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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Vincent van Gogh

farbiges Lieblingsthema, vielleicht von großen Elementen aufgegeben. Die
Sonne und den Sternenhimmel hat er immer zu malen ersehnt. Nun, die
Sonne hat er uns gegeben. Sein Gelb wird allmählich ein Konzert vom hellsten
durchsichtigsten Gelb bis in das grimmige alte Gold von verrosteten Eisen.
Sein Blau dagegen strebt zu einer reinen azurnen Pracht. Und oft ist es so,
daß es uns ganz in seinen leuchtenden Abgrund ziehen kann. Dieses Blau,
wie es sich über "sein Haus in Arles" wölbt, wie er es manchem blonden
Porträt als Hintergrund gab -- es ist dasselbe, was uns oft in der Natur
zu einem Schrei des Entzückens erregt. Es ist der Jubel der van Gogschen
Palette.

Diese beiden Farben, oft pastos und breit, braucht er immer nur da, wo
er einzelne elementare Dinge sehr stark, sehr einzelbedeutsam ausdrücken will.
Dies Einzelbedeutsame bei ihm ist aber nur die Notwendigkeit zu der Wucht,
mit der er ein Bild erlebt und es darstellen will. Etwas Relatives zum Ganzen.
Denn es gibt nichts Gleichgültiges bei ihm. Alle seine Bilder sind Zeugungen
aus großen innigen Notwendigkeiten. Und die Wucht eines jeglichen verträgt
den Ausschnitt. Ein Stuhl, einige Blumen, ein Paar Schuhe, der Mäher, der
im singenden Gold der Sonne und der Ähren schafft unter schattenlosen,
blauem Himmel..... Er hat die andeute braune Erde gemalt, mit starken
weißen Wolken wie Lampen darüber. Das "Getreidefeld" mit leidenschaftlichen
Wolkengebilden, die dennoch nicht vom Ganzen abziehen; das Feld darunter
glüht und reift in seinem brennenden Gelb. Man entdeckt immer neue einzelne
Kostbarkeiten bei ihm, ohne daß diese je den ersten Eindruck beeinträchtigen,
die Harmonie eines Ganzen zerreißen. Immer mehr wird ihm die Farbe zur
Materie; er drückt sie plastisch dick auf, drückt ganze Gärten und Bäume damit
aus dem Boden. Die "Felsschluchten", die er so gemalt hat, sind unheimlich,
sie sind nicht nnr ein Stück Natur, sie sind ein Stück Grauen dieser Art
Natur. Man muß sie in einem sehr besonderen, nicht zu Hellem Licht sehen.
Man steht fassungslos vor dem "Feld mit Mohnblumen". Das ist nicht nur
eine prachtvolle Malerei, das sind alle Farben einer blühenden Welt, ver¬
wirrend in ihrem Reichtum und doch künstlerisch bewältigt. Man sehe den
Frühlingshimmel in Daubignys Garten, den Abendhimmel in den "Schiffs¬
arbeitern". Und nach diesen farbigen Dingen, die man Ereignisse nennen
könnte, gehe man zu den Bildern, die vornehmlich geistige Werte zeigen, bei
denen die Farbe scheinbar zurückhaltend ist. Da sind vor allem die zahlreichen
Selbstporträts, darunter das mit dem Strohhut. Gespannt, eindringlich und
tragisch-groß, verrät sich darin alles. Der alte Achtundvierziger, "Briefträger",
der einzige Mensch, den van Gogh in seiner Einsamkeit oft sah. Man fühlt
vor diesem Antlitz, wie oft dieser Mann von dem Maler erlebt wurde. Aber
genug der einzelnen Hinweise, die nicht so viel nützen können, als etwa einzelne
charakterisierende Formeln, die zu diesem Maler führen möchten. Den Reichtum,
der diesem Künstler ans allen Taschen hängt, wird bewundern, wer einmal ihm


Vincent van Gogh

farbiges Lieblingsthema, vielleicht von großen Elementen aufgegeben. Die
Sonne und den Sternenhimmel hat er immer zu malen ersehnt. Nun, die
Sonne hat er uns gegeben. Sein Gelb wird allmählich ein Konzert vom hellsten
durchsichtigsten Gelb bis in das grimmige alte Gold von verrosteten Eisen.
Sein Blau dagegen strebt zu einer reinen azurnen Pracht. Und oft ist es so,
daß es uns ganz in seinen leuchtenden Abgrund ziehen kann. Dieses Blau,
wie es sich über „sein Haus in Arles" wölbt, wie er es manchem blonden
Porträt als Hintergrund gab — es ist dasselbe, was uns oft in der Natur
zu einem Schrei des Entzückens erregt. Es ist der Jubel der van Gogschen
Palette.

Diese beiden Farben, oft pastos und breit, braucht er immer nur da, wo
er einzelne elementare Dinge sehr stark, sehr einzelbedeutsam ausdrücken will.
Dies Einzelbedeutsame bei ihm ist aber nur die Notwendigkeit zu der Wucht,
mit der er ein Bild erlebt und es darstellen will. Etwas Relatives zum Ganzen.
Denn es gibt nichts Gleichgültiges bei ihm. Alle seine Bilder sind Zeugungen
aus großen innigen Notwendigkeiten. Und die Wucht eines jeglichen verträgt
den Ausschnitt. Ein Stuhl, einige Blumen, ein Paar Schuhe, der Mäher, der
im singenden Gold der Sonne und der Ähren schafft unter schattenlosen,
blauem Himmel..... Er hat die andeute braune Erde gemalt, mit starken
weißen Wolken wie Lampen darüber. Das „Getreidefeld" mit leidenschaftlichen
Wolkengebilden, die dennoch nicht vom Ganzen abziehen; das Feld darunter
glüht und reift in seinem brennenden Gelb. Man entdeckt immer neue einzelne
Kostbarkeiten bei ihm, ohne daß diese je den ersten Eindruck beeinträchtigen,
die Harmonie eines Ganzen zerreißen. Immer mehr wird ihm die Farbe zur
Materie; er drückt sie plastisch dick auf, drückt ganze Gärten und Bäume damit
aus dem Boden. Die „Felsschluchten", die er so gemalt hat, sind unheimlich,
sie sind nicht nnr ein Stück Natur, sie sind ein Stück Grauen dieser Art
Natur. Man muß sie in einem sehr besonderen, nicht zu Hellem Licht sehen.
Man steht fassungslos vor dem „Feld mit Mohnblumen". Das ist nicht nur
eine prachtvolle Malerei, das sind alle Farben einer blühenden Welt, ver¬
wirrend in ihrem Reichtum und doch künstlerisch bewältigt. Man sehe den
Frühlingshimmel in Daubignys Garten, den Abendhimmel in den „Schiffs¬
arbeitern". Und nach diesen farbigen Dingen, die man Ereignisse nennen
könnte, gehe man zu den Bildern, die vornehmlich geistige Werte zeigen, bei
denen die Farbe scheinbar zurückhaltend ist. Da sind vor allem die zahlreichen
Selbstporträts, darunter das mit dem Strohhut. Gespannt, eindringlich und
tragisch-groß, verrät sich darin alles. Der alte Achtundvierziger, „Briefträger",
der einzige Mensch, den van Gogh in seiner Einsamkeit oft sah. Man fühlt
vor diesem Antlitz, wie oft dieser Mann von dem Maler erlebt wurde. Aber
genug der einzelnen Hinweise, die nicht so viel nützen können, als etwa einzelne
charakterisierende Formeln, die zu diesem Maler führen möchten. Den Reichtum,
der diesem Künstler ans allen Taschen hängt, wird bewundern, wer einmal ihm


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[0254] Vincent van Gogh farbiges Lieblingsthema, vielleicht von großen Elementen aufgegeben. Die Sonne und den Sternenhimmel hat er immer zu malen ersehnt. Nun, die Sonne hat er uns gegeben. Sein Gelb wird allmählich ein Konzert vom hellsten durchsichtigsten Gelb bis in das grimmige alte Gold von verrosteten Eisen. Sein Blau dagegen strebt zu einer reinen azurnen Pracht. Und oft ist es so, daß es uns ganz in seinen leuchtenden Abgrund ziehen kann. Dieses Blau, wie es sich über „sein Haus in Arles" wölbt, wie er es manchem blonden Porträt als Hintergrund gab — es ist dasselbe, was uns oft in der Natur zu einem Schrei des Entzückens erregt. Es ist der Jubel der van Gogschen Palette. Diese beiden Farben, oft pastos und breit, braucht er immer nur da, wo er einzelne elementare Dinge sehr stark, sehr einzelbedeutsam ausdrücken will. Dies Einzelbedeutsame bei ihm ist aber nur die Notwendigkeit zu der Wucht, mit der er ein Bild erlebt und es darstellen will. Etwas Relatives zum Ganzen. Denn es gibt nichts Gleichgültiges bei ihm. Alle seine Bilder sind Zeugungen aus großen innigen Notwendigkeiten. Und die Wucht eines jeglichen verträgt den Ausschnitt. Ein Stuhl, einige Blumen, ein Paar Schuhe, der Mäher, der im singenden Gold der Sonne und der Ähren schafft unter schattenlosen, blauem Himmel..... Er hat die andeute braune Erde gemalt, mit starken weißen Wolken wie Lampen darüber. Das „Getreidefeld" mit leidenschaftlichen Wolkengebilden, die dennoch nicht vom Ganzen abziehen; das Feld darunter glüht und reift in seinem brennenden Gelb. Man entdeckt immer neue einzelne Kostbarkeiten bei ihm, ohne daß diese je den ersten Eindruck beeinträchtigen, die Harmonie eines Ganzen zerreißen. Immer mehr wird ihm die Farbe zur Materie; er drückt sie plastisch dick auf, drückt ganze Gärten und Bäume damit aus dem Boden. Die „Felsschluchten", die er so gemalt hat, sind unheimlich, sie sind nicht nnr ein Stück Natur, sie sind ein Stück Grauen dieser Art Natur. Man muß sie in einem sehr besonderen, nicht zu Hellem Licht sehen. Man steht fassungslos vor dem „Feld mit Mohnblumen". Das ist nicht nur eine prachtvolle Malerei, das sind alle Farben einer blühenden Welt, ver¬ wirrend in ihrem Reichtum und doch künstlerisch bewältigt. Man sehe den Frühlingshimmel in Daubignys Garten, den Abendhimmel in den „Schiffs¬ arbeitern". Und nach diesen farbigen Dingen, die man Ereignisse nennen könnte, gehe man zu den Bildern, die vornehmlich geistige Werte zeigen, bei denen die Farbe scheinbar zurückhaltend ist. Da sind vor allem die zahlreichen Selbstporträts, darunter das mit dem Strohhut. Gespannt, eindringlich und tragisch-groß, verrät sich darin alles. Der alte Achtundvierziger, „Briefträger", der einzige Mensch, den van Gogh in seiner Einsamkeit oft sah. Man fühlt vor diesem Antlitz, wie oft dieser Mann von dem Maler erlebt wurde. Aber genug der einzelnen Hinweise, die nicht so viel nützen können, als etwa einzelne charakterisierende Formeln, die zu diesem Maler führen möchten. Den Reichtum, der diesem Künstler ans allen Taschen hängt, wird bewundern, wer einmal ihm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/254>, abgerufen am 22.12.2024.