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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Schule und Runsterziehung

"Nebenfach" und wird dementsprechend behandelt, weshalb es denn nicht
wunder nehmen kann, daß trotz aller verzweifelten Reden der Volksgesang
immer mehr abstirbt. Sehen wir einmal zu, wie es mit der Poesie steht.
Da hat nun Severin Rüttgers ein temperamentvolles und sehr beherzigens¬
wertes Buch geschrieben: "Über die literarische Erziehung als ein Problem
der Arbeitsschule" (Teubner, 1910). "Die Lösung der Jugendschriftenfrage,"
heißt es im Vorwort, "darf nicht von ästhetischen Problemen und Dogmen
aus versucht werden, sie muß vom Kinde und der Gegenwart ausgehen
und in der Richtung auf praktische und nationale Ziele hingeführt werden."
Aber was tun wir? Jungen Leuten, die in zwei Jahren im Kondor oder
an der Universität Realitäten erfassen sollen, geben wir ganz weltfremde
Bücher in die Hand, aus deren Gedankeninhalt sie kaum jemals von selbst
kommen würden. Wie gehören etwa Dramen, die das Verhältnis von Künstler
und Welt behandeln, Tasso, Sappho in die Schule? Wie die "Jungfrau von
Orleans"? Und wie die Greuel des Atridenhauses oder des König Ödipus?
Wer vor einer Klasse von fünfundzwanzig Schülern die Iphigenie schulmäßig
mit Abfragen und Aufsätzen behandeln muß, wird nicht umhin können, das
Werk zuschanden zu treten. Einfach, weil es zu schwer ist. Werke, deren Ge¬
dankeninhalt uns ganz naturgemäß erst auf der Höhe des Lebens aufgehen, wie
könnten siebzehnjährige sie erfassen? "Gerade das vorfrühe Darbieten der
letzten Und höchsten Bildungen unserer klassischen Literatur mag," wie Rüttgers
richtig betont, "die gänzliche Verständnisloftgkeit, das mangelnde Interesse für
klassische Formenschönheit und Lebensweisheit begünstigt haben." Und warum
müssen eigentlich immer Dramen gelesen werden? Warum gerade die kom¬
plizierteste und unserem Leben doch relativ fremdeste Kunstform Unerfahrenen
geboten werden? Unsere Mädchen lesen neben den schönsten Dramen den
fürchterlichsten Nomanschund, weil sie einfach nie gelernt haben Romane zu
lesen, nie auf gute Romane hingewiesen werden. Dreiviertel unserer Jungen
nehmen nach dem Abiturium nie wieder ein Drama zur Hand, wohl aber
einen Roman. Und wir haben nie ein Werk von Keller oder Fontane oder
Gotthelf oder sonst irgendeines guten Erzählers mit ihnen gelesen! Nun sagt
man freilich, die Schüler müssen, bevor sie die Schule verlassen, das Beste
kennen gelernt haben. Aber können sie es denn verstehen? Man hätte statt
das Beste lieber das Tüchtigste sagen und dann nicht vergessen sollen, daß
ein gut erzählendes Volksbuch in seiner Art so tüchtig wie Goethe, Storm so
tüchtig wie Schiller ist, und daß erstere dem Schüler leichter erreichbar
und darum zuträglicher sind. Und warum müssen es immer nur die paar
vorgeschriebenen Werke sein, an denen die Lehrer sich stumpf arbeiten? Warum
läßt man nicht die Schüler einmal wählen? Aber wie sagt doch Rüttgers?
"Die praktische Pädagogik -- von unten bis oben hinaus -- ist die einzige
Wissenschaft ohne Selbstverwaltung und mit reglementarisch-bureaukratischer
Regie."


Schule und Runsterziehung

„Nebenfach" und wird dementsprechend behandelt, weshalb es denn nicht
wunder nehmen kann, daß trotz aller verzweifelten Reden der Volksgesang
immer mehr abstirbt. Sehen wir einmal zu, wie es mit der Poesie steht.
Da hat nun Severin Rüttgers ein temperamentvolles und sehr beherzigens¬
wertes Buch geschrieben: „Über die literarische Erziehung als ein Problem
der Arbeitsschule" (Teubner, 1910). „Die Lösung der Jugendschriftenfrage,"
heißt es im Vorwort, „darf nicht von ästhetischen Problemen und Dogmen
aus versucht werden, sie muß vom Kinde und der Gegenwart ausgehen
und in der Richtung auf praktische und nationale Ziele hingeführt werden."
Aber was tun wir? Jungen Leuten, die in zwei Jahren im Kondor oder
an der Universität Realitäten erfassen sollen, geben wir ganz weltfremde
Bücher in die Hand, aus deren Gedankeninhalt sie kaum jemals von selbst
kommen würden. Wie gehören etwa Dramen, die das Verhältnis von Künstler
und Welt behandeln, Tasso, Sappho in die Schule? Wie die „Jungfrau von
Orleans"? Und wie die Greuel des Atridenhauses oder des König Ödipus?
Wer vor einer Klasse von fünfundzwanzig Schülern die Iphigenie schulmäßig
mit Abfragen und Aufsätzen behandeln muß, wird nicht umhin können, das
Werk zuschanden zu treten. Einfach, weil es zu schwer ist. Werke, deren Ge¬
dankeninhalt uns ganz naturgemäß erst auf der Höhe des Lebens aufgehen, wie
könnten siebzehnjährige sie erfassen? „Gerade das vorfrühe Darbieten der
letzten Und höchsten Bildungen unserer klassischen Literatur mag," wie Rüttgers
richtig betont, „die gänzliche Verständnisloftgkeit, das mangelnde Interesse für
klassische Formenschönheit und Lebensweisheit begünstigt haben." Und warum
müssen eigentlich immer Dramen gelesen werden? Warum gerade die kom¬
plizierteste und unserem Leben doch relativ fremdeste Kunstform Unerfahrenen
geboten werden? Unsere Mädchen lesen neben den schönsten Dramen den
fürchterlichsten Nomanschund, weil sie einfach nie gelernt haben Romane zu
lesen, nie auf gute Romane hingewiesen werden. Dreiviertel unserer Jungen
nehmen nach dem Abiturium nie wieder ein Drama zur Hand, wohl aber
einen Roman. Und wir haben nie ein Werk von Keller oder Fontane oder
Gotthelf oder sonst irgendeines guten Erzählers mit ihnen gelesen! Nun sagt
man freilich, die Schüler müssen, bevor sie die Schule verlassen, das Beste
kennen gelernt haben. Aber können sie es denn verstehen? Man hätte statt
das Beste lieber das Tüchtigste sagen und dann nicht vergessen sollen, daß
ein gut erzählendes Volksbuch in seiner Art so tüchtig wie Goethe, Storm so
tüchtig wie Schiller ist, und daß erstere dem Schüler leichter erreichbar
und darum zuträglicher sind. Und warum müssen es immer nur die paar
vorgeschriebenen Werke sein, an denen die Lehrer sich stumpf arbeiten? Warum
läßt man nicht die Schüler einmal wählen? Aber wie sagt doch Rüttgers?
„Die praktische Pädagogik — von unten bis oben hinaus — ist die einzige
Wissenschaft ohne Selbstverwaltung und mit reglementarisch-bureaukratischer
Regie."


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[0371] Schule und Runsterziehung „Nebenfach" und wird dementsprechend behandelt, weshalb es denn nicht wunder nehmen kann, daß trotz aller verzweifelten Reden der Volksgesang immer mehr abstirbt. Sehen wir einmal zu, wie es mit der Poesie steht. Da hat nun Severin Rüttgers ein temperamentvolles und sehr beherzigens¬ wertes Buch geschrieben: „Über die literarische Erziehung als ein Problem der Arbeitsschule" (Teubner, 1910). „Die Lösung der Jugendschriftenfrage," heißt es im Vorwort, „darf nicht von ästhetischen Problemen und Dogmen aus versucht werden, sie muß vom Kinde und der Gegenwart ausgehen und in der Richtung auf praktische und nationale Ziele hingeführt werden." Aber was tun wir? Jungen Leuten, die in zwei Jahren im Kondor oder an der Universität Realitäten erfassen sollen, geben wir ganz weltfremde Bücher in die Hand, aus deren Gedankeninhalt sie kaum jemals von selbst kommen würden. Wie gehören etwa Dramen, die das Verhältnis von Künstler und Welt behandeln, Tasso, Sappho in die Schule? Wie die „Jungfrau von Orleans"? Und wie die Greuel des Atridenhauses oder des König Ödipus? Wer vor einer Klasse von fünfundzwanzig Schülern die Iphigenie schulmäßig mit Abfragen und Aufsätzen behandeln muß, wird nicht umhin können, das Werk zuschanden zu treten. Einfach, weil es zu schwer ist. Werke, deren Ge¬ dankeninhalt uns ganz naturgemäß erst auf der Höhe des Lebens aufgehen, wie könnten siebzehnjährige sie erfassen? „Gerade das vorfrühe Darbieten der letzten Und höchsten Bildungen unserer klassischen Literatur mag," wie Rüttgers richtig betont, „die gänzliche Verständnisloftgkeit, das mangelnde Interesse für klassische Formenschönheit und Lebensweisheit begünstigt haben." Und warum müssen eigentlich immer Dramen gelesen werden? Warum gerade die kom¬ plizierteste und unserem Leben doch relativ fremdeste Kunstform Unerfahrenen geboten werden? Unsere Mädchen lesen neben den schönsten Dramen den fürchterlichsten Nomanschund, weil sie einfach nie gelernt haben Romane zu lesen, nie auf gute Romane hingewiesen werden. Dreiviertel unserer Jungen nehmen nach dem Abiturium nie wieder ein Drama zur Hand, wohl aber einen Roman. Und wir haben nie ein Werk von Keller oder Fontane oder Gotthelf oder sonst irgendeines guten Erzählers mit ihnen gelesen! Nun sagt man freilich, die Schüler müssen, bevor sie die Schule verlassen, das Beste kennen gelernt haben. Aber können sie es denn verstehen? Man hätte statt das Beste lieber das Tüchtigste sagen und dann nicht vergessen sollen, daß ein gut erzählendes Volksbuch in seiner Art so tüchtig wie Goethe, Storm so tüchtig wie Schiller ist, und daß erstere dem Schüler leichter erreichbar und darum zuträglicher sind. Und warum müssen es immer nur die paar vorgeschriebenen Werke sein, an denen die Lehrer sich stumpf arbeiten? Warum läßt man nicht die Schüler einmal wählen? Aber wie sagt doch Rüttgers? „Die praktische Pädagogik — von unten bis oben hinaus — ist die einzige Wissenschaft ohne Selbstverwaltung und mit reglementarisch-bureaukratischer Regie."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/371>, abgerufen am 22.12.2024.