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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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das Ausmaß des vaterländischen Bodens im richtigen Verhältnis zur Kopfzahl
der Bevölkerung steht, und das ist im neuen Reiche je länger desto weniger
der Fall. Zudem scheint mir dieses Reich schon nach dem Bilde, das die
Landkarte darbietet, eine geographische, militärische und volkswirtschaftliche
Ungeheuerlichkeit zu sein, die unerträglich wird, wenn man bedenkt, daß auf
dem zur nächsten Abrundung erforderlichen herausgeschnittenen Stück (Böhmen,
Mähren und Alpenländer) zwölf Millionen Deutsche wohnen. Ich empfahl
deshalb nicht bloß die Wiederanheilung des großen amputierten Gliedes, sondern
auch die Kolonisation oder wenigstens wirtschaftliche Entwicklung der Balkan¬
länder und Vorderasiens durch Deutsche.

Ein paar Jahre hindurch fiel mir in den Grenzboten so etwas wie eine
Art Ioacksi-8lip zu. Aber die "Hochzeitsreise" Bismarcks nach Wien im Juni
1892, seine Aussöhnung mit dem Kaiser und der Sturz Caprivis wendeten das
Blatt. Die maßgebenden Kreise brauchten sich nicht länger Zwang anzutun,
und sowohl in der auswärtigen Politik wie in der Behandlung der Arbeiter¬
fragen gewann die Richtung Bismarcks und der Magnaten die Oberhand, und
Grunow, der mir wohl auch aus persönlicher Überzeugung nicht in allem so
ganz beigestimmt hatte, sah sich durch die Rücksicht auf seine Leser und auf die
älteren Mitarbeiter genötigt, die Schwenkung mitzumachen. Zu unseren
Differenzpunkten gehörte auch die Polenfrage, in der ich sofort den Standpunkt
Delbrücks eingenommen habe, lange ehe ich von Delbrück etwas gelesen hatte;
doch wurde ich durch diese Wendung nicht aus den Grenzboten hinausgedrängt.
Grunow sympathisierte mit meiner gesamten Weltanschauung und Lebensauf¬
fassung, und schätzte, ebenso wie Wnstmann, meine Beiträge auch ihrer Form
wegen. Es gab noch genug Themata, die ich ohne Gefahr vor Zusammen¬
stößen behandeln konnte. Ich berichtete objektiv über literarische und tatsächliche
Erscheinungen auf dem politischen, sozialen und volkswirtschaftlichen Gebiete,
und pflegte auch andere Wissensgebiete. Mit Geschichte und Philosophie hatte
ich mich imnier viel beschäftigt, so entstand denn bald eine Reihe von Auf¬
sätzen, die in Buchform unter dem Titel "Geschichtsphilosophische Gedanken"
erschienen sind. Und unter den neuen philosophischen Richtungen erregte die
naturphilosophische meine lebhafteste Teilnahme. E. von Hartmanns kleines
Buch "Wahrheit und Irrtum im Darwinismus" hatte mir den Kern der
biologischen Frage enthüllt (die Forschungsergebnisse der letzten Jahre beweisen,
daß Hartmann der Auffassung Darwins zu große Zugeständnisse gemacht hat;
der Modus der Entwicklung, wie ihn Darwin beschreibt, ist ja wohl von der
überwiegenden Mehrheit der Biologen aufgegeben, aber die neuesten Petrefakten-
forschungen stellen auch die Entwicklung selbst, die Umbildung einer Art in die
andere, in Frage), und schon gleich im Herbst 1889 veröffentlichte ich eine
Artikelreihe über Darwin, den ich mit Buckle in Parallele stellte. Seitdem
habe ich über die weitere Entwicklung der Biologie berichtet, besonders auch
die Versuche, die Biologie für die Staatswissenschaften zu verwerten, kritisiert,


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das Ausmaß des vaterländischen Bodens im richtigen Verhältnis zur Kopfzahl
der Bevölkerung steht, und das ist im neuen Reiche je länger desto weniger
der Fall. Zudem scheint mir dieses Reich schon nach dem Bilde, das die
Landkarte darbietet, eine geographische, militärische und volkswirtschaftliche
Ungeheuerlichkeit zu sein, die unerträglich wird, wenn man bedenkt, daß auf
dem zur nächsten Abrundung erforderlichen herausgeschnittenen Stück (Böhmen,
Mähren und Alpenländer) zwölf Millionen Deutsche wohnen. Ich empfahl
deshalb nicht bloß die Wiederanheilung des großen amputierten Gliedes, sondern
auch die Kolonisation oder wenigstens wirtschaftliche Entwicklung der Balkan¬
länder und Vorderasiens durch Deutsche.

Ein paar Jahre hindurch fiel mir in den Grenzboten so etwas wie eine
Art Ioacksi-8lip zu. Aber die „Hochzeitsreise" Bismarcks nach Wien im Juni
1892, seine Aussöhnung mit dem Kaiser und der Sturz Caprivis wendeten das
Blatt. Die maßgebenden Kreise brauchten sich nicht länger Zwang anzutun,
und sowohl in der auswärtigen Politik wie in der Behandlung der Arbeiter¬
fragen gewann die Richtung Bismarcks und der Magnaten die Oberhand, und
Grunow, der mir wohl auch aus persönlicher Überzeugung nicht in allem so
ganz beigestimmt hatte, sah sich durch die Rücksicht auf seine Leser und auf die
älteren Mitarbeiter genötigt, die Schwenkung mitzumachen. Zu unseren
Differenzpunkten gehörte auch die Polenfrage, in der ich sofort den Standpunkt
Delbrücks eingenommen habe, lange ehe ich von Delbrück etwas gelesen hatte;
doch wurde ich durch diese Wendung nicht aus den Grenzboten hinausgedrängt.
Grunow sympathisierte mit meiner gesamten Weltanschauung und Lebensauf¬
fassung, und schätzte, ebenso wie Wnstmann, meine Beiträge auch ihrer Form
wegen. Es gab noch genug Themata, die ich ohne Gefahr vor Zusammen¬
stößen behandeln konnte. Ich berichtete objektiv über literarische und tatsächliche
Erscheinungen auf dem politischen, sozialen und volkswirtschaftlichen Gebiete,
und pflegte auch andere Wissensgebiete. Mit Geschichte und Philosophie hatte
ich mich imnier viel beschäftigt, so entstand denn bald eine Reihe von Auf¬
sätzen, die in Buchform unter dem Titel „Geschichtsphilosophische Gedanken"
erschienen sind. Und unter den neuen philosophischen Richtungen erregte die
naturphilosophische meine lebhafteste Teilnahme. E. von Hartmanns kleines
Buch „Wahrheit und Irrtum im Darwinismus" hatte mir den Kern der
biologischen Frage enthüllt (die Forschungsergebnisse der letzten Jahre beweisen,
daß Hartmann der Auffassung Darwins zu große Zugeständnisse gemacht hat;
der Modus der Entwicklung, wie ihn Darwin beschreibt, ist ja wohl von der
überwiegenden Mehrheit der Biologen aufgegeben, aber die neuesten Petrefakten-
forschungen stellen auch die Entwicklung selbst, die Umbildung einer Art in die
andere, in Frage), und schon gleich im Herbst 1889 veröffentlichte ich eine
Artikelreihe über Darwin, den ich mit Buckle in Parallele stellte. Seitdem
habe ich über die weitere Entwicklung der Biologie berichtet, besonders auch
die Versuche, die Biologie für die Staatswissenschaften zu verwerten, kritisiert,


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[0268] Carl Ientsch das Ausmaß des vaterländischen Bodens im richtigen Verhältnis zur Kopfzahl der Bevölkerung steht, und das ist im neuen Reiche je länger desto weniger der Fall. Zudem scheint mir dieses Reich schon nach dem Bilde, das die Landkarte darbietet, eine geographische, militärische und volkswirtschaftliche Ungeheuerlichkeit zu sein, die unerträglich wird, wenn man bedenkt, daß auf dem zur nächsten Abrundung erforderlichen herausgeschnittenen Stück (Böhmen, Mähren und Alpenländer) zwölf Millionen Deutsche wohnen. Ich empfahl deshalb nicht bloß die Wiederanheilung des großen amputierten Gliedes, sondern auch die Kolonisation oder wenigstens wirtschaftliche Entwicklung der Balkan¬ länder und Vorderasiens durch Deutsche. Ein paar Jahre hindurch fiel mir in den Grenzboten so etwas wie eine Art Ioacksi-8lip zu. Aber die „Hochzeitsreise" Bismarcks nach Wien im Juni 1892, seine Aussöhnung mit dem Kaiser und der Sturz Caprivis wendeten das Blatt. Die maßgebenden Kreise brauchten sich nicht länger Zwang anzutun, und sowohl in der auswärtigen Politik wie in der Behandlung der Arbeiter¬ fragen gewann die Richtung Bismarcks und der Magnaten die Oberhand, und Grunow, der mir wohl auch aus persönlicher Überzeugung nicht in allem so ganz beigestimmt hatte, sah sich durch die Rücksicht auf seine Leser und auf die älteren Mitarbeiter genötigt, die Schwenkung mitzumachen. Zu unseren Differenzpunkten gehörte auch die Polenfrage, in der ich sofort den Standpunkt Delbrücks eingenommen habe, lange ehe ich von Delbrück etwas gelesen hatte; doch wurde ich durch diese Wendung nicht aus den Grenzboten hinausgedrängt. Grunow sympathisierte mit meiner gesamten Weltanschauung und Lebensauf¬ fassung, und schätzte, ebenso wie Wnstmann, meine Beiträge auch ihrer Form wegen. Es gab noch genug Themata, die ich ohne Gefahr vor Zusammen¬ stößen behandeln konnte. Ich berichtete objektiv über literarische und tatsächliche Erscheinungen auf dem politischen, sozialen und volkswirtschaftlichen Gebiete, und pflegte auch andere Wissensgebiete. Mit Geschichte und Philosophie hatte ich mich imnier viel beschäftigt, so entstand denn bald eine Reihe von Auf¬ sätzen, die in Buchform unter dem Titel „Geschichtsphilosophische Gedanken" erschienen sind. Und unter den neuen philosophischen Richtungen erregte die naturphilosophische meine lebhafteste Teilnahme. E. von Hartmanns kleines Buch „Wahrheit und Irrtum im Darwinismus" hatte mir den Kern der biologischen Frage enthüllt (die Forschungsergebnisse der letzten Jahre beweisen, daß Hartmann der Auffassung Darwins zu große Zugeständnisse gemacht hat; der Modus der Entwicklung, wie ihn Darwin beschreibt, ist ja wohl von der überwiegenden Mehrheit der Biologen aufgegeben, aber die neuesten Petrefakten- forschungen stellen auch die Entwicklung selbst, die Umbildung einer Art in die andere, in Frage), und schon gleich im Herbst 1889 veröffentlichte ich eine Artikelreihe über Darwin, den ich mit Buckle in Parallele stellte. Seitdem habe ich über die weitere Entwicklung der Biologie berichtet, besonders auch die Versuche, die Biologie für die Staatswissenschaften zu verwerten, kritisiert,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/268>, abgerufen am 22.12.2024.