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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblem

einen Mann der unteren Stände allerdings ein "kleines Vermögen" bedeuten
würde, die aber damals, als Amerika den Einwanderern noch keine Bedingungen
hinsichtlich des anzubringenden Kapitals vorschrieb, sicher nicht Regel war. Ein
andermal unterschied Bismarck vorsichtiger, aber doch konsequent zwischen Aus¬
wanderern, die das Geld noch dazu haben und solchen, die es schon dazu
haben/) Dem Vorwurf, daß die Auswanderung seit dem Schutzzoll von 1879
um das Fünffache zugenommen habe, begegnete Bismarck mit der These: das
sei nur ein Beweis für die Tatsache, daß der Schutzzoll seine Wirkung auf die
Industrie getan habe. In der steigenden Auswanderungsziffer sah er schließlich
den genauen Maßstab für das Steigen unseres Wohlstandes: je besser es uns
geht, desto höher ist sie, nach seiner jetzigen Theorie, während in den Zeiten
des Freihandels, der wirtschaftlichen Anämie, die Leute das Geld für die Über¬
fahrt und den Ankauf drüben angeblich nicht erschwingen konnten. Man kann
nach alledem den treffenden Scherz seines englischen Biographen**) nicht oft
genug wiederholen: "Der Fürst hätte mit demselben Recht hinzufügen können,
daß die Zeit der Selbstmorde in Deutschland ebenfalls mit der materiellen
Wohlfahrt des Reiches Schritt hält, da nur Wohlhabende sich die erforder¬
lichen Rasiermesser, Stricke, Pistolen und Gifte kaufen können, während den
Armen dies nicht möglich ist."

Der Widerspruch der Bismarckschen Auswanderungsanschauungen erreicht
hiermit den Höhepunkt. Hatte Bismarck bisher die Industrie glücklich aus¬
geschlossen und nur die Auswanderung der Landarbeiter der Erwähnung und
Erwägung wert gefunden, so machte er, als ihm der Abgeordnete Dirichlet
eine Falle stellte, eine geschickte Schwenkung und demonstrierte an der ge¬
steigerten Auswanderung den künftigen günstigen Einfluß des Schutzzolls auf
die Industrie und den Wohlstand des Landes: dabei hatte er noch am
14. Juni 18L2 behauptet, daß die Auswanderung nur eine unglückliche Folge
des Freihandelsvstems sei, der die Industrie heruntergedrückt und erstickt habe!

Es war verhängnisvoll, daß mit seiner neuen Theorie wieder seine Ab¬
neigung gegen die Auswanderung in die neuen Kolonien stark kontrastierte.
Denn es ist kaum anzunehmen, daß er die wohlhabenden und sparsamen
Arbeiter für den "Auswurf der Nation" hielt, der für die jungen Kolonien
erst recht nicht tauge. Die Reichstagsabgeordneten erhoben diesen Einwand zwar
nicht; sie würden aber den Altreichskanzler, der sich so ungern mit Theorien
abgab, der aber durch Widerspruch gereizt, konsequent bis zum Fanatismus
werden konnte, vielleicht noch zu extremeren Anschauungen verleitet haben --
wenn er es nicht vorgezogen hätte, sich zähneknirschend für besiegt zu erklären,
mit der Entgegnung, die er bei einer boshaften Zwickmühle Dirichlets ge¬
brauchte: er verbitte sich, auf jedes Wort festgenagelt zu werden.




*) Reden X 367.
*) Charles Löwe, "Prince Bismarck", London 1336, II 207.
Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblem

einen Mann der unteren Stände allerdings ein „kleines Vermögen" bedeuten
würde, die aber damals, als Amerika den Einwanderern noch keine Bedingungen
hinsichtlich des anzubringenden Kapitals vorschrieb, sicher nicht Regel war. Ein
andermal unterschied Bismarck vorsichtiger, aber doch konsequent zwischen Aus¬
wanderern, die das Geld noch dazu haben und solchen, die es schon dazu
haben/) Dem Vorwurf, daß die Auswanderung seit dem Schutzzoll von 1879
um das Fünffache zugenommen habe, begegnete Bismarck mit der These: das
sei nur ein Beweis für die Tatsache, daß der Schutzzoll seine Wirkung auf die
Industrie getan habe. In der steigenden Auswanderungsziffer sah er schließlich
den genauen Maßstab für das Steigen unseres Wohlstandes: je besser es uns
geht, desto höher ist sie, nach seiner jetzigen Theorie, während in den Zeiten
des Freihandels, der wirtschaftlichen Anämie, die Leute das Geld für die Über¬
fahrt und den Ankauf drüben angeblich nicht erschwingen konnten. Man kann
nach alledem den treffenden Scherz seines englischen Biographen**) nicht oft
genug wiederholen: „Der Fürst hätte mit demselben Recht hinzufügen können,
daß die Zeit der Selbstmorde in Deutschland ebenfalls mit der materiellen
Wohlfahrt des Reiches Schritt hält, da nur Wohlhabende sich die erforder¬
lichen Rasiermesser, Stricke, Pistolen und Gifte kaufen können, während den
Armen dies nicht möglich ist."

Der Widerspruch der Bismarckschen Auswanderungsanschauungen erreicht
hiermit den Höhepunkt. Hatte Bismarck bisher die Industrie glücklich aus¬
geschlossen und nur die Auswanderung der Landarbeiter der Erwähnung und
Erwägung wert gefunden, so machte er, als ihm der Abgeordnete Dirichlet
eine Falle stellte, eine geschickte Schwenkung und demonstrierte an der ge¬
steigerten Auswanderung den künftigen günstigen Einfluß des Schutzzolls auf
die Industrie und den Wohlstand des Landes: dabei hatte er noch am
14. Juni 18L2 behauptet, daß die Auswanderung nur eine unglückliche Folge
des Freihandelsvstems sei, der die Industrie heruntergedrückt und erstickt habe!

Es war verhängnisvoll, daß mit seiner neuen Theorie wieder seine Ab¬
neigung gegen die Auswanderung in die neuen Kolonien stark kontrastierte.
Denn es ist kaum anzunehmen, daß er die wohlhabenden und sparsamen
Arbeiter für den „Auswurf der Nation" hielt, der für die jungen Kolonien
erst recht nicht tauge. Die Reichstagsabgeordneten erhoben diesen Einwand zwar
nicht; sie würden aber den Altreichskanzler, der sich so ungern mit Theorien
abgab, der aber durch Widerspruch gereizt, konsequent bis zum Fanatismus
werden konnte, vielleicht noch zu extremeren Anschauungen verleitet haben —
wenn er es nicht vorgezogen hätte, sich zähneknirschend für besiegt zu erklären,
mit der Entgegnung, die er bei einer boshaften Zwickmühle Dirichlets ge¬
brauchte: er verbitte sich, auf jedes Wort festgenagelt zu werden.




*) Reden X 367.
*) Charles Löwe, „Prince Bismarck", London 1336, II 207.
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[0042] Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblem einen Mann der unteren Stände allerdings ein „kleines Vermögen" bedeuten würde, die aber damals, als Amerika den Einwanderern noch keine Bedingungen hinsichtlich des anzubringenden Kapitals vorschrieb, sicher nicht Regel war. Ein andermal unterschied Bismarck vorsichtiger, aber doch konsequent zwischen Aus¬ wanderern, die das Geld noch dazu haben und solchen, die es schon dazu haben/) Dem Vorwurf, daß die Auswanderung seit dem Schutzzoll von 1879 um das Fünffache zugenommen habe, begegnete Bismarck mit der These: das sei nur ein Beweis für die Tatsache, daß der Schutzzoll seine Wirkung auf die Industrie getan habe. In der steigenden Auswanderungsziffer sah er schließlich den genauen Maßstab für das Steigen unseres Wohlstandes: je besser es uns geht, desto höher ist sie, nach seiner jetzigen Theorie, während in den Zeiten des Freihandels, der wirtschaftlichen Anämie, die Leute das Geld für die Über¬ fahrt und den Ankauf drüben angeblich nicht erschwingen konnten. Man kann nach alledem den treffenden Scherz seines englischen Biographen**) nicht oft genug wiederholen: „Der Fürst hätte mit demselben Recht hinzufügen können, daß die Zeit der Selbstmorde in Deutschland ebenfalls mit der materiellen Wohlfahrt des Reiches Schritt hält, da nur Wohlhabende sich die erforder¬ lichen Rasiermesser, Stricke, Pistolen und Gifte kaufen können, während den Armen dies nicht möglich ist." Der Widerspruch der Bismarckschen Auswanderungsanschauungen erreicht hiermit den Höhepunkt. Hatte Bismarck bisher die Industrie glücklich aus¬ geschlossen und nur die Auswanderung der Landarbeiter der Erwähnung und Erwägung wert gefunden, so machte er, als ihm der Abgeordnete Dirichlet eine Falle stellte, eine geschickte Schwenkung und demonstrierte an der ge¬ steigerten Auswanderung den künftigen günstigen Einfluß des Schutzzolls auf die Industrie und den Wohlstand des Landes: dabei hatte er noch am 14. Juni 18L2 behauptet, daß die Auswanderung nur eine unglückliche Folge des Freihandelsvstems sei, der die Industrie heruntergedrückt und erstickt habe! Es war verhängnisvoll, daß mit seiner neuen Theorie wieder seine Ab¬ neigung gegen die Auswanderung in die neuen Kolonien stark kontrastierte. Denn es ist kaum anzunehmen, daß er die wohlhabenden und sparsamen Arbeiter für den „Auswurf der Nation" hielt, der für die jungen Kolonien erst recht nicht tauge. Die Reichstagsabgeordneten erhoben diesen Einwand zwar nicht; sie würden aber den Altreichskanzler, der sich so ungern mit Theorien abgab, der aber durch Widerspruch gereizt, konsequent bis zum Fanatismus werden konnte, vielleicht noch zu extremeren Anschauungen verleitet haben — wenn er es nicht vorgezogen hätte, sich zähneknirschend für besiegt zu erklären, mit der Entgegnung, die er bei einer boshaften Zwickmühle Dirichlets ge¬ brauchte: er verbitte sich, auf jedes Wort festgenagelt zu werden. *) Reden X 367. *) Charles Löwe, „Prince Bismarck", London 1336, II 207.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/42>, abgerufen am 04.07.2024.