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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Schulen nie und nimmer allein in seinen
wissenschaftlichen Kenntnissen. Die Beschäfti¬
gung mit der Jugendkunde wird aber auch
das Bewußtsein fördern, daß es, mag auch
"die Arbeit an der Erziehung auf allgemeine
Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Geistes¬
entwicklung begründet" werden, eines gewissen
künstlerischen Blickes bedarf, um fremdes
Seelenleben, fremde Individualität zu ver¬
stehen, ist doch jeder Zögling eine Art Mikro¬
kosmus. Mag diese Fähigkeit in ihrer Voll¬
endung auch nicht jedem Lehrer eigen sein
und auch keineswegs durch wissenschaftliche
Arbeit in der Jugendkunde allein erworben
werden können, -- daß eine Beschäftigung
mit ihren Problemen in dieser Richtung
wenigstens die Augen öffnen und wertvolle
Anweisungen geben kann, das sollte niemand
bestreiten. Nicht ein Mechanisieren der Er¬
ziehung, sondern ein Vertrautsein des Er¬
ziehers mit den typischen Grundzügen der
Entwicklung des Zöglings und ein um so
tieferes Eingehen auf seine besondere Art,
seine Individualität, ein um so besseres Ver¬
stehen und Fördern derselben wird erzielt
werden. Niemals wird freilich ein systematisch¬
psychologisches Studium die Fülle der Er¬
lebnisse und der Erfahrung, wie sie dem
echten Erzieher im lebendigen Verkehr mit
der Jugend zuteil wird, ersetzen können.

Wenn Meumcmn endlich erklärt, daß man
für die Arbeit des Instituts zunächst aus¬
schließlich auf die Kreise der Volksschullehrer
werde zu rechnen haben, und fortfährt: "doch
sind in Hamburg auch Oberlehrer zu unseren
Arbeiten mit großem Interesse in Beziehung
getreten," so fügen wir Wunsch und Hoffnung
hinzu, daß das sporadische Interesse der
Lehrerschaft der höheren Schulen mehr und
mehr einer eindringenden Teilnahme an den
allgemeinen Problemen der Jugendforschung
weichen möge. Daß daneben auch die spe¬
ziellen Probleme des höheren Unterrichts in
einem solchen Institut ihre Förderung er¬
fahren müßten, brauchen wir nach den obigen
Darlegungen nicht zu wiederholen.

Oberlehrer P. Oldendorff
Kulturgeschichte

Alt-Berlin. So oft ein Band mit Er¬
innerungsbildern aus Alt-Berlin erscheint,

[Spaltenumbruch]

erhebt sich mir die Frage: Was sucht der
Neu-Berliner, der Bewohner der elektrisierten,
benzindurchdufteten Riesenzentrale, in solchem
Buch? Treibt ihn der Kitzel, zu sehen, wie
herrlich weit wir eS gebracht haben -- denn
jeder echte Berliner und noch viel mehr der
neunmal häufigere unechte, zugewanderte,
spricht von seiner Hochbahn, seinem Opern¬
haus, seinen Museen, als wäre er der Ver¬
antwortliche Leiter dieser Institute --, oder
ist es eine Sehnsucht nach den noch überseh¬
baren Verhältnissen, nach der Stille und
Ruhe, nach der Einheitlichkeit des alten
Berlin? Ich glaube, in den meisten Fällen
mischen sich beide Empfindungen; zu Felix
Philippis Buch: "Alt-Berlin. Erinnerungen
aus der Jugendzeit", Berlin, E. Mittler und
Sohn, 1913, aber wird nur greifen, wer die
Sehnsucht kennt nach jener versunkenen, rich¬
tiger: zu Boden gerannten Intimität der
älteren Stadt. Der Berliner Patriziersohn
Philippi (geboren 1861), offen eingestandener
wuästor tempons acti, sucht in seinen, von
feinem Humor durchzogenen Plaudereien den
Duft festzuhalten, der das Berlin seiner
Jugend umwehte. Es ist die Zeit vor zwei
Generationen, die letzte Phase Berlins vor
dem Millionensegen, vor der Entwicklung zur
Weltstadt. Damals besaß die preußische
Residenz noch Geschlossenheit in ihrer geistigen
Physiognomie sowohl wie in ihrer örtlichen
Ausdehnung, dazu eine gewisse Behäbigkeit
und Behaglichkeit, die in den, dem Einfluß
nach noch überwiegenden, alteingesessenen
Familien sich zur Feinkultur steigerte. Phi¬
lippis Darstellung übermittelt uns heilende das
Bild dieser Tage, doch fordert gerade sein
zehntes Kapitel, das die Gründerzeit höchst
anschaulich behandelt, das Verlangen heraus,
von seiner Feder diesen He.rensabbath be¬
schrieben zu sehen.

Eine Stufe tiefer zurück auf der Entwick¬
lungsleiter Berlins steigt Dr. Dorn Meyer
in ihrer tüchtigen Arbeit: "Das öffentliche
Leben in Berlin im Jahr vor der Märzrevo¬
lution" (Schriften des Vereins für die Ge¬
schichte Berlins, Heft 46, 1912). Mit großem
Fleiß und schriftstellerischer Begabung wird
unter Benutzung aller zugänglichen Quellen
die Aufgabe gelöst, "durch Betrachtung des
sozialen Aufbaus, der städtischen Verfassung

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Schulen nie und nimmer allein in seinen
wissenschaftlichen Kenntnissen. Die Beschäfti¬
gung mit der Jugendkunde wird aber auch
das Bewußtsein fördern, daß es, mag auch
„die Arbeit an der Erziehung auf allgemeine
Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Geistes¬
entwicklung begründet" werden, eines gewissen
künstlerischen Blickes bedarf, um fremdes
Seelenleben, fremde Individualität zu ver¬
stehen, ist doch jeder Zögling eine Art Mikro¬
kosmus. Mag diese Fähigkeit in ihrer Voll¬
endung auch nicht jedem Lehrer eigen sein
und auch keineswegs durch wissenschaftliche
Arbeit in der Jugendkunde allein erworben
werden können, — daß eine Beschäftigung
mit ihren Problemen in dieser Richtung
wenigstens die Augen öffnen und wertvolle
Anweisungen geben kann, das sollte niemand
bestreiten. Nicht ein Mechanisieren der Er¬
ziehung, sondern ein Vertrautsein des Er¬
ziehers mit den typischen Grundzügen der
Entwicklung des Zöglings und ein um so
tieferes Eingehen auf seine besondere Art,
seine Individualität, ein um so besseres Ver¬
stehen und Fördern derselben wird erzielt
werden. Niemals wird freilich ein systematisch¬
psychologisches Studium die Fülle der Er¬
lebnisse und der Erfahrung, wie sie dem
echten Erzieher im lebendigen Verkehr mit
der Jugend zuteil wird, ersetzen können.

Wenn Meumcmn endlich erklärt, daß man
für die Arbeit des Instituts zunächst aus¬
schließlich auf die Kreise der Volksschullehrer
werde zu rechnen haben, und fortfährt: „doch
sind in Hamburg auch Oberlehrer zu unseren
Arbeiten mit großem Interesse in Beziehung
getreten," so fügen wir Wunsch und Hoffnung
hinzu, daß das sporadische Interesse der
Lehrerschaft der höheren Schulen mehr und
mehr einer eindringenden Teilnahme an den
allgemeinen Problemen der Jugendforschung
weichen möge. Daß daneben auch die spe¬
ziellen Probleme des höheren Unterrichts in
einem solchen Institut ihre Förderung er¬
fahren müßten, brauchen wir nach den obigen
Darlegungen nicht zu wiederholen.

Oberlehrer P. Oldendorff
Kulturgeschichte

Alt-Berlin. So oft ein Band mit Er¬
innerungsbildern aus Alt-Berlin erscheint,

[Spaltenumbruch]

erhebt sich mir die Frage: Was sucht der
Neu-Berliner, der Bewohner der elektrisierten,
benzindurchdufteten Riesenzentrale, in solchem
Buch? Treibt ihn der Kitzel, zu sehen, wie
herrlich weit wir eS gebracht haben — denn
jeder echte Berliner und noch viel mehr der
neunmal häufigere unechte, zugewanderte,
spricht von seiner Hochbahn, seinem Opern¬
haus, seinen Museen, als wäre er der Ver¬
antwortliche Leiter dieser Institute —, oder
ist es eine Sehnsucht nach den noch überseh¬
baren Verhältnissen, nach der Stille und
Ruhe, nach der Einheitlichkeit des alten
Berlin? Ich glaube, in den meisten Fällen
mischen sich beide Empfindungen; zu Felix
Philippis Buch: „Alt-Berlin. Erinnerungen
aus der Jugendzeit", Berlin, E. Mittler und
Sohn, 1913, aber wird nur greifen, wer die
Sehnsucht kennt nach jener versunkenen, rich¬
tiger: zu Boden gerannten Intimität der
älteren Stadt. Der Berliner Patriziersohn
Philippi (geboren 1861), offen eingestandener
wuästor tempons acti, sucht in seinen, von
feinem Humor durchzogenen Plaudereien den
Duft festzuhalten, der das Berlin seiner
Jugend umwehte. Es ist die Zeit vor zwei
Generationen, die letzte Phase Berlins vor
dem Millionensegen, vor der Entwicklung zur
Weltstadt. Damals besaß die preußische
Residenz noch Geschlossenheit in ihrer geistigen
Physiognomie sowohl wie in ihrer örtlichen
Ausdehnung, dazu eine gewisse Behäbigkeit
und Behaglichkeit, die in den, dem Einfluß
nach noch überwiegenden, alteingesessenen
Familien sich zur Feinkultur steigerte. Phi¬
lippis Darstellung übermittelt uns heilende das
Bild dieser Tage, doch fordert gerade sein
zehntes Kapitel, das die Gründerzeit höchst
anschaulich behandelt, das Verlangen heraus,
von seiner Feder diesen He.rensabbath be¬
schrieben zu sehen.

Eine Stufe tiefer zurück auf der Entwick¬
lungsleiter Berlins steigt Dr. Dorn Meyer
in ihrer tüchtigen Arbeit: „Das öffentliche
Leben in Berlin im Jahr vor der Märzrevo¬
lution" (Schriften des Vereins für die Ge¬
schichte Berlins, Heft 46, 1912). Mit großem
Fleiß und schriftstellerischer Begabung wird
unter Benutzung aller zugänglichen Quellen
die Aufgabe gelöst, „durch Betrachtung des
sozialen Aufbaus, der städtischen Verfassung

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[0498] Maßgebliches und Unmaßgebliches Schulen nie und nimmer allein in seinen wissenschaftlichen Kenntnissen. Die Beschäfti¬ gung mit der Jugendkunde wird aber auch das Bewußtsein fördern, daß es, mag auch „die Arbeit an der Erziehung auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Geistes¬ entwicklung begründet" werden, eines gewissen künstlerischen Blickes bedarf, um fremdes Seelenleben, fremde Individualität zu ver¬ stehen, ist doch jeder Zögling eine Art Mikro¬ kosmus. Mag diese Fähigkeit in ihrer Voll¬ endung auch nicht jedem Lehrer eigen sein und auch keineswegs durch wissenschaftliche Arbeit in der Jugendkunde allein erworben werden können, — daß eine Beschäftigung mit ihren Problemen in dieser Richtung wenigstens die Augen öffnen und wertvolle Anweisungen geben kann, das sollte niemand bestreiten. Nicht ein Mechanisieren der Er¬ ziehung, sondern ein Vertrautsein des Er¬ ziehers mit den typischen Grundzügen der Entwicklung des Zöglings und ein um so tieferes Eingehen auf seine besondere Art, seine Individualität, ein um so besseres Ver¬ stehen und Fördern derselben wird erzielt werden. Niemals wird freilich ein systematisch¬ psychologisches Studium die Fülle der Er¬ lebnisse und der Erfahrung, wie sie dem echten Erzieher im lebendigen Verkehr mit der Jugend zuteil wird, ersetzen können. Wenn Meumcmn endlich erklärt, daß man für die Arbeit des Instituts zunächst aus¬ schließlich auf die Kreise der Volksschullehrer werde zu rechnen haben, und fortfährt: „doch sind in Hamburg auch Oberlehrer zu unseren Arbeiten mit großem Interesse in Beziehung getreten," so fügen wir Wunsch und Hoffnung hinzu, daß das sporadische Interesse der Lehrerschaft der höheren Schulen mehr und mehr einer eindringenden Teilnahme an den allgemeinen Problemen der Jugendforschung weichen möge. Daß daneben auch die spe¬ ziellen Probleme des höheren Unterrichts in einem solchen Institut ihre Förderung er¬ fahren müßten, brauchen wir nach den obigen Darlegungen nicht zu wiederholen. Oberlehrer P. Oldendorff Kulturgeschichte Alt-Berlin. So oft ein Band mit Er¬ innerungsbildern aus Alt-Berlin erscheint, erhebt sich mir die Frage: Was sucht der Neu-Berliner, der Bewohner der elektrisierten, benzindurchdufteten Riesenzentrale, in solchem Buch? Treibt ihn der Kitzel, zu sehen, wie herrlich weit wir eS gebracht haben — denn jeder echte Berliner und noch viel mehr der neunmal häufigere unechte, zugewanderte, spricht von seiner Hochbahn, seinem Opern¬ haus, seinen Museen, als wäre er der Ver¬ antwortliche Leiter dieser Institute —, oder ist es eine Sehnsucht nach den noch überseh¬ baren Verhältnissen, nach der Stille und Ruhe, nach der Einheitlichkeit des alten Berlin? Ich glaube, in den meisten Fällen mischen sich beide Empfindungen; zu Felix Philippis Buch: „Alt-Berlin. Erinnerungen aus der Jugendzeit", Berlin, E. Mittler und Sohn, 1913, aber wird nur greifen, wer die Sehnsucht kennt nach jener versunkenen, rich¬ tiger: zu Boden gerannten Intimität der älteren Stadt. Der Berliner Patriziersohn Philippi (geboren 1861), offen eingestandener wuästor tempons acti, sucht in seinen, von feinem Humor durchzogenen Plaudereien den Duft festzuhalten, der das Berlin seiner Jugend umwehte. Es ist die Zeit vor zwei Generationen, die letzte Phase Berlins vor dem Millionensegen, vor der Entwicklung zur Weltstadt. Damals besaß die preußische Residenz noch Geschlossenheit in ihrer geistigen Physiognomie sowohl wie in ihrer örtlichen Ausdehnung, dazu eine gewisse Behäbigkeit und Behaglichkeit, die in den, dem Einfluß nach noch überwiegenden, alteingesessenen Familien sich zur Feinkultur steigerte. Phi¬ lippis Darstellung übermittelt uns heilende das Bild dieser Tage, doch fordert gerade sein zehntes Kapitel, das die Gründerzeit höchst anschaulich behandelt, das Verlangen heraus, von seiner Feder diesen He.rensabbath be¬ schrieben zu sehen. Eine Stufe tiefer zurück auf der Entwick¬ lungsleiter Berlins steigt Dr. Dorn Meyer in ihrer tüchtigen Arbeit: „Das öffentliche Leben in Berlin im Jahr vor der Märzrevo¬ lution" (Schriften des Vereins für die Ge¬ schichte Berlins, Heft 46, 1912). Mit großem Fleiß und schriftstellerischer Begabung wird unter Benutzung aller zugänglichen Quellen die Aufgabe gelöst, „durch Betrachtung des sozialen Aufbaus, der städtischen Verfassung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/498>, abgerufen am 01.07.2024.