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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Etwas über die Ära Lassirer

Strathmann, Beckmann u. a. kamen statt der erwarteten Überraschungen --
"wohin treiben wir?" Und eines Abends ging man in einen so betitelten
Vortrag, den Julius Meier-Gräfe bei Paul Cassirer halten sollte. Die beiden
gehören eng zusammen, denn die Ansichten, die der eine, sicherlich der beliebteste
Kunstschriftsteller unserer Tage, in der Theorie entwickelt und mit großer Energie
durchgekämpft hat, sind auf derselben Grundlage entstanden und haben dasselbe
Ziel wie die praktische Tätigkeit des anderen. Beide können sich die Einbürgerung
der modernen Malerei von Manet bis van Gogh bei uns zum Verdienst anrechnen,
wie man ihnen beiden gleichermaßen wird nachzuweisen haben, wie sie sich bet der
Überschätzung dieser Strömung verrannt haben. Man konnte also darauf gefaßt
sein, daß die Stellungnahme Meier-Grases zu den neuesten Kunstströmungen
ungefähr auch die Anschauungen Casstrers widerspiegeln würde. Und darin
wurde man allerdings nicht enttäuscht, denn die geradezu rührende Befangenheit
mit der der Redner zu dem Resultate gelangte, daß mit dem Impressionismus
die ganze Malerei überhaupt aufhöre, und der groteske Angstschrei, mit dem er
gegen alle Neuerer samt und sonders in die Posaune stieß, paßten vortrefflich
zu dem retardierenden Tempo, das auch Cassirer neuerdings anzuschlagen scheint.
Erstaunlich bei diesem interessanten Doppelvorgang ist nur die Gleichgültigkeit
oder Ahnungslosigkeit, die beide dem Urteil desselben Publikums gegenüber
bekunden, das sie so lange mit Leckerbissen verwöhnt haben, und das nun
natürlich Kritik genug besitzt, um nicht mit ihnen zu "verspießert". Sie beachten
nicht, daß ihnen aus den begeisterungsfähigen und kunstempfänglichen Elementen,
die früher zu ihrer Fahne stießen, allmählich ihre erbittertsten Gegner erwachsen;
sie übersehen, daß sie nach und nach auch aus der Schar ihrer alten Anhänger
alle die verlieren, die besser "mitkönnen" als sie selbst. Herr Meier-Gräfe hat
sich schon sein Fiasko bereitet, wird ihm Paul Cassirer auf demselben Wege
folgen? Wird er die Gegenwart mit den in Sturm und Drang Schaffenden
an sich vorüberbrausen lassen, aus Sorge, daß sie ihm das ruhige Geschäft
stören könnte, das ihm seine Beziehungen mit der letzten Vergangenheit gewähr¬
leisten? Dann dürften doch die Jahre seiner Ära eher, als er ahnt, gezählt sein.


lNomos


Etwas über die Ära Lassirer

Strathmann, Beckmann u. a. kamen statt der erwarteten Überraschungen —
„wohin treiben wir?" Und eines Abends ging man in einen so betitelten
Vortrag, den Julius Meier-Gräfe bei Paul Cassirer halten sollte. Die beiden
gehören eng zusammen, denn die Ansichten, die der eine, sicherlich der beliebteste
Kunstschriftsteller unserer Tage, in der Theorie entwickelt und mit großer Energie
durchgekämpft hat, sind auf derselben Grundlage entstanden und haben dasselbe
Ziel wie die praktische Tätigkeit des anderen. Beide können sich die Einbürgerung
der modernen Malerei von Manet bis van Gogh bei uns zum Verdienst anrechnen,
wie man ihnen beiden gleichermaßen wird nachzuweisen haben, wie sie sich bet der
Überschätzung dieser Strömung verrannt haben. Man konnte also darauf gefaßt
sein, daß die Stellungnahme Meier-Grases zu den neuesten Kunstströmungen
ungefähr auch die Anschauungen Casstrers widerspiegeln würde. Und darin
wurde man allerdings nicht enttäuscht, denn die geradezu rührende Befangenheit
mit der der Redner zu dem Resultate gelangte, daß mit dem Impressionismus
die ganze Malerei überhaupt aufhöre, und der groteske Angstschrei, mit dem er
gegen alle Neuerer samt und sonders in die Posaune stieß, paßten vortrefflich
zu dem retardierenden Tempo, das auch Cassirer neuerdings anzuschlagen scheint.
Erstaunlich bei diesem interessanten Doppelvorgang ist nur die Gleichgültigkeit
oder Ahnungslosigkeit, die beide dem Urteil desselben Publikums gegenüber
bekunden, das sie so lange mit Leckerbissen verwöhnt haben, und das nun
natürlich Kritik genug besitzt, um nicht mit ihnen zu „verspießert". Sie beachten
nicht, daß ihnen aus den begeisterungsfähigen und kunstempfänglichen Elementen,
die früher zu ihrer Fahne stießen, allmählich ihre erbittertsten Gegner erwachsen;
sie übersehen, daß sie nach und nach auch aus der Schar ihrer alten Anhänger
alle die verlieren, die besser „mitkönnen" als sie selbst. Herr Meier-Gräfe hat
sich schon sein Fiasko bereitet, wird ihm Paul Cassirer auf demselben Wege
folgen? Wird er die Gegenwart mit den in Sturm und Drang Schaffenden
an sich vorüberbrausen lassen, aus Sorge, daß sie ihm das ruhige Geschäft
stören könnte, das ihm seine Beziehungen mit der letzten Vergangenheit gewähr¬
leisten? Dann dürften doch die Jahre seiner Ära eher, als er ahnt, gezählt sein.


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[0392] Etwas über die Ära Lassirer Strathmann, Beckmann u. a. kamen statt der erwarteten Überraschungen — „wohin treiben wir?" Und eines Abends ging man in einen so betitelten Vortrag, den Julius Meier-Gräfe bei Paul Cassirer halten sollte. Die beiden gehören eng zusammen, denn die Ansichten, die der eine, sicherlich der beliebteste Kunstschriftsteller unserer Tage, in der Theorie entwickelt und mit großer Energie durchgekämpft hat, sind auf derselben Grundlage entstanden und haben dasselbe Ziel wie die praktische Tätigkeit des anderen. Beide können sich die Einbürgerung der modernen Malerei von Manet bis van Gogh bei uns zum Verdienst anrechnen, wie man ihnen beiden gleichermaßen wird nachzuweisen haben, wie sie sich bet der Überschätzung dieser Strömung verrannt haben. Man konnte also darauf gefaßt sein, daß die Stellungnahme Meier-Grases zu den neuesten Kunstströmungen ungefähr auch die Anschauungen Casstrers widerspiegeln würde. Und darin wurde man allerdings nicht enttäuscht, denn die geradezu rührende Befangenheit mit der der Redner zu dem Resultate gelangte, daß mit dem Impressionismus die ganze Malerei überhaupt aufhöre, und der groteske Angstschrei, mit dem er gegen alle Neuerer samt und sonders in die Posaune stieß, paßten vortrefflich zu dem retardierenden Tempo, das auch Cassirer neuerdings anzuschlagen scheint. Erstaunlich bei diesem interessanten Doppelvorgang ist nur die Gleichgültigkeit oder Ahnungslosigkeit, die beide dem Urteil desselben Publikums gegenüber bekunden, das sie so lange mit Leckerbissen verwöhnt haben, und das nun natürlich Kritik genug besitzt, um nicht mit ihnen zu „verspießert". Sie beachten nicht, daß ihnen aus den begeisterungsfähigen und kunstempfänglichen Elementen, die früher zu ihrer Fahne stießen, allmählich ihre erbittertsten Gegner erwachsen; sie übersehen, daß sie nach und nach auch aus der Schar ihrer alten Anhänger alle die verlieren, die besser „mitkönnen" als sie selbst. Herr Meier-Gräfe hat sich schon sein Fiasko bereitet, wird ihm Paul Cassirer auf demselben Wege folgen? Wird er die Gegenwart mit den in Sturm und Drang Schaffenden an sich vorüberbrausen lassen, aus Sorge, daß sie ihm das ruhige Geschäft stören könnte, das ihm seine Beziehungen mit der letzten Vergangenheit gewähr¬ leisten? Dann dürften doch die Jahre seiner Ära eher, als er ahnt, gezählt sein. lNomos

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/392>, abgerufen am 04.07.2024.