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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Schule und Kunsterziehung

gesprochen. Natürlich wird man nach Möglichkeit nicht mit dem Schwersten
anfangen, eine einfache Dorfkirche leistet für den Anfang oft bessere Dienste als
der verwirrende Reichtum eines Domes, und was der Lehrer am großartigsten
findet, braucht den Schüler nicht immer am meisten zu interessieren. Von der
Baukunst lassen sich dann Brücken schlagen zur dekorativen Kunst und zum
Kunstgewerbe. Auch hier kommt erst die Erörterung der Aufgabe, dann die
Lösung. Zum Einprägen und zur Wiederholung wird schematisches oder
detailliertes Zeichnen nach dem Original oder aus dem Gedächtnis treffliche
Dienste tun. Weshalb man sich aber gerade auf die Baukunst beschränken soll,
ist nicht einzusehen. Mädchen z. B., die für Baukunst gewöhnlich nicht viel
Verständnis zeigen, werden sich mehr für Malerei interessieren, sollten aber mehr
als es bis jetzt geschieht, auf alte Handarbeiten und Trachten unter genauen
technischen Erläuterungen für jedes Stück, auch auf Porzellan, Glas und andere
in ihrem Bereich liegende Kleinkünste hingewiesen werden. Über die Schönheit
darf so wenig geredet werden wie möglich, und niemals geschwärmt!

Die Vorteile solchen Vorgehens liegen auf der Hand. Der Schüler lernt
an Originalen sehen und Qualität werten. Das Studieren von Abbildungen,
die doch selbst erst, oft unter ermüdenden Anstrengungen übersetzt werden müssen,
wird das lebendige Resultat solcher Übungen nie ersetzen können. Und dann
noch ein wichtiger Punkt: der Schüler wird zuerst auf die Bauten oder Kunst¬
werke seiner Vaterstadt hingewiesen; er lernt zunächst nur sie kennen und
bekommt ein lebendiges Gefühl für die künstlerische Ausdrucksfähigkeit des eigenen
nationalen oder provinziellen Lebens, ein Gefühl, das sich weit weniger lebendig
ausprägen wird, wenn es erst allerlei fremde Stile "historisch" bewältigen muß.
Solch ein Studium der nationalen Kunstwerke kann mehr Nationalgefühl
erwecken als jahrelang wiederholte Sedanfestreden. Die Nachteile liegen allein
darin, daß der Schüler nicht "historisch" lernt, aber dieser Mangel an Lexikon-
wetsheit dürfte mehr als reichlich durch die angeführten Vorteile wettgemacht
werden. Reichholds Einwand, daß wir zu solchem Lehrgang nicht genug künst¬
lerisch vorgebildete Lehrer haben, kann nicht berücksichtigt werden. Denn
ohne künstlerische Vorbildung der Lehrer lassen wir überhaupt besser die Hände
von der ganzen Kunsterziehung und warten ruhig ab, bis wir jene haben.
Fragt man mich aber, in welches "Fach" dieser Kunstunterricht gepreßt werden
soll, so antworte ich: ganz gleich in welches. Der Lehrer soll sich der Sache
annehmen, der Lust, Liebe und Befähigung dazu hat -- am besten natürlich
der Deutschlehrer, weil ihm ja auch die Aufgabe zufällt, die Schüler in die
Literatur einzuführen. Aber natürlich kann es auch der Zeichenlehrer oder
irgendein anderer Lehrer sein.

Vielfach wird der Begriff der Kunsterziehung auch zu eng gefaßt. Nicht
nur die bildenden, auch die anderen Künste müssen den Lernenden besser und
sorgfältiger nahegebracht werden, als es jetzt geschieht. Welcher Gesanglehrer gibt
z. B. nur die einfachsten harmonischen Winke? Aber Singen ist ja bloß ein


Schule und Kunsterziehung

gesprochen. Natürlich wird man nach Möglichkeit nicht mit dem Schwersten
anfangen, eine einfache Dorfkirche leistet für den Anfang oft bessere Dienste als
der verwirrende Reichtum eines Domes, und was der Lehrer am großartigsten
findet, braucht den Schüler nicht immer am meisten zu interessieren. Von der
Baukunst lassen sich dann Brücken schlagen zur dekorativen Kunst und zum
Kunstgewerbe. Auch hier kommt erst die Erörterung der Aufgabe, dann die
Lösung. Zum Einprägen und zur Wiederholung wird schematisches oder
detailliertes Zeichnen nach dem Original oder aus dem Gedächtnis treffliche
Dienste tun. Weshalb man sich aber gerade auf die Baukunst beschränken soll,
ist nicht einzusehen. Mädchen z. B., die für Baukunst gewöhnlich nicht viel
Verständnis zeigen, werden sich mehr für Malerei interessieren, sollten aber mehr
als es bis jetzt geschieht, auf alte Handarbeiten und Trachten unter genauen
technischen Erläuterungen für jedes Stück, auch auf Porzellan, Glas und andere
in ihrem Bereich liegende Kleinkünste hingewiesen werden. Über die Schönheit
darf so wenig geredet werden wie möglich, und niemals geschwärmt!

Die Vorteile solchen Vorgehens liegen auf der Hand. Der Schüler lernt
an Originalen sehen und Qualität werten. Das Studieren von Abbildungen,
die doch selbst erst, oft unter ermüdenden Anstrengungen übersetzt werden müssen,
wird das lebendige Resultat solcher Übungen nie ersetzen können. Und dann
noch ein wichtiger Punkt: der Schüler wird zuerst auf die Bauten oder Kunst¬
werke seiner Vaterstadt hingewiesen; er lernt zunächst nur sie kennen und
bekommt ein lebendiges Gefühl für die künstlerische Ausdrucksfähigkeit des eigenen
nationalen oder provinziellen Lebens, ein Gefühl, das sich weit weniger lebendig
ausprägen wird, wenn es erst allerlei fremde Stile „historisch" bewältigen muß.
Solch ein Studium der nationalen Kunstwerke kann mehr Nationalgefühl
erwecken als jahrelang wiederholte Sedanfestreden. Die Nachteile liegen allein
darin, daß der Schüler nicht „historisch" lernt, aber dieser Mangel an Lexikon-
wetsheit dürfte mehr als reichlich durch die angeführten Vorteile wettgemacht
werden. Reichholds Einwand, daß wir zu solchem Lehrgang nicht genug künst¬
lerisch vorgebildete Lehrer haben, kann nicht berücksichtigt werden. Denn
ohne künstlerische Vorbildung der Lehrer lassen wir überhaupt besser die Hände
von der ganzen Kunsterziehung und warten ruhig ab, bis wir jene haben.
Fragt man mich aber, in welches „Fach" dieser Kunstunterricht gepreßt werden
soll, so antworte ich: ganz gleich in welches. Der Lehrer soll sich der Sache
annehmen, der Lust, Liebe und Befähigung dazu hat — am besten natürlich
der Deutschlehrer, weil ihm ja auch die Aufgabe zufällt, die Schüler in die
Literatur einzuführen. Aber natürlich kann es auch der Zeichenlehrer oder
irgendein anderer Lehrer sein.

Vielfach wird der Begriff der Kunsterziehung auch zu eng gefaßt. Nicht
nur die bildenden, auch die anderen Künste müssen den Lernenden besser und
sorgfältiger nahegebracht werden, als es jetzt geschieht. Welcher Gesanglehrer gibt
z. B. nur die einfachsten harmonischen Winke? Aber Singen ist ja bloß ein


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[0370] Schule und Kunsterziehung gesprochen. Natürlich wird man nach Möglichkeit nicht mit dem Schwersten anfangen, eine einfache Dorfkirche leistet für den Anfang oft bessere Dienste als der verwirrende Reichtum eines Domes, und was der Lehrer am großartigsten findet, braucht den Schüler nicht immer am meisten zu interessieren. Von der Baukunst lassen sich dann Brücken schlagen zur dekorativen Kunst und zum Kunstgewerbe. Auch hier kommt erst die Erörterung der Aufgabe, dann die Lösung. Zum Einprägen und zur Wiederholung wird schematisches oder detailliertes Zeichnen nach dem Original oder aus dem Gedächtnis treffliche Dienste tun. Weshalb man sich aber gerade auf die Baukunst beschränken soll, ist nicht einzusehen. Mädchen z. B., die für Baukunst gewöhnlich nicht viel Verständnis zeigen, werden sich mehr für Malerei interessieren, sollten aber mehr als es bis jetzt geschieht, auf alte Handarbeiten und Trachten unter genauen technischen Erläuterungen für jedes Stück, auch auf Porzellan, Glas und andere in ihrem Bereich liegende Kleinkünste hingewiesen werden. Über die Schönheit darf so wenig geredet werden wie möglich, und niemals geschwärmt! Die Vorteile solchen Vorgehens liegen auf der Hand. Der Schüler lernt an Originalen sehen und Qualität werten. Das Studieren von Abbildungen, die doch selbst erst, oft unter ermüdenden Anstrengungen übersetzt werden müssen, wird das lebendige Resultat solcher Übungen nie ersetzen können. Und dann noch ein wichtiger Punkt: der Schüler wird zuerst auf die Bauten oder Kunst¬ werke seiner Vaterstadt hingewiesen; er lernt zunächst nur sie kennen und bekommt ein lebendiges Gefühl für die künstlerische Ausdrucksfähigkeit des eigenen nationalen oder provinziellen Lebens, ein Gefühl, das sich weit weniger lebendig ausprägen wird, wenn es erst allerlei fremde Stile „historisch" bewältigen muß. Solch ein Studium der nationalen Kunstwerke kann mehr Nationalgefühl erwecken als jahrelang wiederholte Sedanfestreden. Die Nachteile liegen allein darin, daß der Schüler nicht „historisch" lernt, aber dieser Mangel an Lexikon- wetsheit dürfte mehr als reichlich durch die angeführten Vorteile wettgemacht werden. Reichholds Einwand, daß wir zu solchem Lehrgang nicht genug künst¬ lerisch vorgebildete Lehrer haben, kann nicht berücksichtigt werden. Denn ohne künstlerische Vorbildung der Lehrer lassen wir überhaupt besser die Hände von der ganzen Kunsterziehung und warten ruhig ab, bis wir jene haben. Fragt man mich aber, in welches „Fach" dieser Kunstunterricht gepreßt werden soll, so antworte ich: ganz gleich in welches. Der Lehrer soll sich der Sache annehmen, der Lust, Liebe und Befähigung dazu hat — am besten natürlich der Deutschlehrer, weil ihm ja auch die Aufgabe zufällt, die Schüler in die Literatur einzuführen. Aber natürlich kann es auch der Zeichenlehrer oder irgendein anderer Lehrer sein. Vielfach wird der Begriff der Kunsterziehung auch zu eng gefaßt. Nicht nur die bildenden, auch die anderen Künste müssen den Lernenden besser und sorgfältiger nahegebracht werden, als es jetzt geschieht. Welcher Gesanglehrer gibt z. B. nur die einfachsten harmonischen Winke? Aber Singen ist ja bloß ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/370>, abgerufen am 22.07.2024.