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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

digste --, gaben im einzelnen manches
Lobenswerte und Schöne; wenn man aber
neue, unverlierbar starke Töne suchte, so fand
man nur (stofflich) Gewohntes, freilich immer
neu geworden durch die Individualität des
Schaffenden. Und so gern man Ludwig
Richters keusche, heimelige Kunst an stillen
Abenden auf sich wirken läßt, so darf man
doch nie vergessen, daß Menzels "Eiscnwalz-
werk" unseren? heutigen Leben reichern und
kräftigern Ausdruck verleiht. Denn es gilt
überall -- auch in der Kunst --, vorwärts
zu schauen, die Formel zu finden für die
immer fortschreitende Entwicklung in Kultur
und Zivilisation. Was der Künstler gestaltet,
wird ein Neues und geht über in den Besitz
der genießenden Menge. Er ist der Ent¬
decker. Sein Leben fließt geheimnisvoll hin¬
über in der Dinge letzte Möglichkeiten. Und
es geschieht das Wundersame: er bildet sie
für alle übrigen, die sie noch nicht kennen
und begreifen. Der Künstler -- das ist seines
Wesens innerste Bestimmung -- schafft immer
nur sich selbst! Und indem er sein Werk so
menschlich, mit persönlicher Hingabe erfüllt,
macht er eS auch deu Vielen verständlich,
denen nur das Menschliche klar und deutlich
ist. Er ist der Mittler, das Medium; durch
ihn lernen die Blinden sehen und die Tauben
hören . . . Die Eisenbahn, der man einst
die Schändung der Landschaft zum Borwurf
machte, ist längst in ihrer Bedeutung für
Malerei und Poesie erkannt worden. Und
so lieb und traut uns EichendorA wald¬
frische Lieder auch in die Seele klingen,
Verhaerens kantige Verse, seine rauschenden
Hymnen bedeuten uns mehr für den Fort¬
schritt; sie sind ein Sieg des modernen
Europäers über das vielgestaltige, wechselnde
harte Leben unserer Tage. Und so wurde
auch die Form eine andere. Man begann,
dem immanenten Rhythmus der Dinge zu
lauschen. Die Verse waren nicht mehr ge¬
bannt und gezwungen in hergebrachte Formen;
man ließ sie sich selbst gestalten, man horchte
auf ihre natürliche Gesetzmäßigkeit. Die so¬
genannten freien Rhythmen gewannen Be¬
deutung und Anerkennung. Darin liegt nun
keineswegs Nachlässigkeit, wie manche noch
zu glauben geneigt sind, sondern innere
Nötigung, künstlerischer Zwang.

[Spaltenumbruch]

Ernst Lissimcr gehört zu jenen, welche
dieses Neue in ihrem Werke nachhaltig und
kräftig betonen. Er begann mit dem schmalen
Buche "Der Acker" (Eugen Dietrichs, Jena,
br. 2 M., geb. 3 M.). Hier ist mock alles
knapp, energisch zusammengefaßt. Es herrscht
die Neigung zum Epigrammatischen. Klar,
fest, sicher wird hier gezeichnet. Diese Ein¬
fachheit aber ist ohne jede Pose und Auf¬
dringlichkeit. Die Erde gilt als das Symbol;
Arbeit, Schollenbruch wird mit bildhafter
Inbrunst gefeiert. Allen Dingen sieht der
Dichter ruhigen Auges ins Gesicht. Da sind
zwei kurze Strophen, "Brot" betitelt:

Auf meinem Tische steht ein Brot,
Wie rote Erde breit und rot.
Breit, rot; rot, breit.
Festgewordene Erntezeit.

Das ist das Äußerste an Konzentration;
einen Schreit weiter, und man ist beim ly¬
rischen Telegramm angelangt. "Geleit",
"Jubel", "Glück ist ein Feuer". "Herbst"
sind Impressionen voll innerer Kraft, alle
nur wenige knappe Zeilen umfassend.
Gesund und stark mutet uns dieser Dichter
an. Auch liedhafte Klänge sind ihm gelungen:
"Saat der Seele", "Sommernachmittag",
"Rückweg", "Turmuhren". -- Zu achtung¬
gebietender Höhe aber erhob er sich in dem
folgenden Buche "Der Strom" (Ders. Verlag,
br. 2.S0 M., geb. 3.50 M). Er hatte Wohl
erkannt, daß seine Art leicht zur Manier
ausarten könnte. Und er rang nach Größerem.
Gab er früher Radierungen, so malt er jetzt
in hellen, breiten Farben. Es wäre müßig,
einen ausführlichen Vergleich mit Verhaeren
zu ziehen. Ist des Belgiers Dichtung auch
umfassender, ekstatischer, spanischer, so ist
Lissauer realer, sachlicher. Es ist in der Tat
erstaunlich, zu welcher Weite er sich empor¬
geschwungen hal. Hier eben ist der freie
Vers mit Recht, aus Nötigung angewendet.
Wo immer man dieses Gedichtheft aufschlägt,
überall erstaunt man, überall ist man ge¬
fesselt. Die Uhren, die Ampeln, die Wecker,
die Türen, die Balkons, die Glocken -- alle
finden sie Deutung, alle offenbaren sie echt
dichterische Momente. Da ist ein kurzes Ge¬
dicht "Ferngespräch":

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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digste —, gaben im einzelnen manches
Lobenswerte und Schöne; wenn man aber
neue, unverlierbar starke Töne suchte, so fand
man nur (stofflich) Gewohntes, freilich immer
neu geworden durch die Individualität des
Schaffenden. Und so gern man Ludwig
Richters keusche, heimelige Kunst an stillen
Abenden auf sich wirken läßt, so darf man
doch nie vergessen, daß Menzels „Eiscnwalz-
werk" unseren? heutigen Leben reichern und
kräftigern Ausdruck verleiht. Denn es gilt
überall — auch in der Kunst —, vorwärts
zu schauen, die Formel zu finden für die
immer fortschreitende Entwicklung in Kultur
und Zivilisation. Was der Künstler gestaltet,
wird ein Neues und geht über in den Besitz
der genießenden Menge. Er ist der Ent¬
decker. Sein Leben fließt geheimnisvoll hin¬
über in der Dinge letzte Möglichkeiten. Und
es geschieht das Wundersame: er bildet sie
für alle übrigen, die sie noch nicht kennen
und begreifen. Der Künstler — das ist seines
Wesens innerste Bestimmung — schafft immer
nur sich selbst! Und indem er sein Werk so
menschlich, mit persönlicher Hingabe erfüllt,
macht er eS auch deu Vielen verständlich,
denen nur das Menschliche klar und deutlich
ist. Er ist der Mittler, das Medium; durch
ihn lernen die Blinden sehen und die Tauben
hören . . . Die Eisenbahn, der man einst
die Schändung der Landschaft zum Borwurf
machte, ist längst in ihrer Bedeutung für
Malerei und Poesie erkannt worden. Und
so lieb und traut uns EichendorA wald¬
frische Lieder auch in die Seele klingen,
Verhaerens kantige Verse, seine rauschenden
Hymnen bedeuten uns mehr für den Fort¬
schritt; sie sind ein Sieg des modernen
Europäers über das vielgestaltige, wechselnde
harte Leben unserer Tage. Und so wurde
auch die Form eine andere. Man begann,
dem immanenten Rhythmus der Dinge zu
lauschen. Die Verse waren nicht mehr ge¬
bannt und gezwungen in hergebrachte Formen;
man ließ sie sich selbst gestalten, man horchte
auf ihre natürliche Gesetzmäßigkeit. Die so¬
genannten freien Rhythmen gewannen Be¬
deutung und Anerkennung. Darin liegt nun
keineswegs Nachlässigkeit, wie manche noch
zu glauben geneigt sind, sondern innere
Nötigung, künstlerischer Zwang.

[Spaltenumbruch]

Ernst Lissimcr gehört zu jenen, welche
dieses Neue in ihrem Werke nachhaltig und
kräftig betonen. Er begann mit dem schmalen
Buche „Der Acker" (Eugen Dietrichs, Jena,
br. 2 M., geb. 3 M.). Hier ist mock alles
knapp, energisch zusammengefaßt. Es herrscht
die Neigung zum Epigrammatischen. Klar,
fest, sicher wird hier gezeichnet. Diese Ein¬
fachheit aber ist ohne jede Pose und Auf¬
dringlichkeit. Die Erde gilt als das Symbol;
Arbeit, Schollenbruch wird mit bildhafter
Inbrunst gefeiert. Allen Dingen sieht der
Dichter ruhigen Auges ins Gesicht. Da sind
zwei kurze Strophen, „Brot" betitelt:

Auf meinem Tische steht ein Brot,
Wie rote Erde breit und rot.
Breit, rot; rot, breit.
Festgewordene Erntezeit.

Das ist das Äußerste an Konzentration;
einen Schreit weiter, und man ist beim ly¬
rischen Telegramm angelangt. „Geleit",
„Jubel", „Glück ist ein Feuer". „Herbst"
sind Impressionen voll innerer Kraft, alle
nur wenige knappe Zeilen umfassend.
Gesund und stark mutet uns dieser Dichter
an. Auch liedhafte Klänge sind ihm gelungen:
„Saat der Seele", „Sommernachmittag",
„Rückweg", „Turmuhren". — Zu achtung¬
gebietender Höhe aber erhob er sich in dem
folgenden Buche „Der Strom" (Ders. Verlag,
br. 2.S0 M., geb. 3.50 M). Er hatte Wohl
erkannt, daß seine Art leicht zur Manier
ausarten könnte. Und er rang nach Größerem.
Gab er früher Radierungen, so malt er jetzt
in hellen, breiten Farben. Es wäre müßig,
einen ausführlichen Vergleich mit Verhaeren
zu ziehen. Ist des Belgiers Dichtung auch
umfassender, ekstatischer, spanischer, so ist
Lissauer realer, sachlicher. Es ist in der Tat
erstaunlich, zu welcher Weite er sich empor¬
geschwungen hal. Hier eben ist der freie
Vers mit Recht, aus Nötigung angewendet.
Wo immer man dieses Gedichtheft aufschlägt,
überall erstaunt man, überall ist man ge¬
fesselt. Die Uhren, die Ampeln, die Wecker,
die Türen, die Balkons, die Glocken — alle
finden sie Deutung, alle offenbaren sie echt
dichterische Momente. Da ist ein kurzes Ge¬
dicht „Ferngespräch":

[Ende Spaltensatz]
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[0307] Maßgebliches und Unmaßgebliches digste —, gaben im einzelnen manches Lobenswerte und Schöne; wenn man aber neue, unverlierbar starke Töne suchte, so fand man nur (stofflich) Gewohntes, freilich immer neu geworden durch die Individualität des Schaffenden. Und so gern man Ludwig Richters keusche, heimelige Kunst an stillen Abenden auf sich wirken läßt, so darf man doch nie vergessen, daß Menzels „Eiscnwalz- werk" unseren? heutigen Leben reichern und kräftigern Ausdruck verleiht. Denn es gilt überall — auch in der Kunst —, vorwärts zu schauen, die Formel zu finden für die immer fortschreitende Entwicklung in Kultur und Zivilisation. Was der Künstler gestaltet, wird ein Neues und geht über in den Besitz der genießenden Menge. Er ist der Ent¬ decker. Sein Leben fließt geheimnisvoll hin¬ über in der Dinge letzte Möglichkeiten. Und es geschieht das Wundersame: er bildet sie für alle übrigen, die sie noch nicht kennen und begreifen. Der Künstler — das ist seines Wesens innerste Bestimmung — schafft immer nur sich selbst! Und indem er sein Werk so menschlich, mit persönlicher Hingabe erfüllt, macht er eS auch deu Vielen verständlich, denen nur das Menschliche klar und deutlich ist. Er ist der Mittler, das Medium; durch ihn lernen die Blinden sehen und die Tauben hören . . . Die Eisenbahn, der man einst die Schändung der Landschaft zum Borwurf machte, ist längst in ihrer Bedeutung für Malerei und Poesie erkannt worden. Und so lieb und traut uns EichendorA wald¬ frische Lieder auch in die Seele klingen, Verhaerens kantige Verse, seine rauschenden Hymnen bedeuten uns mehr für den Fort¬ schritt; sie sind ein Sieg des modernen Europäers über das vielgestaltige, wechselnde harte Leben unserer Tage. Und so wurde auch die Form eine andere. Man begann, dem immanenten Rhythmus der Dinge zu lauschen. Die Verse waren nicht mehr ge¬ bannt und gezwungen in hergebrachte Formen; man ließ sie sich selbst gestalten, man horchte auf ihre natürliche Gesetzmäßigkeit. Die so¬ genannten freien Rhythmen gewannen Be¬ deutung und Anerkennung. Darin liegt nun keineswegs Nachlässigkeit, wie manche noch zu glauben geneigt sind, sondern innere Nötigung, künstlerischer Zwang. Ernst Lissimcr gehört zu jenen, welche dieses Neue in ihrem Werke nachhaltig und kräftig betonen. Er begann mit dem schmalen Buche „Der Acker" (Eugen Dietrichs, Jena, br. 2 M., geb. 3 M.). Hier ist mock alles knapp, energisch zusammengefaßt. Es herrscht die Neigung zum Epigrammatischen. Klar, fest, sicher wird hier gezeichnet. Diese Ein¬ fachheit aber ist ohne jede Pose und Auf¬ dringlichkeit. Die Erde gilt als das Symbol; Arbeit, Schollenbruch wird mit bildhafter Inbrunst gefeiert. Allen Dingen sieht der Dichter ruhigen Auges ins Gesicht. Da sind zwei kurze Strophen, „Brot" betitelt: Auf meinem Tische steht ein Brot, Wie rote Erde breit und rot. Breit, rot; rot, breit. Festgewordene Erntezeit. Das ist das Äußerste an Konzentration; einen Schreit weiter, und man ist beim ly¬ rischen Telegramm angelangt. „Geleit", „Jubel", „Glück ist ein Feuer". „Herbst" sind Impressionen voll innerer Kraft, alle nur wenige knappe Zeilen umfassend. Gesund und stark mutet uns dieser Dichter an. Auch liedhafte Klänge sind ihm gelungen: „Saat der Seele", „Sommernachmittag", „Rückweg", „Turmuhren". — Zu achtung¬ gebietender Höhe aber erhob er sich in dem folgenden Buche „Der Strom" (Ders. Verlag, br. 2.S0 M., geb. 3.50 M). Er hatte Wohl erkannt, daß seine Art leicht zur Manier ausarten könnte. Und er rang nach Größerem. Gab er früher Radierungen, so malt er jetzt in hellen, breiten Farben. Es wäre müßig, einen ausführlichen Vergleich mit Verhaeren zu ziehen. Ist des Belgiers Dichtung auch umfassender, ekstatischer, spanischer, so ist Lissauer realer, sachlicher. Es ist in der Tat erstaunlich, zu welcher Weite er sich empor¬ geschwungen hal. Hier eben ist der freie Vers mit Recht, aus Nötigung angewendet. Wo immer man dieses Gedichtheft aufschlägt, überall erstaunt man, überall ist man ge¬ fesselt. Die Uhren, die Ampeln, die Wecker, die Türen, die Balkons, die Glocken — alle finden sie Deutung, alle offenbaren sie echt dichterische Momente. Da ist ein kurzes Ge¬ dicht „Ferngespräch":

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/307>, abgerufen am 01.07.2024.