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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Bismarcks Stellung zum Answanderungsproblem

land im Laufe der Zeit vielleicht immer weniger haben würde. Eine Ver¬
sorgung und Erhaltung dieser Kräfte im nationalen Sinne mußte also auch
ihm nur durch eine rationelle Kolonialpolitik lösbar erscheinen, weil diese allein
den politischen Zusammenhang zwischen Auswanderern und Mutterland erhalten
kann. Aber gerade die leidigen Auswanderungsfragen drängte Bismarck im
Verfolg seiner Kolonialpolitik in den Hintergrund. Er brachte damit die Kolonien
für lange Zeit in Verruf, und es ist darum kein Wunder, wenn noch heute
unsere Schutzgebiete von Heimatgenossen fast leer sind.

Freilich hat die Verhinderung einer Masseneinwanderung in die neuen
Kolonien infolge der ablehnenden Haltung Bismarcks viel Unheil verhütet,
zumal die Auswanderungslust dorthin anfangs sehr groß war. Wurden
doch bald nach der ersten Kunde über die Schutzerklärungen die Eroberer mit
Gesuchen um Anstellungen in den neuen Schutzgebieten überhäuft, die sie kluger¬
weise zurückwiesen. Denn tatsächlich war eine Auswanderung dorthin erst
möglich, nachdem eingehende Forschungen über die Lebensbedingungen dieser
damals fast unbekannten Gebiete stattgefunden hatten.

Für die Kolonien also war Bismarcks Auswanderungspolitik, die man
geradezu einen Schutzzoll auf Kolonialpolitik nennen könnte, kein Unglück. Im
allgemeinen aber war seine einseitige Behandlung der nach den altherkömm¬
lichen Siedlungsgebieten auswandernden Deutschen auf die Dauer unhaltbar.
Die Auswanderung läßt sich durch staatliche Mittel wohl mildern, vielleicht auch
zurückdrängen, aber niemals gänzlich verhindern. Wenn ein Grund dafür
beseitigt ist. entstehen andere Ursachen, Umstände und Zufälligkeiten, die den
Wandertrieb anstacheln, der an sich eine germanische Charaktertatsache ist. Auch
hat der Staat kaum die Berechtigung, jede Verbindung mit den Auswandernden
zu lösen und sie ihrem Schicksal bei der Überfahrt und in der neuen Heimat
zu überlassen; er muß sie vielmehr -- was auch die neueste Gesetzgebung über
die Reichszugehörigkeit anerkennt -- durch seine Konsuln gegen Ausbeutung
schützen, die ihnen nur zu oft droht, und sollte auch ihr Fortkommen über¬
wachen und fördern. Bismarck aber überließ die Auswanderer sich selbst oder
den Gesellschaften, die sich zu ihrer Beförderung und Unterstützung allenthalben
in den Tagen der kolonialen Bewegung gebildet hatten. Er befand sich mit
dieser l^i38er kuire-Politik im ärgsten Gegensatz zu seiner staatssozialistischen
Schutzzoll- und Kolonialpolitik, und bewies damit nur, daß er in all diesen
Fragen kein einheitliches Programm hatte, sondern nur nach opportunistischem
Gutdünken und nach persönlichen Gefühlen urteilte. Wenn irgendwo, so wird
an dieser Frage die Bedeutung der Individualität für die Geschichte deutlich.
Bei der Schutzzoll- und Kolonialpolitik ließ er sich von der höheren Macht
wirkender Kräfte tragen und gab ihnen nur Ziel und Richtung, in der Aus¬
wanderungspolitik aber blieb er mit starrer Konsequenz hier liberal, dort
konservativ: manchesterlich in der unserem kosmopolitischeren Nationalbewußtsein
von heute unbegreiflichen Unbekümmertheit um das Schicksal von Tausenden,


Bismarcks Stellung zum Answanderungsproblem

land im Laufe der Zeit vielleicht immer weniger haben würde. Eine Ver¬
sorgung und Erhaltung dieser Kräfte im nationalen Sinne mußte also auch
ihm nur durch eine rationelle Kolonialpolitik lösbar erscheinen, weil diese allein
den politischen Zusammenhang zwischen Auswanderern und Mutterland erhalten
kann. Aber gerade die leidigen Auswanderungsfragen drängte Bismarck im
Verfolg seiner Kolonialpolitik in den Hintergrund. Er brachte damit die Kolonien
für lange Zeit in Verruf, und es ist darum kein Wunder, wenn noch heute
unsere Schutzgebiete von Heimatgenossen fast leer sind.

Freilich hat die Verhinderung einer Masseneinwanderung in die neuen
Kolonien infolge der ablehnenden Haltung Bismarcks viel Unheil verhütet,
zumal die Auswanderungslust dorthin anfangs sehr groß war. Wurden
doch bald nach der ersten Kunde über die Schutzerklärungen die Eroberer mit
Gesuchen um Anstellungen in den neuen Schutzgebieten überhäuft, die sie kluger¬
weise zurückwiesen. Denn tatsächlich war eine Auswanderung dorthin erst
möglich, nachdem eingehende Forschungen über die Lebensbedingungen dieser
damals fast unbekannten Gebiete stattgefunden hatten.

Für die Kolonien also war Bismarcks Auswanderungspolitik, die man
geradezu einen Schutzzoll auf Kolonialpolitik nennen könnte, kein Unglück. Im
allgemeinen aber war seine einseitige Behandlung der nach den altherkömm¬
lichen Siedlungsgebieten auswandernden Deutschen auf die Dauer unhaltbar.
Die Auswanderung läßt sich durch staatliche Mittel wohl mildern, vielleicht auch
zurückdrängen, aber niemals gänzlich verhindern. Wenn ein Grund dafür
beseitigt ist. entstehen andere Ursachen, Umstände und Zufälligkeiten, die den
Wandertrieb anstacheln, der an sich eine germanische Charaktertatsache ist. Auch
hat der Staat kaum die Berechtigung, jede Verbindung mit den Auswandernden
zu lösen und sie ihrem Schicksal bei der Überfahrt und in der neuen Heimat
zu überlassen; er muß sie vielmehr — was auch die neueste Gesetzgebung über
die Reichszugehörigkeit anerkennt — durch seine Konsuln gegen Ausbeutung
schützen, die ihnen nur zu oft droht, und sollte auch ihr Fortkommen über¬
wachen und fördern. Bismarck aber überließ die Auswanderer sich selbst oder
den Gesellschaften, die sich zu ihrer Beförderung und Unterstützung allenthalben
in den Tagen der kolonialen Bewegung gebildet hatten. Er befand sich mit
dieser l^i38er kuire-Politik im ärgsten Gegensatz zu seiner staatssozialistischen
Schutzzoll- und Kolonialpolitik, und bewies damit nur, daß er in all diesen
Fragen kein einheitliches Programm hatte, sondern nur nach opportunistischem
Gutdünken und nach persönlichen Gefühlen urteilte. Wenn irgendwo, so wird
an dieser Frage die Bedeutung der Individualität für die Geschichte deutlich.
Bei der Schutzzoll- und Kolonialpolitik ließ er sich von der höheren Macht
wirkender Kräfte tragen und gab ihnen nur Ziel und Richtung, in der Aus¬
wanderungspolitik aber blieb er mit starrer Konsequenz hier liberal, dort
konservativ: manchesterlich in der unserem kosmopolitischeren Nationalbewußtsein
von heute unbegreiflichen Unbekümmertheit um das Schicksal von Tausenden,


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[0044] Bismarcks Stellung zum Answanderungsproblem land im Laufe der Zeit vielleicht immer weniger haben würde. Eine Ver¬ sorgung und Erhaltung dieser Kräfte im nationalen Sinne mußte also auch ihm nur durch eine rationelle Kolonialpolitik lösbar erscheinen, weil diese allein den politischen Zusammenhang zwischen Auswanderern und Mutterland erhalten kann. Aber gerade die leidigen Auswanderungsfragen drängte Bismarck im Verfolg seiner Kolonialpolitik in den Hintergrund. Er brachte damit die Kolonien für lange Zeit in Verruf, und es ist darum kein Wunder, wenn noch heute unsere Schutzgebiete von Heimatgenossen fast leer sind. Freilich hat die Verhinderung einer Masseneinwanderung in die neuen Kolonien infolge der ablehnenden Haltung Bismarcks viel Unheil verhütet, zumal die Auswanderungslust dorthin anfangs sehr groß war. Wurden doch bald nach der ersten Kunde über die Schutzerklärungen die Eroberer mit Gesuchen um Anstellungen in den neuen Schutzgebieten überhäuft, die sie kluger¬ weise zurückwiesen. Denn tatsächlich war eine Auswanderung dorthin erst möglich, nachdem eingehende Forschungen über die Lebensbedingungen dieser damals fast unbekannten Gebiete stattgefunden hatten. Für die Kolonien also war Bismarcks Auswanderungspolitik, die man geradezu einen Schutzzoll auf Kolonialpolitik nennen könnte, kein Unglück. Im allgemeinen aber war seine einseitige Behandlung der nach den altherkömm¬ lichen Siedlungsgebieten auswandernden Deutschen auf die Dauer unhaltbar. Die Auswanderung läßt sich durch staatliche Mittel wohl mildern, vielleicht auch zurückdrängen, aber niemals gänzlich verhindern. Wenn ein Grund dafür beseitigt ist. entstehen andere Ursachen, Umstände und Zufälligkeiten, die den Wandertrieb anstacheln, der an sich eine germanische Charaktertatsache ist. Auch hat der Staat kaum die Berechtigung, jede Verbindung mit den Auswandernden zu lösen und sie ihrem Schicksal bei der Überfahrt und in der neuen Heimat zu überlassen; er muß sie vielmehr — was auch die neueste Gesetzgebung über die Reichszugehörigkeit anerkennt — durch seine Konsuln gegen Ausbeutung schützen, die ihnen nur zu oft droht, und sollte auch ihr Fortkommen über¬ wachen und fördern. Bismarck aber überließ die Auswanderer sich selbst oder den Gesellschaften, die sich zu ihrer Beförderung und Unterstützung allenthalben in den Tagen der kolonialen Bewegung gebildet hatten. Er befand sich mit dieser l^i38er kuire-Politik im ärgsten Gegensatz zu seiner staatssozialistischen Schutzzoll- und Kolonialpolitik, und bewies damit nur, daß er in all diesen Fragen kein einheitliches Programm hatte, sondern nur nach opportunistischem Gutdünken und nach persönlichen Gefühlen urteilte. Wenn irgendwo, so wird an dieser Frage die Bedeutung der Individualität für die Geschichte deutlich. Bei der Schutzzoll- und Kolonialpolitik ließ er sich von der höheren Macht wirkender Kräfte tragen und gab ihnen nur Ziel und Richtung, in der Aus¬ wanderungspolitik aber blieb er mit starrer Konsequenz hier liberal, dort konservativ: manchesterlich in der unserem kosmopolitischeren Nationalbewußtsein von heute unbegreiflichen Unbekümmertheit um das Schicksal von Tausenden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/44>, abgerufen am 29.06.2024.