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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblem

Nach diesem Hin und Her der Meinungen ist es schwer, zu entscheiden,
welche die Bismarck eigene und welche die ihm durch die Verfolgung ihrer
Konsequenzen abgerungene ist. Sicher bleibt, daß er ein Feind der Auswan¬
derung war und erst durch den von ihm geschaffenen Zusammenhang mit seiner
Handelspolitik in unklare Vorstellungen geriet. Eine Kritik derselben erübrigt
sich fast, da man immer zwei entgegengesetzte Programme an den Tatsachen
messen müßte. Es sei nur angedeutet, daß seine Definition, Auswanderungen
erreichten nicht in Zeiten wirtschaftlichen Niederganges, sondern wirtschaftlicher
Blüte ihren Höhepunkt, zwar durch die Wissenschaft bestätigt und auch durch die
Geschichte zu beweisen ist, daß aber gerade in Deutschland in der auf Bismarck
folgenden Caprivischen Periode seines größten wirtschaftlichen Aufschwunges die
Auswanderung beträchtlich zurückging. Mit dieser Tatsache bewahrheitete sich
anderseits auch die Konzession, die Dirichlets Widerspruch Bismarck abnötigte,
daß ein Rückgang der Auswanderung nicht immer ein Beweis für den Rück¬
gang der Wohlhabenheit sei.




Die staatliche Förderung oder Organisation der Auswanderung konnte
Bismarck als Reichskanzler untersagen und verhindern, und sein mächtiges
Wort, das die amtliche Vernachlässigung dieser wichtigen Frage befahl, schuf
hier unhaltbare Zustände, deren Abstellung von allen unterrichteten Patrioten
lebhaft befürwortet wurde. Die Auswanderung selbst aber konnte er damit
nicht aus der Welt schaffen, wenn auch seine Absicht war, ihre Ursachen durch
eine Wirtschafts- und Finanzreform zu beseitigen. Denn nach seiner Über¬
zeugung würden Schutzzölle und Aufhebung der direkten Steuern die Sehnsucht
nach Ländern schwinden lassen, in denen dieser Zustand vorhanden war.
Bismarck übersah dabei aber, daß die hohen amerikanischen Arbeitslöhne, wie
schon der Abgeordnete von Kardorff am 8. Januar 1895 betonte, und die
Aussicht auf selbständigen billigen Landbesitz neben der Übervölkerung die
eigentlichen Triebkräfte zur Auswanderung waren. Beide konnte er in Deutsch¬
land nicht hervorzaubern: die Arbeitslöhne hängen nicht mehr von national-
staatlicher Regulierung, sondern von internationalen Konjunkturen ab, wobei
die Gesetze von Angebot und Nachfrage und nicht die sozialpolitischen Wünsche
einzelner Länder entscheiden; die Erhebung des bäuerlichen Mittelstandes aber
würde eine tiefgreifende Agrarreform erfordert haben, wobei der Staat mit dem
Widerstand der weitesten Kreise zu rechnen gehabt hätte.

Wohl sah Bismarck selbst ein, daß "Deutschland mehr Kinder produziert
als es gebrauchen kann"*) und daß ein gewisser volkswirtschaftlicher Gewinn
darin läge, wenn eine Menge der überschüssigen Kräfte von den Gymnasien
und höheren Schulen in Kolonien Verwendung finden könnte, die sie in Deutsch-



") Poschinger, "Bausteine zur Bismarckpyramidc", Berlin 1904, S. 100.
Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblem

Nach diesem Hin und Her der Meinungen ist es schwer, zu entscheiden,
welche die Bismarck eigene und welche die ihm durch die Verfolgung ihrer
Konsequenzen abgerungene ist. Sicher bleibt, daß er ein Feind der Auswan¬
derung war und erst durch den von ihm geschaffenen Zusammenhang mit seiner
Handelspolitik in unklare Vorstellungen geriet. Eine Kritik derselben erübrigt
sich fast, da man immer zwei entgegengesetzte Programme an den Tatsachen
messen müßte. Es sei nur angedeutet, daß seine Definition, Auswanderungen
erreichten nicht in Zeiten wirtschaftlichen Niederganges, sondern wirtschaftlicher
Blüte ihren Höhepunkt, zwar durch die Wissenschaft bestätigt und auch durch die
Geschichte zu beweisen ist, daß aber gerade in Deutschland in der auf Bismarck
folgenden Caprivischen Periode seines größten wirtschaftlichen Aufschwunges die
Auswanderung beträchtlich zurückging. Mit dieser Tatsache bewahrheitete sich
anderseits auch die Konzession, die Dirichlets Widerspruch Bismarck abnötigte,
daß ein Rückgang der Auswanderung nicht immer ein Beweis für den Rück¬
gang der Wohlhabenheit sei.




Die staatliche Förderung oder Organisation der Auswanderung konnte
Bismarck als Reichskanzler untersagen und verhindern, und sein mächtiges
Wort, das die amtliche Vernachlässigung dieser wichtigen Frage befahl, schuf
hier unhaltbare Zustände, deren Abstellung von allen unterrichteten Patrioten
lebhaft befürwortet wurde. Die Auswanderung selbst aber konnte er damit
nicht aus der Welt schaffen, wenn auch seine Absicht war, ihre Ursachen durch
eine Wirtschafts- und Finanzreform zu beseitigen. Denn nach seiner Über¬
zeugung würden Schutzzölle und Aufhebung der direkten Steuern die Sehnsucht
nach Ländern schwinden lassen, in denen dieser Zustand vorhanden war.
Bismarck übersah dabei aber, daß die hohen amerikanischen Arbeitslöhne, wie
schon der Abgeordnete von Kardorff am 8. Januar 1895 betonte, und die
Aussicht auf selbständigen billigen Landbesitz neben der Übervölkerung die
eigentlichen Triebkräfte zur Auswanderung waren. Beide konnte er in Deutsch¬
land nicht hervorzaubern: die Arbeitslöhne hängen nicht mehr von national-
staatlicher Regulierung, sondern von internationalen Konjunkturen ab, wobei
die Gesetze von Angebot und Nachfrage und nicht die sozialpolitischen Wünsche
einzelner Länder entscheiden; die Erhebung des bäuerlichen Mittelstandes aber
würde eine tiefgreifende Agrarreform erfordert haben, wobei der Staat mit dem
Widerstand der weitesten Kreise zu rechnen gehabt hätte.

Wohl sah Bismarck selbst ein, daß „Deutschland mehr Kinder produziert
als es gebrauchen kann"*) und daß ein gewisser volkswirtschaftlicher Gewinn
darin läge, wenn eine Menge der überschüssigen Kräfte von den Gymnasien
und höheren Schulen in Kolonien Verwendung finden könnte, die sie in Deutsch-



") Poschinger, „Bausteine zur Bismarckpyramidc", Berlin 1904, S. 100.
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[0043] Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblem Nach diesem Hin und Her der Meinungen ist es schwer, zu entscheiden, welche die Bismarck eigene und welche die ihm durch die Verfolgung ihrer Konsequenzen abgerungene ist. Sicher bleibt, daß er ein Feind der Auswan¬ derung war und erst durch den von ihm geschaffenen Zusammenhang mit seiner Handelspolitik in unklare Vorstellungen geriet. Eine Kritik derselben erübrigt sich fast, da man immer zwei entgegengesetzte Programme an den Tatsachen messen müßte. Es sei nur angedeutet, daß seine Definition, Auswanderungen erreichten nicht in Zeiten wirtschaftlichen Niederganges, sondern wirtschaftlicher Blüte ihren Höhepunkt, zwar durch die Wissenschaft bestätigt und auch durch die Geschichte zu beweisen ist, daß aber gerade in Deutschland in der auf Bismarck folgenden Caprivischen Periode seines größten wirtschaftlichen Aufschwunges die Auswanderung beträchtlich zurückging. Mit dieser Tatsache bewahrheitete sich anderseits auch die Konzession, die Dirichlets Widerspruch Bismarck abnötigte, daß ein Rückgang der Auswanderung nicht immer ein Beweis für den Rück¬ gang der Wohlhabenheit sei. Die staatliche Förderung oder Organisation der Auswanderung konnte Bismarck als Reichskanzler untersagen und verhindern, und sein mächtiges Wort, das die amtliche Vernachlässigung dieser wichtigen Frage befahl, schuf hier unhaltbare Zustände, deren Abstellung von allen unterrichteten Patrioten lebhaft befürwortet wurde. Die Auswanderung selbst aber konnte er damit nicht aus der Welt schaffen, wenn auch seine Absicht war, ihre Ursachen durch eine Wirtschafts- und Finanzreform zu beseitigen. Denn nach seiner Über¬ zeugung würden Schutzzölle und Aufhebung der direkten Steuern die Sehnsucht nach Ländern schwinden lassen, in denen dieser Zustand vorhanden war. Bismarck übersah dabei aber, daß die hohen amerikanischen Arbeitslöhne, wie schon der Abgeordnete von Kardorff am 8. Januar 1895 betonte, und die Aussicht auf selbständigen billigen Landbesitz neben der Übervölkerung die eigentlichen Triebkräfte zur Auswanderung waren. Beide konnte er in Deutsch¬ land nicht hervorzaubern: die Arbeitslöhne hängen nicht mehr von national- staatlicher Regulierung, sondern von internationalen Konjunkturen ab, wobei die Gesetze von Angebot und Nachfrage und nicht die sozialpolitischen Wünsche einzelner Länder entscheiden; die Erhebung des bäuerlichen Mittelstandes aber würde eine tiefgreifende Agrarreform erfordert haben, wobei der Staat mit dem Widerstand der weitesten Kreise zu rechnen gehabt hätte. Wohl sah Bismarck selbst ein, daß „Deutschland mehr Kinder produziert als es gebrauchen kann"*) und daß ein gewisser volkswirtschaftlicher Gewinn darin läge, wenn eine Menge der überschüssigen Kräfte von den Gymnasien und höheren Schulen in Kolonien Verwendung finden könnte, die sie in Deutsch- ") Poschinger, „Bausteine zur Bismarckpyramidc", Berlin 1904, S. 100.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/43>, abgerufen am 22.12.2024.