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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Vincent van Gogh

Aber nicht nur die Erscheinung der Natur schlechthin ist belauscht -- man
nehme dies mit vor van Goghs Bildern --> auch das Fassungslose: ihre
erregende Gebärde. Wie sie ihn erregte, durchglühte und oft bis zum Schmerz
erschütterte, so hat er sie gemalt, von ihr wiedergesagt. Die Zärtlichkeit seiner
empfindenden, sich entzückenden Augen umfaßt alles. Nicht nur Himmel
und Abgründe und Weiten dazwischen, auch die Menschen der Erde, ihre
Scherben und Töpfe, ihre Blumen und Schwielen, ihre Beschränkung und
Heiligkeit. Vor allem ist es der Bauer und Arbeiter, den er in der Natur
zeigen will, aber den Bauer und Arbeiter, wie er gräbt und schafft in voller
Mühsal, in der schweigenden Wucht der Gebärde, ganz wahr und auch ganz
groß. Nicht aus einer ethischen Idee heraus, sondern aus unbekümmerter,
intellektueller Anschauung dessen, was ist, und daß dieser Rhythmus der Mühsal
und Ruhe, der im Einklang steht mit der Natur selbst, etwas Heroisches und
Beherrschendes trotz alledem hat. Sie darin zu zeigen, war van Goghs Wille,
und wenn es uns manchmal wie Zauberei dünkt, diese Absicht für überzeugend
gelungen zu sehen, so denke man an den grabenden Fleiß dieses Malers selbst,
der mit einer Hartnäckigkeit ohne gleichen Dinge mehrere Male, "hundertmal",
wie er sagte, dieselben Dinge hintereinander zeichnete. Man sehe die "Hand¬
studien" van Goghs. Das ist die elegante Gründlichkeit der Alten. Die ruhige
durchgearbeitete Vollkommenheit, die er bei anderen so liebte. Das sieht man
auch an den Zeichnungen des (in der Farbe prachtvollen) Stillebens: "der Kaffee¬
kanne, Milchtöpfe. Tassen, einigen Früchten auf blauem Tischtuch gegen gelben
Hintergrund." Wie da alles steht, sicher, kräftig, großartig, schlicht.

Was die Natur oder Welt in seine Hand gab, das ging in sein Herz, in
die ganze Liebe seines Seins und nahm alles von ihm mit sich.

Seine Farben! Er wollte durch sie etwas sagen. Er hat nie phantasiert,
aber er sah als ganzer Künstler in der Realität der Dinge noch Bleibendes.
Die ganze Pracht und Glut der sinnlichen Erscheinung ward ihm zur Hülle
eines geistigen Wertes, der seinen poetischen Beweis nur durch die Darstellung
erhielt. Er hat nicht einen Grashalm in der Natur zugunsten einer "poetischen
Idee" anders gefärbt, als die Natur ihn sehen ließ; aber er sah die Genialität
dieser Natur, die Möglichkeiten ihrer unendlichen Farbenskala, der Auslegung
ihrer UrHandschrift, er fühlte in seinem eigenen Schauen das Neue, das Ent-
wicklungselement und betrachtete von da seine Aufgabe (vor allem im Porträt).
Von da aussah er auch die Alten, historisch, kulturhaft, nicht als bloßer Ästhet.
Er sah in Franz Hals "den Maler einer ganzen Republik" von Köpfen, von
Individuen; er sah durch diesen Jdeengang die Entwicklung zur Malerei der
Menschheit, die nach dem Porträt -- wenn es gleichsam in seiner höchsten
Forderung gelöst ist, Spielraum haben wird für Landschaften, Magie, Frauen-
akte. Messiasse usw. Aber wieder zu seiner Farbe. Sie wird ihm Ausdruck
einer Realität, die zugleich mysteriös ist -- und beides soll sie aussprechen.
Er liebt das Preußischblau und Chrom. Man kann fast sagen: dies ist sein


Vincent van Gogh

Aber nicht nur die Erscheinung der Natur schlechthin ist belauscht — man
nehme dies mit vor van Goghs Bildern —> auch das Fassungslose: ihre
erregende Gebärde. Wie sie ihn erregte, durchglühte und oft bis zum Schmerz
erschütterte, so hat er sie gemalt, von ihr wiedergesagt. Die Zärtlichkeit seiner
empfindenden, sich entzückenden Augen umfaßt alles. Nicht nur Himmel
und Abgründe und Weiten dazwischen, auch die Menschen der Erde, ihre
Scherben und Töpfe, ihre Blumen und Schwielen, ihre Beschränkung und
Heiligkeit. Vor allem ist es der Bauer und Arbeiter, den er in der Natur
zeigen will, aber den Bauer und Arbeiter, wie er gräbt und schafft in voller
Mühsal, in der schweigenden Wucht der Gebärde, ganz wahr und auch ganz
groß. Nicht aus einer ethischen Idee heraus, sondern aus unbekümmerter,
intellektueller Anschauung dessen, was ist, und daß dieser Rhythmus der Mühsal
und Ruhe, der im Einklang steht mit der Natur selbst, etwas Heroisches und
Beherrschendes trotz alledem hat. Sie darin zu zeigen, war van Goghs Wille,
und wenn es uns manchmal wie Zauberei dünkt, diese Absicht für überzeugend
gelungen zu sehen, so denke man an den grabenden Fleiß dieses Malers selbst,
der mit einer Hartnäckigkeit ohne gleichen Dinge mehrere Male, „hundertmal",
wie er sagte, dieselben Dinge hintereinander zeichnete. Man sehe die „Hand¬
studien" van Goghs. Das ist die elegante Gründlichkeit der Alten. Die ruhige
durchgearbeitete Vollkommenheit, die er bei anderen so liebte. Das sieht man
auch an den Zeichnungen des (in der Farbe prachtvollen) Stillebens: „der Kaffee¬
kanne, Milchtöpfe. Tassen, einigen Früchten auf blauem Tischtuch gegen gelben
Hintergrund." Wie da alles steht, sicher, kräftig, großartig, schlicht.

Was die Natur oder Welt in seine Hand gab, das ging in sein Herz, in
die ganze Liebe seines Seins und nahm alles von ihm mit sich.

Seine Farben! Er wollte durch sie etwas sagen. Er hat nie phantasiert,
aber er sah als ganzer Künstler in der Realität der Dinge noch Bleibendes.
Die ganze Pracht und Glut der sinnlichen Erscheinung ward ihm zur Hülle
eines geistigen Wertes, der seinen poetischen Beweis nur durch die Darstellung
erhielt. Er hat nicht einen Grashalm in der Natur zugunsten einer „poetischen
Idee" anders gefärbt, als die Natur ihn sehen ließ; aber er sah die Genialität
dieser Natur, die Möglichkeiten ihrer unendlichen Farbenskala, der Auslegung
ihrer UrHandschrift, er fühlte in seinem eigenen Schauen das Neue, das Ent-
wicklungselement und betrachtete von da seine Aufgabe (vor allem im Porträt).
Von da aussah er auch die Alten, historisch, kulturhaft, nicht als bloßer Ästhet.
Er sah in Franz Hals „den Maler einer ganzen Republik" von Köpfen, von
Individuen; er sah durch diesen Jdeengang die Entwicklung zur Malerei der
Menschheit, die nach dem Porträt — wenn es gleichsam in seiner höchsten
Forderung gelöst ist, Spielraum haben wird für Landschaften, Magie, Frauen-
akte. Messiasse usw. Aber wieder zu seiner Farbe. Sie wird ihm Ausdruck
einer Realität, die zugleich mysteriös ist — und beides soll sie aussprechen.
Er liebt das Preußischblau und Chrom. Man kann fast sagen: dies ist sein


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[0253] Vincent van Gogh Aber nicht nur die Erscheinung der Natur schlechthin ist belauscht — man nehme dies mit vor van Goghs Bildern —> auch das Fassungslose: ihre erregende Gebärde. Wie sie ihn erregte, durchglühte und oft bis zum Schmerz erschütterte, so hat er sie gemalt, von ihr wiedergesagt. Die Zärtlichkeit seiner empfindenden, sich entzückenden Augen umfaßt alles. Nicht nur Himmel und Abgründe und Weiten dazwischen, auch die Menschen der Erde, ihre Scherben und Töpfe, ihre Blumen und Schwielen, ihre Beschränkung und Heiligkeit. Vor allem ist es der Bauer und Arbeiter, den er in der Natur zeigen will, aber den Bauer und Arbeiter, wie er gräbt und schafft in voller Mühsal, in der schweigenden Wucht der Gebärde, ganz wahr und auch ganz groß. Nicht aus einer ethischen Idee heraus, sondern aus unbekümmerter, intellektueller Anschauung dessen, was ist, und daß dieser Rhythmus der Mühsal und Ruhe, der im Einklang steht mit der Natur selbst, etwas Heroisches und Beherrschendes trotz alledem hat. Sie darin zu zeigen, war van Goghs Wille, und wenn es uns manchmal wie Zauberei dünkt, diese Absicht für überzeugend gelungen zu sehen, so denke man an den grabenden Fleiß dieses Malers selbst, der mit einer Hartnäckigkeit ohne gleichen Dinge mehrere Male, „hundertmal", wie er sagte, dieselben Dinge hintereinander zeichnete. Man sehe die „Hand¬ studien" van Goghs. Das ist die elegante Gründlichkeit der Alten. Die ruhige durchgearbeitete Vollkommenheit, die er bei anderen so liebte. Das sieht man auch an den Zeichnungen des (in der Farbe prachtvollen) Stillebens: „der Kaffee¬ kanne, Milchtöpfe. Tassen, einigen Früchten auf blauem Tischtuch gegen gelben Hintergrund." Wie da alles steht, sicher, kräftig, großartig, schlicht. Was die Natur oder Welt in seine Hand gab, das ging in sein Herz, in die ganze Liebe seines Seins und nahm alles von ihm mit sich. Seine Farben! Er wollte durch sie etwas sagen. Er hat nie phantasiert, aber er sah als ganzer Künstler in der Realität der Dinge noch Bleibendes. Die ganze Pracht und Glut der sinnlichen Erscheinung ward ihm zur Hülle eines geistigen Wertes, der seinen poetischen Beweis nur durch die Darstellung erhielt. Er hat nicht einen Grashalm in der Natur zugunsten einer „poetischen Idee" anders gefärbt, als die Natur ihn sehen ließ; aber er sah die Genialität dieser Natur, die Möglichkeiten ihrer unendlichen Farbenskala, der Auslegung ihrer UrHandschrift, er fühlte in seinem eigenen Schauen das Neue, das Ent- wicklungselement und betrachtete von da seine Aufgabe (vor allem im Porträt). Von da aussah er auch die Alten, historisch, kulturhaft, nicht als bloßer Ästhet. Er sah in Franz Hals „den Maler einer ganzen Republik" von Köpfen, von Individuen; er sah durch diesen Jdeengang die Entwicklung zur Malerei der Menschheit, die nach dem Porträt — wenn es gleichsam in seiner höchsten Forderung gelöst ist, Spielraum haben wird für Landschaften, Magie, Frauen- akte. Messiasse usw. Aber wieder zu seiner Farbe. Sie wird ihm Ausdruck einer Realität, die zugleich mysteriös ist — und beides soll sie aussprechen. Er liebt das Preußischblau und Chrom. Man kann fast sagen: dies ist sein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/253>, abgerufen am 22.12.2024.