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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Carl Ionisch

verständlichen Voraussetzung, daß ich immer etwas Vernünftiges und Nützliches
zu sagen haben würde. Aber bald fand sich ein Ziel nach dem anderen. Die
Leiden der Armut hatte ich aus nächster Nähe kennen gelernt, und gerade
damals waren diese Leiden der Gegenstand öffentlicher Erörterung und die
Ursache stürmischer Erregung. Die 1893 eingetretene Depression hatte ihren
Höhepunkt erreicht, Versammlungen und Aufzüge von Arbeitslosen wurden von
der Polizei auseinandergetrieben, der Kaiser schlug den sozialen Kurs ein, und
Bismarck, der nicht einlenken wollte, mußte gehen. "Sozial" war modern,
und arbeiterfreundliche Betrachtungen wurden in konservativen wie in liberalen
Revuen von den Redakteuren wie von den Lesern, wenn auch nicht gerade
gern gesehen, so doch geduldet.

Soziale Fragen lassen sich nur in innigster Verbindung mit volkswirt¬
schaftlichen behandeln. Einige nationalökonomische Werke hatte ich schon studiert,
und Grunow versorgte mich reichlich mit Rezensionsexemplaren (unter denen
auch teure mehrbändige Werke waren, wie z. B. das Handwörterbuch der Staats¬
wissenschaften) und setzte mich so in den Stand, die Lücken meiner Kenntnisse
auszufüllen. Mit der Breslauer Universitätsbibliothek stand ich feit Jahren
in regelmäßigem Verkehr; ab und zu half die Königliche Bibliothek in Berlin
aus. So vermochte ich denn mit der Entwicklung der Wissenschaften -- nicht
der ökonomischen allein -- einigermaßen Schritt zu halten. Bei der Formation
meiner volkswirtschaftlichen Überzeugung wirkte die Liebe zum Mittelalter ein,
mit den: ich mich viele Jahre hindurch beschäftigt hatte, und so bildeten sich
die Grundzüge der Ansicht heraus, die ich zuerst 1893 in "Weder Kommunismus
noch Kapitalismus" ausgeführt habe. Ich erkenne an, daß der kapitalistische
Großbetrieb notwendig ist und Segen stiftet, halte aber die Entwicklung zum
reinen Industrie- und Handelsstaat und die Verwandlung eines ganzes Volkes
in ein Heer von Lohnarbeitern, die im Dienste von verhältnismäßig wenigen
Kapitalisten stehen, für verderblich. Glaube vielmehr, daß der Großbetrieb
auf eine bestimmte Anzahl von Gewerben beschränkt bleiben könne und solle,
daß neben diesen eine Menge von Kleingewerben lebensfähig bleiben können,
vor allem aber die Landwirtschaft blühen und das Volk- mit Nahrungsmitteln
versehen müsse, weil die Abhängigkeit der Volksernährung vom Auslande ge¬
fährlich, der Bauernstand aber, als der für die leibliche wie für die seelische
Gesundheit zuträglichste, der Jungbrunnen der Volkskraft ist. Die Weltbegeben.
selten der letzten Jahre haben mich in meiner "rückständigen Ideologie", in
der für die Sozialdemokratie kein Platz bleibt, befestigt. Sollten wir uns
tatsächlich zu einem Volke von Lohnarbeitern entwickeln (nach Potthoff sind wir
schon ein solches), dann würde die Herrschaft der Sozialdemokratie unvermeidlich
und nur durch eine Militärdiktatur zu brechen sein. Ein Gleichgewicht zwischen
Urproduktion und Verarbeitungsgewerben, zwischen den selbständigen kleinen
Unternehmern und der Lohnarbeiterschaft, das allein die Gesundheit des Volks-
körpers zu verbürgen vermag, scheint mir aber nur erreichbar zu sein, wenn


Carl Ionisch

verständlichen Voraussetzung, daß ich immer etwas Vernünftiges und Nützliches
zu sagen haben würde. Aber bald fand sich ein Ziel nach dem anderen. Die
Leiden der Armut hatte ich aus nächster Nähe kennen gelernt, und gerade
damals waren diese Leiden der Gegenstand öffentlicher Erörterung und die
Ursache stürmischer Erregung. Die 1893 eingetretene Depression hatte ihren
Höhepunkt erreicht, Versammlungen und Aufzüge von Arbeitslosen wurden von
der Polizei auseinandergetrieben, der Kaiser schlug den sozialen Kurs ein, und
Bismarck, der nicht einlenken wollte, mußte gehen. „Sozial" war modern,
und arbeiterfreundliche Betrachtungen wurden in konservativen wie in liberalen
Revuen von den Redakteuren wie von den Lesern, wenn auch nicht gerade
gern gesehen, so doch geduldet.

Soziale Fragen lassen sich nur in innigster Verbindung mit volkswirt¬
schaftlichen behandeln. Einige nationalökonomische Werke hatte ich schon studiert,
und Grunow versorgte mich reichlich mit Rezensionsexemplaren (unter denen
auch teure mehrbändige Werke waren, wie z. B. das Handwörterbuch der Staats¬
wissenschaften) und setzte mich so in den Stand, die Lücken meiner Kenntnisse
auszufüllen. Mit der Breslauer Universitätsbibliothek stand ich feit Jahren
in regelmäßigem Verkehr; ab und zu half die Königliche Bibliothek in Berlin
aus. So vermochte ich denn mit der Entwicklung der Wissenschaften — nicht
der ökonomischen allein — einigermaßen Schritt zu halten. Bei der Formation
meiner volkswirtschaftlichen Überzeugung wirkte die Liebe zum Mittelalter ein,
mit den: ich mich viele Jahre hindurch beschäftigt hatte, und so bildeten sich
die Grundzüge der Ansicht heraus, die ich zuerst 1893 in „Weder Kommunismus
noch Kapitalismus" ausgeführt habe. Ich erkenne an, daß der kapitalistische
Großbetrieb notwendig ist und Segen stiftet, halte aber die Entwicklung zum
reinen Industrie- und Handelsstaat und die Verwandlung eines ganzes Volkes
in ein Heer von Lohnarbeitern, die im Dienste von verhältnismäßig wenigen
Kapitalisten stehen, für verderblich. Glaube vielmehr, daß der Großbetrieb
auf eine bestimmte Anzahl von Gewerben beschränkt bleiben könne und solle,
daß neben diesen eine Menge von Kleingewerben lebensfähig bleiben können,
vor allem aber die Landwirtschaft blühen und das Volk- mit Nahrungsmitteln
versehen müsse, weil die Abhängigkeit der Volksernährung vom Auslande ge¬
fährlich, der Bauernstand aber, als der für die leibliche wie für die seelische
Gesundheit zuträglichste, der Jungbrunnen der Volkskraft ist. Die Weltbegeben.
selten der letzten Jahre haben mich in meiner „rückständigen Ideologie", in
der für die Sozialdemokratie kein Platz bleibt, befestigt. Sollten wir uns
tatsächlich zu einem Volke von Lohnarbeitern entwickeln (nach Potthoff sind wir
schon ein solches), dann würde die Herrschaft der Sozialdemokratie unvermeidlich
und nur durch eine Militärdiktatur zu brechen sein. Ein Gleichgewicht zwischen
Urproduktion und Verarbeitungsgewerben, zwischen den selbständigen kleinen
Unternehmern und der Lohnarbeiterschaft, das allein die Gesundheit des Volks-
körpers zu verbürgen vermag, scheint mir aber nur erreichbar zu sein, wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/267>, abgerufen am 01.07.2024.