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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Presse und K 592 Strafgesetzbuches

beim Verkauf von Säuglingsmilch, gegen die Amtsführung eines städtischen
Oberlehrers in Angriffen Front gemacht haben, den Schutz des Z 193 zu¬
gebilligt erhalten haben, weil -- ri8um dorsali8 amici -- jener erste Re¬
dakteur seine Sommerferien in: Riesengebirge zubrachte, der zweite zufällig
glücklicher Vater eines Säuglings war, und der dritte einen schon etwas
erwachseneren Sprößling auf dieselbe Schule schickte, auf welcher der kritisierte
Oberlehrer unterrichtete. Wehe aber dem Redakteur, welcher statt eines Ober¬
lehrers einen Minister oder Staatssekretär kritisierte oder gegen die Wühlarbeit
der polnischen Presse mit allzu scharfen Ausdrücken vorging; denn Preußen
oder das Reich, zu denen der Redakteur sich auch als zugehörig gefühlt hat,
sind nicht derart enge Gemeinschaften, daß deren Wohl und Wehe eine den
einzelnen nahe angehende Sache wäre! Der Fall, in welchem der einzelne
auch ihn weniger nahe berührende Interessen wahrnehmen darf, nämlich bei
Vertretung kraft Amtes oder Berufes liegt nach der Ansicht des R. G. auch
nicht vor; denn der Redakteur hat in diesem Sinne keinen Beruf.

Diese Auffassung bedeutet eine völlige Verkennung der Stellung der Presse
in unserem Zeitalter. Indem die Presse alle die Allgemeinheit oder größere
Volkskreise angehenden Angelegenheiten bespricht, indem sich zahlreiche Personen,
die mit Vorschlägen, Wünschen, Beschwerden sonst nicht durchzuringen glauben,
an die Presse als Mittlerin wenden, indem endlich auch die Staatsbehörden
die Dienste der Presse bald zum Aufruf für nationale Feiern, bald zum Dementi
beunruhigender politischer Gerüchte, bald zur Abwehr feindlicher (auch aus¬
ländischer) Preßangriffe und schließlich auch zur Veröffentlichung von Steck¬
briefen, Aufgeboten u. tgi. in Anspruch nehmen, hat die Presse durch die
Macht der Verhältnisse eine Stellung bekommen, welche ihr tatsächlich in vieler
Hinsicht die Rolle eines öffentlichen Fürsprechs und Urwalds der Allgemeinheit
zuweist. Gegen diese Rolle der Presse sträubt sich das Reichsgericht in seinen Ent¬
scheidungen, aber die dahingehende Entwicklung ist viel zu mächtig, als daß
sie auf die Dauer auch durch die Rechtsprechung eines höchsten Gerichtshofes
aufgehalten werden könnte. Das Römische Recht kannte eine Popularklage,
welche quivi8 ex populo erheben konnte, der einen die Allgemeinheit berührenden
Übelstand glaubte rügen zu können. Dieser Klage lag der tiefe sittliche Gedanke
zugrunde, daß jeder Bürger befähigt sein solle, sich aus eigener Kraft um das
Allgemeinwohl zu kümmern. Unsere Zeit glaubt einer ähnlichen Klage ent-
raten zu können, deshalb sind aber aus unserer Zeit noch nicht die Fälle ent¬
schwunden, in denen Vaterlandsliebe, sittliche Entrüstung oder Mitleid einen
Unberufenen (im Sinne des R. G.) das Wort für eine ihm edel oder nützlich
erscheinende Sache ergreifen lassen. Der Weg solcher modernen Popularklage
geht nun einmal unbestritten durch die Presse, und in diesem Sinne hat die
Presse doch einen "Beruf" zur Einmischung in alle öffentlichen Angelegenheiten.

Man wird mir einwenden, daß die Presse niemand gerufen, daß sie niemand
zu einer Funktion bestellt habe; aber wer hat denn sonst, abgesehen von den


Die Presse und K 592 Strafgesetzbuches

beim Verkauf von Säuglingsmilch, gegen die Amtsführung eines städtischen
Oberlehrers in Angriffen Front gemacht haben, den Schutz des Z 193 zu¬
gebilligt erhalten haben, weil — ri8um dorsali8 amici — jener erste Re¬
dakteur seine Sommerferien in: Riesengebirge zubrachte, der zweite zufällig
glücklicher Vater eines Säuglings war, und der dritte einen schon etwas
erwachseneren Sprößling auf dieselbe Schule schickte, auf welcher der kritisierte
Oberlehrer unterrichtete. Wehe aber dem Redakteur, welcher statt eines Ober¬
lehrers einen Minister oder Staatssekretär kritisierte oder gegen die Wühlarbeit
der polnischen Presse mit allzu scharfen Ausdrücken vorging; denn Preußen
oder das Reich, zu denen der Redakteur sich auch als zugehörig gefühlt hat,
sind nicht derart enge Gemeinschaften, daß deren Wohl und Wehe eine den
einzelnen nahe angehende Sache wäre! Der Fall, in welchem der einzelne
auch ihn weniger nahe berührende Interessen wahrnehmen darf, nämlich bei
Vertretung kraft Amtes oder Berufes liegt nach der Ansicht des R. G. auch
nicht vor; denn der Redakteur hat in diesem Sinne keinen Beruf.

Diese Auffassung bedeutet eine völlige Verkennung der Stellung der Presse
in unserem Zeitalter. Indem die Presse alle die Allgemeinheit oder größere
Volkskreise angehenden Angelegenheiten bespricht, indem sich zahlreiche Personen,
die mit Vorschlägen, Wünschen, Beschwerden sonst nicht durchzuringen glauben,
an die Presse als Mittlerin wenden, indem endlich auch die Staatsbehörden
die Dienste der Presse bald zum Aufruf für nationale Feiern, bald zum Dementi
beunruhigender politischer Gerüchte, bald zur Abwehr feindlicher (auch aus¬
ländischer) Preßangriffe und schließlich auch zur Veröffentlichung von Steck¬
briefen, Aufgeboten u. tgi. in Anspruch nehmen, hat die Presse durch die
Macht der Verhältnisse eine Stellung bekommen, welche ihr tatsächlich in vieler
Hinsicht die Rolle eines öffentlichen Fürsprechs und Urwalds der Allgemeinheit
zuweist. Gegen diese Rolle der Presse sträubt sich das Reichsgericht in seinen Ent¬
scheidungen, aber die dahingehende Entwicklung ist viel zu mächtig, als daß
sie auf die Dauer auch durch die Rechtsprechung eines höchsten Gerichtshofes
aufgehalten werden könnte. Das Römische Recht kannte eine Popularklage,
welche quivi8 ex populo erheben konnte, der einen die Allgemeinheit berührenden
Übelstand glaubte rügen zu können. Dieser Klage lag der tiefe sittliche Gedanke
zugrunde, daß jeder Bürger befähigt sein solle, sich aus eigener Kraft um das
Allgemeinwohl zu kümmern. Unsere Zeit glaubt einer ähnlichen Klage ent-
raten zu können, deshalb sind aber aus unserer Zeit noch nicht die Fälle ent¬
schwunden, in denen Vaterlandsliebe, sittliche Entrüstung oder Mitleid einen
Unberufenen (im Sinne des R. G.) das Wort für eine ihm edel oder nützlich
erscheinende Sache ergreifen lassen. Der Weg solcher modernen Popularklage
geht nun einmal unbestritten durch die Presse, und in diesem Sinne hat die
Presse doch einen „Beruf" zur Einmischung in alle öffentlichen Angelegenheiten.

Man wird mir einwenden, daß die Presse niemand gerufen, daß sie niemand
zu einer Funktion bestellt habe; aber wer hat denn sonst, abgesehen von den


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[0473] Die Presse und K 592 Strafgesetzbuches beim Verkauf von Säuglingsmilch, gegen die Amtsführung eines städtischen Oberlehrers in Angriffen Front gemacht haben, den Schutz des Z 193 zu¬ gebilligt erhalten haben, weil — ri8um dorsali8 amici — jener erste Re¬ dakteur seine Sommerferien in: Riesengebirge zubrachte, der zweite zufällig glücklicher Vater eines Säuglings war, und der dritte einen schon etwas erwachseneren Sprößling auf dieselbe Schule schickte, auf welcher der kritisierte Oberlehrer unterrichtete. Wehe aber dem Redakteur, welcher statt eines Ober¬ lehrers einen Minister oder Staatssekretär kritisierte oder gegen die Wühlarbeit der polnischen Presse mit allzu scharfen Ausdrücken vorging; denn Preußen oder das Reich, zu denen der Redakteur sich auch als zugehörig gefühlt hat, sind nicht derart enge Gemeinschaften, daß deren Wohl und Wehe eine den einzelnen nahe angehende Sache wäre! Der Fall, in welchem der einzelne auch ihn weniger nahe berührende Interessen wahrnehmen darf, nämlich bei Vertretung kraft Amtes oder Berufes liegt nach der Ansicht des R. G. auch nicht vor; denn der Redakteur hat in diesem Sinne keinen Beruf. Diese Auffassung bedeutet eine völlige Verkennung der Stellung der Presse in unserem Zeitalter. Indem die Presse alle die Allgemeinheit oder größere Volkskreise angehenden Angelegenheiten bespricht, indem sich zahlreiche Personen, die mit Vorschlägen, Wünschen, Beschwerden sonst nicht durchzuringen glauben, an die Presse als Mittlerin wenden, indem endlich auch die Staatsbehörden die Dienste der Presse bald zum Aufruf für nationale Feiern, bald zum Dementi beunruhigender politischer Gerüchte, bald zur Abwehr feindlicher (auch aus¬ ländischer) Preßangriffe und schließlich auch zur Veröffentlichung von Steck¬ briefen, Aufgeboten u. tgi. in Anspruch nehmen, hat die Presse durch die Macht der Verhältnisse eine Stellung bekommen, welche ihr tatsächlich in vieler Hinsicht die Rolle eines öffentlichen Fürsprechs und Urwalds der Allgemeinheit zuweist. Gegen diese Rolle der Presse sträubt sich das Reichsgericht in seinen Ent¬ scheidungen, aber die dahingehende Entwicklung ist viel zu mächtig, als daß sie auf die Dauer auch durch die Rechtsprechung eines höchsten Gerichtshofes aufgehalten werden könnte. Das Römische Recht kannte eine Popularklage, welche quivi8 ex populo erheben konnte, der einen die Allgemeinheit berührenden Übelstand glaubte rügen zu können. Dieser Klage lag der tiefe sittliche Gedanke zugrunde, daß jeder Bürger befähigt sein solle, sich aus eigener Kraft um das Allgemeinwohl zu kümmern. Unsere Zeit glaubt einer ähnlichen Klage ent- raten zu können, deshalb sind aber aus unserer Zeit noch nicht die Fälle ent¬ schwunden, in denen Vaterlandsliebe, sittliche Entrüstung oder Mitleid einen Unberufenen (im Sinne des R. G.) das Wort für eine ihm edel oder nützlich erscheinende Sache ergreifen lassen. Der Weg solcher modernen Popularklage geht nun einmal unbestritten durch die Presse, und in diesem Sinne hat die Presse doch einen „Beruf" zur Einmischung in alle öffentlichen Angelegenheiten. Man wird mir einwenden, daß die Presse niemand gerufen, daß sie niemand zu einer Funktion bestellt habe; aber wer hat denn sonst, abgesehen von den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/473>, abgerufen am 01.07.2024.