Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Politik und Wirtschaft

während der letzten vierzig Jahre vor Augen. Allenthalben zeigt sich eine ganz
außergewöhnliche Entwicklung. Kaum ein Gebiet der Volkswirtschaft, auf dem
wir nicht unsere Rivalen England und Frankreich weit hinter uns gelassen
hätten. Besonders tritt die starke Steigerung des Volksvermögens auffallend
in die Erscheinung. Deutschland ist längst das kapitalarme Land nicht mehr,
als welches es heute noch oft, namentlich von Stimmen des Auslandes, bezeichnet
wird. Die absolute Ziffer des Volksvermögens ist, soweit eine Schätzung möglich
ist, sicher nicht niedriger, sondern höher als die Frankreichs und nicht sehr ver¬
schieden von der Englands, die jährliche Zunahme (jetzt auf 4 Milliarden
geschätzt) ist größer als bei beiden. Die wirtschaftliche Entwicklung ist aber
nicht lediglich der Industrie zu danken, sondern in ganz hervorragendem Maße
auch der Landwirtschaft. Innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre ist
der Ernteertrag vom Hektar Landes in Deutschland prozentual bei allen Kultur¬
gewächsen um mehr als die Hälfte gestiegen, bei den wichtigsten in noch
stärkerem Maße, so bei Roggen um 73, bei Hafer um 80, bei Kartoffeln um
61 Prozent. Hier tritt greifbar die Folge der intensiverer Wirtschaft in Er¬
scheinung, welche nur durch die Zollpolitik des Reiches ermöglicht worden ist.
So gehört denn auch Deutschland trotz seiner industriellen Entwicklung noch zu
den Hauptagrarländern. Obwohl in der Beschaffenheit von Grund und Boden
von der Natur weniger begünstigt als andere Länder, hat Deutschland doch
infolge der gesteigerten Intensität der Betriebsweise, der Ausbildung wissen¬
schaftlicher Methoden, des Unterrichts- und Genossenschaftswesens glänzendere
Ernteergebnisse als irgendein anderes Land. Der Kaliverbrauch in Deutsch¬
land allein ist so hoch als der aller anderen Länder der Welt zusammen.
Tüchtigkeit und Fleiß haben auch in der Landwirtschaft uns ersetzt, was die
Natur versagte. Es kann nicht schaden, sich in kritischer Zeit zu vergegen¬
wärtigen, welche Kräfte in der Nation schlummern.




Der Reichsanzeiger hat ziemlich überraschend den Entwurf eines preußischen
Wohngesetzes veröffentlicht, nachdem kurz zuvor noch erhebliche Zweifel
bestanden, ob die Regierung dem Drängen nach gesetzlichem Eingreifen in der
Wohnungsfrage nachgeben werde und ob nicht vielmehr das Reich berufen sei.
die Lösung der Aufgabe in die Hgnd zu nehmen. Es ist hoch erfreulich, daß
in dieser wichtigen, zurzeit vielleicht wichtigsten Frage der Sozialpolitik endlich
ein entscheidender Schritt geschieht. Man mag in Einzelheiten mit der beab¬
sichtigten Regelung nicht einverstanden sein und manches anders oder besser
wünschen -- in der Hauptsache muss ungelenke Befriedigung darüber herrschen,
daß der Staat sich dazu aufrafft, mit besserer Aussicht auf Erfolg als vor neun
Jahren in das Wohnungswesen einzugreifen. Daß er sich dabei auf das Nötigste
beschränkt und sorgfältig auf die Schonung berechtigter Interessen bedacht ist.
wird man nur richtig finden. Auf der anderen Seite aber ist von Wichtigkeit,


Politik und Wirtschaft

während der letzten vierzig Jahre vor Augen. Allenthalben zeigt sich eine ganz
außergewöhnliche Entwicklung. Kaum ein Gebiet der Volkswirtschaft, auf dem
wir nicht unsere Rivalen England und Frankreich weit hinter uns gelassen
hätten. Besonders tritt die starke Steigerung des Volksvermögens auffallend
in die Erscheinung. Deutschland ist längst das kapitalarme Land nicht mehr,
als welches es heute noch oft, namentlich von Stimmen des Auslandes, bezeichnet
wird. Die absolute Ziffer des Volksvermögens ist, soweit eine Schätzung möglich
ist, sicher nicht niedriger, sondern höher als die Frankreichs und nicht sehr ver¬
schieden von der Englands, die jährliche Zunahme (jetzt auf 4 Milliarden
geschätzt) ist größer als bei beiden. Die wirtschaftliche Entwicklung ist aber
nicht lediglich der Industrie zu danken, sondern in ganz hervorragendem Maße
auch der Landwirtschaft. Innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre ist
der Ernteertrag vom Hektar Landes in Deutschland prozentual bei allen Kultur¬
gewächsen um mehr als die Hälfte gestiegen, bei den wichtigsten in noch
stärkerem Maße, so bei Roggen um 73, bei Hafer um 80, bei Kartoffeln um
61 Prozent. Hier tritt greifbar die Folge der intensiverer Wirtschaft in Er¬
scheinung, welche nur durch die Zollpolitik des Reiches ermöglicht worden ist.
So gehört denn auch Deutschland trotz seiner industriellen Entwicklung noch zu
den Hauptagrarländern. Obwohl in der Beschaffenheit von Grund und Boden
von der Natur weniger begünstigt als andere Länder, hat Deutschland doch
infolge der gesteigerten Intensität der Betriebsweise, der Ausbildung wissen¬
schaftlicher Methoden, des Unterrichts- und Genossenschaftswesens glänzendere
Ernteergebnisse als irgendein anderes Land. Der Kaliverbrauch in Deutsch¬
land allein ist so hoch als der aller anderen Länder der Welt zusammen.
Tüchtigkeit und Fleiß haben auch in der Landwirtschaft uns ersetzt, was die
Natur versagte. Es kann nicht schaden, sich in kritischer Zeit zu vergegen¬
wärtigen, welche Kräfte in der Nation schlummern.




Der Reichsanzeiger hat ziemlich überraschend den Entwurf eines preußischen
Wohngesetzes veröffentlicht, nachdem kurz zuvor noch erhebliche Zweifel
bestanden, ob die Regierung dem Drängen nach gesetzlichem Eingreifen in der
Wohnungsfrage nachgeben werde und ob nicht vielmehr das Reich berufen sei.
die Lösung der Aufgabe in die Hgnd zu nehmen. Es ist hoch erfreulich, daß
in dieser wichtigen, zurzeit vielleicht wichtigsten Frage der Sozialpolitik endlich
ein entscheidender Schritt geschieht. Man mag in Einzelheiten mit der beab¬
sichtigten Regelung nicht einverstanden sein und manches anders oder besser
wünschen — in der Hauptsache muss ungelenke Befriedigung darüber herrschen,
daß der Staat sich dazu aufrafft, mit besserer Aussicht auf Erfolg als vor neun
Jahren in das Wohnungswesen einzugreifen. Daß er sich dabei auf das Nötigste
beschränkt und sorgfältig auf die Schonung berechtigter Interessen bedacht ist.
wird man nur richtig finden. Auf der anderen Seite aber ist von Wichtigkeit,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0299" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325169"/>
          <fw type="header" place="top"> Politik und Wirtschaft</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1236" prev="#ID_1235"> während der letzten vierzig Jahre vor Augen. Allenthalben zeigt sich eine ganz<lb/>
außergewöhnliche Entwicklung. Kaum ein Gebiet der Volkswirtschaft, auf dem<lb/>
wir nicht unsere Rivalen England und Frankreich weit hinter uns gelassen<lb/>
hätten. Besonders tritt die starke Steigerung des Volksvermögens auffallend<lb/>
in die Erscheinung. Deutschland ist längst das kapitalarme Land nicht mehr,<lb/>
als welches es heute noch oft, namentlich von Stimmen des Auslandes, bezeichnet<lb/>
wird. Die absolute Ziffer des Volksvermögens ist, soweit eine Schätzung möglich<lb/>
ist, sicher nicht niedriger, sondern höher als die Frankreichs und nicht sehr ver¬<lb/>
schieden von der Englands, die jährliche Zunahme (jetzt auf 4 Milliarden<lb/>
geschätzt) ist größer als bei beiden. Die wirtschaftliche Entwicklung ist aber<lb/>
nicht lediglich der Industrie zu danken, sondern in ganz hervorragendem Maße<lb/>
auch der Landwirtschaft. Innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre ist<lb/>
der Ernteertrag vom Hektar Landes in Deutschland prozentual bei allen Kultur¬<lb/>
gewächsen um mehr als die Hälfte gestiegen, bei den wichtigsten in noch<lb/>
stärkerem Maße, so bei Roggen um 73, bei Hafer um 80, bei Kartoffeln um<lb/>
61 Prozent. Hier tritt greifbar die Folge der intensiverer Wirtschaft in Er¬<lb/>
scheinung, welche nur durch die Zollpolitik des Reiches ermöglicht worden ist.<lb/>
So gehört denn auch Deutschland trotz seiner industriellen Entwicklung noch zu<lb/>
den Hauptagrarländern. Obwohl in der Beschaffenheit von Grund und Boden<lb/>
von der Natur weniger begünstigt als andere Länder, hat Deutschland doch<lb/>
infolge der gesteigerten Intensität der Betriebsweise, der Ausbildung wissen¬<lb/>
schaftlicher Methoden, des Unterrichts- und Genossenschaftswesens glänzendere<lb/>
Ernteergebnisse als irgendein anderes Land. Der Kaliverbrauch in Deutsch¬<lb/>
land allein ist so hoch als der aller anderen Länder der Welt zusammen.<lb/>
Tüchtigkeit und Fleiß haben auch in der Landwirtschaft uns ersetzt, was die<lb/>
Natur versagte. Es kann nicht schaden, sich in kritischer Zeit zu vergegen¬<lb/>
wärtigen, welche Kräfte in der Nation schlummern.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1237" next="#ID_1238"> Der Reichsanzeiger hat ziemlich überraschend den Entwurf eines preußischen<lb/>
Wohngesetzes veröffentlicht, nachdem kurz zuvor noch erhebliche Zweifel<lb/>
bestanden, ob die Regierung dem Drängen nach gesetzlichem Eingreifen in der<lb/>
Wohnungsfrage nachgeben werde und ob nicht vielmehr das Reich berufen sei.<lb/>
die Lösung der Aufgabe in die Hgnd zu nehmen. Es ist hoch erfreulich, daß<lb/>
in dieser wichtigen, zurzeit vielleicht wichtigsten Frage der Sozialpolitik endlich<lb/>
ein entscheidender Schritt geschieht. Man mag in Einzelheiten mit der beab¬<lb/>
sichtigten Regelung nicht einverstanden sein und manches anders oder besser<lb/>
wünschen &#x2014; in der Hauptsache muss ungelenke Befriedigung darüber herrschen,<lb/>
daß der Staat sich dazu aufrafft, mit besserer Aussicht auf Erfolg als vor neun<lb/>
Jahren in das Wohnungswesen einzugreifen. Daß er sich dabei auf das Nötigste<lb/>
beschränkt und sorgfältig auf die Schonung berechtigter Interessen bedacht ist.<lb/>
wird man nur richtig finden. Auf der anderen Seite aber ist von Wichtigkeit,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0299] Politik und Wirtschaft während der letzten vierzig Jahre vor Augen. Allenthalben zeigt sich eine ganz außergewöhnliche Entwicklung. Kaum ein Gebiet der Volkswirtschaft, auf dem wir nicht unsere Rivalen England und Frankreich weit hinter uns gelassen hätten. Besonders tritt die starke Steigerung des Volksvermögens auffallend in die Erscheinung. Deutschland ist längst das kapitalarme Land nicht mehr, als welches es heute noch oft, namentlich von Stimmen des Auslandes, bezeichnet wird. Die absolute Ziffer des Volksvermögens ist, soweit eine Schätzung möglich ist, sicher nicht niedriger, sondern höher als die Frankreichs und nicht sehr ver¬ schieden von der Englands, die jährliche Zunahme (jetzt auf 4 Milliarden geschätzt) ist größer als bei beiden. Die wirtschaftliche Entwicklung ist aber nicht lediglich der Industrie zu danken, sondern in ganz hervorragendem Maße auch der Landwirtschaft. Innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre ist der Ernteertrag vom Hektar Landes in Deutschland prozentual bei allen Kultur¬ gewächsen um mehr als die Hälfte gestiegen, bei den wichtigsten in noch stärkerem Maße, so bei Roggen um 73, bei Hafer um 80, bei Kartoffeln um 61 Prozent. Hier tritt greifbar die Folge der intensiverer Wirtschaft in Er¬ scheinung, welche nur durch die Zollpolitik des Reiches ermöglicht worden ist. So gehört denn auch Deutschland trotz seiner industriellen Entwicklung noch zu den Hauptagrarländern. Obwohl in der Beschaffenheit von Grund und Boden von der Natur weniger begünstigt als andere Länder, hat Deutschland doch infolge der gesteigerten Intensität der Betriebsweise, der Ausbildung wissen¬ schaftlicher Methoden, des Unterrichts- und Genossenschaftswesens glänzendere Ernteergebnisse als irgendein anderes Land. Der Kaliverbrauch in Deutsch¬ land allein ist so hoch als der aller anderen Länder der Welt zusammen. Tüchtigkeit und Fleiß haben auch in der Landwirtschaft uns ersetzt, was die Natur versagte. Es kann nicht schaden, sich in kritischer Zeit zu vergegen¬ wärtigen, welche Kräfte in der Nation schlummern. Der Reichsanzeiger hat ziemlich überraschend den Entwurf eines preußischen Wohngesetzes veröffentlicht, nachdem kurz zuvor noch erhebliche Zweifel bestanden, ob die Regierung dem Drängen nach gesetzlichem Eingreifen in der Wohnungsfrage nachgeben werde und ob nicht vielmehr das Reich berufen sei. die Lösung der Aufgabe in die Hgnd zu nehmen. Es ist hoch erfreulich, daß in dieser wichtigen, zurzeit vielleicht wichtigsten Frage der Sozialpolitik endlich ein entscheidender Schritt geschieht. Man mag in Einzelheiten mit der beab¬ sichtigten Regelung nicht einverstanden sein und manches anders oder besser wünschen — in der Hauptsache muss ungelenke Befriedigung darüber herrschen, daß der Staat sich dazu aufrafft, mit besserer Aussicht auf Erfolg als vor neun Jahren in das Wohnungswesen einzugreifen. Daß er sich dabei auf das Nötigste beschränkt und sorgfältig auf die Schonung berechtigter Interessen bedacht ist. wird man nur richtig finden. Auf der anderen Seite aber ist von Wichtigkeit,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/299
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/299>, abgerufen am 25.08.2024.