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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Line These Lassalles

brauche sich abnutzend, jene stets neue Kräfte anfangend und voll wunderbarer
Fernwirkung.

Die Schöpfer der geistigen Werte sind die wahren Repräsentanten des
Menschengeschlechts, ihnen freie Bahn schaffen, heißt der Menschheit die Freiheit
schenken, sie sind es wirklich, die in der ausnehmend günstigen Lage sind, daß
sich ihre Interessen mit denen der Menschheit decken. Die liberale Idee der
Freiheit, eines Titanengeschlechtes würdig, hat die moralische Kraft des Menschen
überschätzt, jene Idee, die im Reiche des Geistigen nicht streng genug verfochten
werden konnte, mußte zu einem engherzigen Egoismus ausarten, als sie zum
ökonomischen Prinzip herabsank. Das liberale Pflichtbewußtsein war zu schwach
gegenüber den Lockungen der Privilegien, man überhörte geflissentlich die Stimme
des Elends. Hier setzt das Jongleurstück des Sozialdemokraten ein: was die
Pflicht der Besitzenden wäre, soll nun zum Recht der Besitzlosen werden. Ganz
als ob von Staats wegen die Amputation eines Gliedes verordnet würde, weil
es Krüppel gibt.

Die Maschine setzt den Arbeiter frei; im Marxschen Sinne heißt das, sie
wirft ihn der Bestie Kapital zum Fraße vor, von der freieren Warte des
Liberalismus aus gesehen, befreit sie immer mehr Menschen von mechanischer
Arbeit, die Qualität der Arbeit wird menschlicher, weil geistiger. Gewiß, das
Proletariat ist das Schmerzenskind unserer Zeit. Die sozialdemokratische Heil¬
methode aber gleicht der Weisheit eines Arztes, der einen Hirntumor heilen wollte,
indem er das Gehirn exstirpiert, der Patient wird aber wenn er nicht stirbt
leider ein Idiot sein. Dem Boden der Privatwirtschaft entsprangen die Aus¬
wüchse des Kapitalismus: also fort mit der Privatwirtschaft.

Die Privatwirtschaft des freien Bürgers, die dem Zwang der Zünfte ein
Ende bereitet hatte, war nur der soziale Reflex der geistigen Freiheit, die sich
die Besten erkämpft hatten. Die geistige Vormundschaft der Kirche, die soziale
Vormundschaft der Zünfte, sie fanden zu gleicher Zeit ihr Ende, als das In¬
dividuum sich der eigenen Kraft bewußt geworden war. Die Beseitigung der
Privatwirtschaft bedeutet darum einen Angriff gegen die Wurzeln jenes gesunden
Individualismus, dessen kein starkes Volk entbehren kann.

Die Struktur des sozialen Lebens hat so gefügt zu sein, daß sie der Ent¬
faltung der Besten angepaßt ist und deren Pflicht wird es sein, den Bedrängten
beizustehen. Wenn der Liberalismus sich dieser beiden Teile seiner Aufgabe
wieder voll bewußt werden wird, dann muß er sich, unbekümmert um rechts
und links, stark in Liebe, aber wenn es die Stunde fordert, auch stark im Hasse
die Zukunft erobern.




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brauche sich abnutzend, jene stets neue Kräfte anfangend und voll wunderbarer
Fernwirkung.

Die Schöpfer der geistigen Werte sind die wahren Repräsentanten des
Menschengeschlechts, ihnen freie Bahn schaffen, heißt der Menschheit die Freiheit
schenken, sie sind es wirklich, die in der ausnehmend günstigen Lage sind, daß
sich ihre Interessen mit denen der Menschheit decken. Die liberale Idee der
Freiheit, eines Titanengeschlechtes würdig, hat die moralische Kraft des Menschen
überschätzt, jene Idee, die im Reiche des Geistigen nicht streng genug verfochten
werden konnte, mußte zu einem engherzigen Egoismus ausarten, als sie zum
ökonomischen Prinzip herabsank. Das liberale Pflichtbewußtsein war zu schwach
gegenüber den Lockungen der Privilegien, man überhörte geflissentlich die Stimme
des Elends. Hier setzt das Jongleurstück des Sozialdemokraten ein: was die
Pflicht der Besitzenden wäre, soll nun zum Recht der Besitzlosen werden. Ganz
als ob von Staats wegen die Amputation eines Gliedes verordnet würde, weil
es Krüppel gibt.

Die Maschine setzt den Arbeiter frei; im Marxschen Sinne heißt das, sie
wirft ihn der Bestie Kapital zum Fraße vor, von der freieren Warte des
Liberalismus aus gesehen, befreit sie immer mehr Menschen von mechanischer
Arbeit, die Qualität der Arbeit wird menschlicher, weil geistiger. Gewiß, das
Proletariat ist das Schmerzenskind unserer Zeit. Die sozialdemokratische Heil¬
methode aber gleicht der Weisheit eines Arztes, der einen Hirntumor heilen wollte,
indem er das Gehirn exstirpiert, der Patient wird aber wenn er nicht stirbt
leider ein Idiot sein. Dem Boden der Privatwirtschaft entsprangen die Aus¬
wüchse des Kapitalismus: also fort mit der Privatwirtschaft.

Die Privatwirtschaft des freien Bürgers, die dem Zwang der Zünfte ein
Ende bereitet hatte, war nur der soziale Reflex der geistigen Freiheit, die sich
die Besten erkämpft hatten. Die geistige Vormundschaft der Kirche, die soziale
Vormundschaft der Zünfte, sie fanden zu gleicher Zeit ihr Ende, als das In¬
dividuum sich der eigenen Kraft bewußt geworden war. Die Beseitigung der
Privatwirtschaft bedeutet darum einen Angriff gegen die Wurzeln jenes gesunden
Individualismus, dessen kein starkes Volk entbehren kann.

Die Struktur des sozialen Lebens hat so gefügt zu sein, daß sie der Ent¬
faltung der Besten angepaßt ist und deren Pflicht wird es sein, den Bedrängten
beizustehen. Wenn der Liberalismus sich dieser beiden Teile seiner Aufgabe
wieder voll bewußt werden wird, dann muß er sich, unbekümmert um rechts
und links, stark in Liebe, aber wenn es die Stunde fordert, auch stark im Hasse
die Zukunft erobern.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/430>, abgerufen am 22.07.2024.