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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Line, These Lassalles

In der Prägung von Schlagworten, um die die Gefühle des Proletariers
sich ranken konnten, war Lassalle unübertroffener Meister, und es ist kaum ein
Einwand gegen ihn als Politiker, wenn die Zeit das eherne Lohngesetz als
wächsern erwies. Und doch scheint mir eine Stelle seines Arbeiterprogramms,
die niemals im Vordergrunde der Erörterungen stand, einer Zurückweisung heute
noch wert, weil sie vielleicht wie keine andere den Kaffenden Gegensatz sozial¬
demokratischer und liberaler Lebensanschauung beleuchtet.

Mit blendendster Rhetorik wollte Lassalle das Schicksal des vierten Standes
zum Schicksal der Menschheit erheben, und es wuchs ihm die Größe seiner
Mission, indem er jene adelte, über die er "Heerschau" hielt. Längst hat der
feine Witz der Weltgeschichte seine Früchte getragen, der einen Autokraten die
Arbeiterbewegung in die Wege leiten ließ. Denn ein Autokrat war der Mann,
von dem Bismarck sagte, er wisse nicht, ob an der Spitze des geeinten Deutsch¬
lands die Dynastie Hohenzollern oder die Dynastie Lassalle stehen werde.

Seinem Ehrgeiz konnte es nicht genügen, eine Partei zu schaffen, die
Männer, die sich zu ihm bekannten, mußten auch dessen würdig sein, und so
hat er denn mit unvergleichlicher Kraft das Selbstbewußtsein des Arbeiters
aufgerüttelt. "Dieser vierte Stand ist .... gleichbedeutend mit dem ganzen
Menschengeschlecht. Seine Sache ist daher in Wahrheit die Sache der gesamten
Menschheit, seine Freiheit ist die Freiheit der Menschheit selbst, seine Herrschaft
ist die Herrschaft aller. ..." "Sie sind in der glücklichen Lage, daß dasjenige,
was Ihr wahres persönliches Interesse bildet, zusammenfällt mit dem zuckenden
Pulsschlag der Geschichte."

Diese Worte haben ihre Schuldigkeit getan.

Der Arbeiter ist sich seines Werth bewußt geworden, ja, mehr als das, er hat
es auch gelernt, ihn zu überschätzen. Noch hat jede politische Partei, die zur
Macht drängte, sich als Repräsentantin der Gesamtheit betrachtet, aber keine
mit weniger Recht, als das Proletariat.

Es ist das Schicksal, vielleicht auch die Tragödie des menschlichen Geistes,
keine Ruhe zu finden; wenn wir ein Ziel erreicht haben, müssen wir uns ein
neues stecken, und die Freude des Eroberns ist stets größer als die Freude des
Besitzens. In Schopenhauers Hauptwerk finden wir die Höllenfahrt (Apotheose?)
des Willens, seine ewige Jagd nach dem Unerreichbarem, die schon der heilige
Augustin erkannte, der in allen Zuständen der Seele nur "voluntates" sah.

Aus dieser Beschaffenheit unseres Willens, in die Schopenhauer das tiefste
Leid. Nietzsche aber die höchste Lust hineininterpretierte, erklärt sich die fast
mystische Weihe, die auf allem Zukünftigen als dem noch nicht Erreichten liegt,
und die Überlegenheit der geistigen Werte über die materiellen, diese im Ge-


Line, These Lassalles

In der Prägung von Schlagworten, um die die Gefühle des Proletariers
sich ranken konnten, war Lassalle unübertroffener Meister, und es ist kaum ein
Einwand gegen ihn als Politiker, wenn die Zeit das eherne Lohngesetz als
wächsern erwies. Und doch scheint mir eine Stelle seines Arbeiterprogramms,
die niemals im Vordergrunde der Erörterungen stand, einer Zurückweisung heute
noch wert, weil sie vielleicht wie keine andere den Kaffenden Gegensatz sozial¬
demokratischer und liberaler Lebensanschauung beleuchtet.

Mit blendendster Rhetorik wollte Lassalle das Schicksal des vierten Standes
zum Schicksal der Menschheit erheben, und es wuchs ihm die Größe seiner
Mission, indem er jene adelte, über die er „Heerschau" hielt. Längst hat der
feine Witz der Weltgeschichte seine Früchte getragen, der einen Autokraten die
Arbeiterbewegung in die Wege leiten ließ. Denn ein Autokrat war der Mann,
von dem Bismarck sagte, er wisse nicht, ob an der Spitze des geeinten Deutsch¬
lands die Dynastie Hohenzollern oder die Dynastie Lassalle stehen werde.

Seinem Ehrgeiz konnte es nicht genügen, eine Partei zu schaffen, die
Männer, die sich zu ihm bekannten, mußten auch dessen würdig sein, und so
hat er denn mit unvergleichlicher Kraft das Selbstbewußtsein des Arbeiters
aufgerüttelt. „Dieser vierte Stand ist .... gleichbedeutend mit dem ganzen
Menschengeschlecht. Seine Sache ist daher in Wahrheit die Sache der gesamten
Menschheit, seine Freiheit ist die Freiheit der Menschheit selbst, seine Herrschaft
ist die Herrschaft aller. ..." „Sie sind in der glücklichen Lage, daß dasjenige,
was Ihr wahres persönliches Interesse bildet, zusammenfällt mit dem zuckenden
Pulsschlag der Geschichte."

Diese Worte haben ihre Schuldigkeit getan.

Der Arbeiter ist sich seines Werth bewußt geworden, ja, mehr als das, er hat
es auch gelernt, ihn zu überschätzen. Noch hat jede politische Partei, die zur
Macht drängte, sich als Repräsentantin der Gesamtheit betrachtet, aber keine
mit weniger Recht, als das Proletariat.

Es ist das Schicksal, vielleicht auch die Tragödie des menschlichen Geistes,
keine Ruhe zu finden; wenn wir ein Ziel erreicht haben, müssen wir uns ein
neues stecken, und die Freude des Eroberns ist stets größer als die Freude des
Besitzens. In Schopenhauers Hauptwerk finden wir die Höllenfahrt (Apotheose?)
des Willens, seine ewige Jagd nach dem Unerreichbarem, die schon der heilige
Augustin erkannte, der in allen Zuständen der Seele nur „voluntates" sah.

Aus dieser Beschaffenheit unseres Willens, in die Schopenhauer das tiefste
Leid. Nietzsche aber die höchste Lust hineininterpretierte, erklärt sich die fast
mystische Weihe, die auf allem Zukünftigen als dem noch nicht Erreichten liegt,
und die Überlegenheit der geistigen Werte über die materiellen, diese im Ge-


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[0429] Line, These Lassalles In der Prägung von Schlagworten, um die die Gefühle des Proletariers sich ranken konnten, war Lassalle unübertroffener Meister, und es ist kaum ein Einwand gegen ihn als Politiker, wenn die Zeit das eherne Lohngesetz als wächsern erwies. Und doch scheint mir eine Stelle seines Arbeiterprogramms, die niemals im Vordergrunde der Erörterungen stand, einer Zurückweisung heute noch wert, weil sie vielleicht wie keine andere den Kaffenden Gegensatz sozial¬ demokratischer und liberaler Lebensanschauung beleuchtet. Mit blendendster Rhetorik wollte Lassalle das Schicksal des vierten Standes zum Schicksal der Menschheit erheben, und es wuchs ihm die Größe seiner Mission, indem er jene adelte, über die er „Heerschau" hielt. Längst hat der feine Witz der Weltgeschichte seine Früchte getragen, der einen Autokraten die Arbeiterbewegung in die Wege leiten ließ. Denn ein Autokrat war der Mann, von dem Bismarck sagte, er wisse nicht, ob an der Spitze des geeinten Deutsch¬ lands die Dynastie Hohenzollern oder die Dynastie Lassalle stehen werde. Seinem Ehrgeiz konnte es nicht genügen, eine Partei zu schaffen, die Männer, die sich zu ihm bekannten, mußten auch dessen würdig sein, und so hat er denn mit unvergleichlicher Kraft das Selbstbewußtsein des Arbeiters aufgerüttelt. „Dieser vierte Stand ist .... gleichbedeutend mit dem ganzen Menschengeschlecht. Seine Sache ist daher in Wahrheit die Sache der gesamten Menschheit, seine Freiheit ist die Freiheit der Menschheit selbst, seine Herrschaft ist die Herrschaft aller. ..." „Sie sind in der glücklichen Lage, daß dasjenige, was Ihr wahres persönliches Interesse bildet, zusammenfällt mit dem zuckenden Pulsschlag der Geschichte." Diese Worte haben ihre Schuldigkeit getan. Der Arbeiter ist sich seines Werth bewußt geworden, ja, mehr als das, er hat es auch gelernt, ihn zu überschätzen. Noch hat jede politische Partei, die zur Macht drängte, sich als Repräsentantin der Gesamtheit betrachtet, aber keine mit weniger Recht, als das Proletariat. Es ist das Schicksal, vielleicht auch die Tragödie des menschlichen Geistes, keine Ruhe zu finden; wenn wir ein Ziel erreicht haben, müssen wir uns ein neues stecken, und die Freude des Eroberns ist stets größer als die Freude des Besitzens. In Schopenhauers Hauptwerk finden wir die Höllenfahrt (Apotheose?) des Willens, seine ewige Jagd nach dem Unerreichbarem, die schon der heilige Augustin erkannte, der in allen Zuständen der Seele nur „voluntates" sah. Aus dieser Beschaffenheit unseres Willens, in die Schopenhauer das tiefste Leid. Nietzsche aber die höchste Lust hineininterpretierte, erklärt sich die fast mystische Weihe, die auf allem Zukünftigen als dem noch nicht Erreichten liegt, und die Überlegenheit der geistigen Werte über die materiellen, diese im Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/429>, abgerufen am 22.07.2024.