. nicht den Dienst
der Fußtruppen wieder von zwei Jahren auf drei Jahre verlängern. Aber er
kann anderseits, ungehindert durch ein Friedenspräsenzgesetz, die allgemeine
Wehrpflicht voll ausnutzen und die Friedenspräsenz derart bestimmen, daß alle
Wehrfähigen während der Dauer der Dienstpflicht auch zum Dienste mit der
Waffe herangezogen werden.

Die Lücke des Verfassungsrechtes, die bei dem preußischen Verfassungs¬
konflikte der sechziger Jahre eine so große Rolle spielte, besteht also nach der
Reichsverfassung nicht. Sie wird ausgefüllt durch die kaiserliche Macht¬
vollkommenheit der Festsetzung nach Art. 63. Diese kaiserliche Befugnis könnte
nur eine sehr geringe Rolle spielen, wenn das Friedenspräsenzgesetz als dauerndes
Gesetz erlassen wäre. Sie ist eine gewaltige Waffe im Arsenale des staatlichen
Notrechtes, wenn das alte Friedenspräsenzgesetz abgelaufen, ein neues nicht
erlassen ist. Über die Verfassungswidrigkeit dieses Zustandes ist ebensowenig
ein Wort zu verlieren wie über seine Möglichkeit, zumal kein Faktor der Gesetz¬
gebung gezwungen werden kann, einem Gesetze zuzustimmen.

Die Urheber der periodischen Festsetzung der Friedenspräsenz auf dem
Reichstage von 1874 haben somit in der teilweisen Übertragung des englischen
Systems auf Deutschland das Gegenteil dessen erreicht, was sie bezweckten.
Für Betätigung parlamentarischer Machtansprüche hat sich die periodische Fest¬
setzung als gänzlich gegenstandslos erwiesen. Eine Herabsetzung der Friedens¬
präsenz ist nie in Frage gekommen. Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten
und einige Male von Konflikten zwischen den verbündeten Regierungen und
dem Reichstage war immer nur die Frage der Erhöhung der Friedenspräsenz.
Und diese Frage wäre auch bei dauernder Festlegung der Friedenspräsenz
praktisch geworden. Anderseits gibt die periodische Festsetzung dem Kaiser gegen¬
über einem dauernd oppositionellen Reichstage ein gewaltiges Machtmittel.
Entgegen der ursprünglichen Auffassung hat sich daher die Regierung allmählich
mit dem periodisch zu erneuernden Friedenspräsenzgesetze ausgesöhnt. Der Fremd¬
körper englischen Rechtes ist in unser Verfassungsleben als unschädlich eingekapselt.


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[0511] Englisches und deutsches Friedenspräsenzrecht Nach Art. 63 der Reichsverfassung bestimmt der Kaiser den Präsenzstand. Diese Bestimmung würde neben der gesetzlichen Bestimmung der Friedenspräsenz unverständlich sein, wenn die gesetzliche Bestimmung nicht bloß das Höchstmaß bezeichnete. Der Kaiser bestimmt innerhalb des Rahmens des Gesetzes. Er kann danach den tatsächlichen Friedenspräsenzstand niedriger festsetzen als den gesetzlichen, z. B. durch Entlassung der Reservisten schon vor der Mitternachts¬ stunde zum 1. Oktober, durch spätere Einziehung der Rekruten. Aber die kaiserliche Bestimmung ist an das Gesetz gebunden. Solange ein Friedens¬ präsenzgesetz besteht, das den Höchstbestand festsetzt, darf der Kaiser nicht darüber hinausgehen. Ist dagegen das Friedenspräsenzgesetz abgelaufen, so bindet es den Kaiser selbstverständlich weiter nicht. Der Kaiser bestimmt dann innerhalb der allein noch bestehenden gesetzlichen Schranke, derjenigen der allgemeinen Wehrpflicht. Deren Grenzen darf er nicht verschieben, z. B. nicht den Dienst der Fußtruppen wieder von zwei Jahren auf drei Jahre verlängern. Aber er kann anderseits, ungehindert durch ein Friedenspräsenzgesetz, die allgemeine Wehrpflicht voll ausnutzen und die Friedenspräsenz derart bestimmen, daß alle Wehrfähigen während der Dauer der Dienstpflicht auch zum Dienste mit der Waffe herangezogen werden. Die Lücke des Verfassungsrechtes, die bei dem preußischen Verfassungs¬ konflikte der sechziger Jahre eine so große Rolle spielte, besteht also nach der Reichsverfassung nicht. Sie wird ausgefüllt durch die kaiserliche Macht¬ vollkommenheit der Festsetzung nach Art. 63. Diese kaiserliche Befugnis könnte nur eine sehr geringe Rolle spielen, wenn das Friedenspräsenzgesetz als dauerndes Gesetz erlassen wäre. Sie ist eine gewaltige Waffe im Arsenale des staatlichen Notrechtes, wenn das alte Friedenspräsenzgesetz abgelaufen, ein neues nicht erlassen ist. Über die Verfassungswidrigkeit dieses Zustandes ist ebensowenig ein Wort zu verlieren wie über seine Möglichkeit, zumal kein Faktor der Gesetz¬ gebung gezwungen werden kann, einem Gesetze zuzustimmen. Die Urheber der periodischen Festsetzung der Friedenspräsenz auf dem Reichstage von 1874 haben somit in der teilweisen Übertragung des englischen Systems auf Deutschland das Gegenteil dessen erreicht, was sie bezweckten. Für Betätigung parlamentarischer Machtansprüche hat sich die periodische Fest¬ setzung als gänzlich gegenstandslos erwiesen. Eine Herabsetzung der Friedens¬ präsenz ist nie in Frage gekommen. Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten und einige Male von Konflikten zwischen den verbündeten Regierungen und dem Reichstage war immer nur die Frage der Erhöhung der Friedenspräsenz. Und diese Frage wäre auch bei dauernder Festlegung der Friedenspräsenz praktisch geworden. Anderseits gibt die periodische Festsetzung dem Kaiser gegen¬ über einem dauernd oppositionellen Reichstage ein gewaltiges Machtmittel. Entgegen der ursprünglichen Auffassung hat sich daher die Regierung allmählich mit dem periodisch zu erneuernden Friedenspräsenzgesetze ausgesöhnt. Der Fremd¬ körper englischen Rechtes ist in unser Verfassungsleben als unschädlich eingekapselt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/511>, abgerufen am 24.07.2024.