Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.Londoner Brief Mit einer Kundgebung war der offene Zwist entfacht. Die unionistische Den Wählern leuchtete es in: allgemeinen wenig ein, das man die Richt¬ Wenn man sich über etwas beklagen kann, so ist es die fortschreitende Man hatte im Lande mit herber Kritik der Parteileitung nicht zurückgehalten Londoner Brief Mit einer Kundgebung war der offene Zwist entfacht. Die unionistische Den Wählern leuchtete es in: allgemeinen wenig ein, das man die Richt¬ Wenn man sich über etwas beklagen kann, so ist es die fortschreitende Man hatte im Lande mit herber Kritik der Parteileitung nicht zurückgehalten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0217" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325087"/> <fw type="header" place="top"> Londoner Brief</fw><lb/> <p xml:id="ID_807"> Mit einer Kundgebung war der offene Zwist entfacht. Die unionistische<lb/> Presse spaltete sich in zwei Lager. Auf der einen Seite standen als Organe<lb/> der unentwegter Anhänger der Tarifreform, einschließlich der Agrarzölle, die<lb/> Morning Post, die Pakt Malt Gazette. Auf der Gegenseite führte die Times<lb/> und die anderen Lord Nothcliffe gehörenden Zeitungen wie die Evening News,<lb/> die Daily Mail und der Daily Mirror. Im gleichen Sinne äußerte sich der<lb/> Daily Telegraph, mehrere angesehene Provinzblätter und der spectator, der<lb/> immer trotz seiner konservativen Richtung für Freihandel eingetreten war. Die<lb/> Abgeordneten gingen gleich darauf in die Weihnachtsferien und benutzten diese<lb/> Zeit, um sich von der Stimmung im Lande zu unterrichten.</p><lb/> <p xml:id="ID_808"> Den Wählern leuchtete es in: allgemeinen wenig ein, das man die Richt¬<lb/> linien der englischen Wirtschaftspolitik von einem Beschluß der Kolonien ab¬<lb/> hängig machen solle. Entweder Lebensmittelzölle sind erforderlich, schön, so soll<lb/> man darauf bestehen. Braucht man sie aber nicht, so würde es zu weit gehen,<lb/> den Kolonien zuliebe ein solches wirtschaftliches Opfer zu bringen. Es ist auch<lb/> mehr als wahrscheinlich, daß die Kolonien, wenn sie vor die Entscheidung gestellt<lb/> werden, im Sinne von Lebensmittelzöllen gegen das Ausland und Vorzugs¬<lb/> zöllen zugunsten ihres eigenen Exports entscheiden würden. Die Stimmung<lb/> der Tarifreform gegenüber hatte sich geändert. Als Joseph Chamberlain 1903<lb/> seine Agitation begann, litt das Land unter einem wirtschaftlichen Druck. Heute<lb/> aber steht England in einer Zeit unerreichter Prosperität.</p><lb/> <p xml:id="ID_809"> Wenn man sich über etwas beklagen kann, so ist es die fortschreitende<lb/> allgemeine Preissteigerung, die sich im Lande des Freihandels so gut wie in<lb/> den Schutzzollstaaten des Kontinents herausgebildet hat. Das ist aber jeden¬<lb/> falls nicht der geeignete Zeitpunkt, um die Masse von der Notwendigkeit einer<lb/> so durchgreifenden Änderung der Wirtschaftspolitik zu überzeugen, zumal, wenn<lb/> diese Umwälzung mit dem greifbaren Risiko verbunden ist, daß man der<lb/> Teuerungskalamität neuen Vorschub leistet. Viele Konservative hatten über¬<lb/> haupt die ganze Tarifreform gründlich satt, zum Siege bei den Wahlen hatte<lb/> sie noch nie geführt, dafür aber war sie schuld an all den Krisen, die die<lb/> Stoßkraft der Partei schwachem. Dieser Umschwung in der Stimmung der<lb/> Wähler fand einen überraschend starken Reflex in den Ansichten der Parlaments¬<lb/> mitglieder. Man hatte bisher angenommen, daß fast die ganze 282 Mann<lb/> starke Parlamentsfraktion auf dem Boden des Schutzzollprogramms stand. Nach<lb/> den Weihnachtsferien zählte man aber nur noch siebzehn unentwegte Anhänger<lb/> des Tarifreformprogramms, einschließlich der Lebensmittelzölle, an ihrer Spitze<lb/> natürlich Austin Chamberlain.</p><lb/> <p xml:id="ID_810" next="#ID_811"> Man hatte im Lande mit herber Kritik der Parteileitung nicht zurückgehalten<lb/> und zweifelsohne hatten Herr Bonar Law sowohl wie Lord Lansdowne ernstlich<lb/> Rücktrittsgedanken erwogen. Allein ein Wechsel in der Führung der Partei<lb/> hätte die Gegensätze innerhalb der Partei verstärkt aufleben lassen und ihr<lb/> Vorhandensein Freunden wie Feinden gegenüber noch mehr betont. So blieb</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0217]
Londoner Brief
Mit einer Kundgebung war der offene Zwist entfacht. Die unionistische
Presse spaltete sich in zwei Lager. Auf der einen Seite standen als Organe
der unentwegter Anhänger der Tarifreform, einschließlich der Agrarzölle, die
Morning Post, die Pakt Malt Gazette. Auf der Gegenseite führte die Times
und die anderen Lord Nothcliffe gehörenden Zeitungen wie die Evening News,
die Daily Mail und der Daily Mirror. Im gleichen Sinne äußerte sich der
Daily Telegraph, mehrere angesehene Provinzblätter und der spectator, der
immer trotz seiner konservativen Richtung für Freihandel eingetreten war. Die
Abgeordneten gingen gleich darauf in die Weihnachtsferien und benutzten diese
Zeit, um sich von der Stimmung im Lande zu unterrichten.
Den Wählern leuchtete es in: allgemeinen wenig ein, das man die Richt¬
linien der englischen Wirtschaftspolitik von einem Beschluß der Kolonien ab¬
hängig machen solle. Entweder Lebensmittelzölle sind erforderlich, schön, so soll
man darauf bestehen. Braucht man sie aber nicht, so würde es zu weit gehen,
den Kolonien zuliebe ein solches wirtschaftliches Opfer zu bringen. Es ist auch
mehr als wahrscheinlich, daß die Kolonien, wenn sie vor die Entscheidung gestellt
werden, im Sinne von Lebensmittelzöllen gegen das Ausland und Vorzugs¬
zöllen zugunsten ihres eigenen Exports entscheiden würden. Die Stimmung
der Tarifreform gegenüber hatte sich geändert. Als Joseph Chamberlain 1903
seine Agitation begann, litt das Land unter einem wirtschaftlichen Druck. Heute
aber steht England in einer Zeit unerreichter Prosperität.
Wenn man sich über etwas beklagen kann, so ist es die fortschreitende
allgemeine Preissteigerung, die sich im Lande des Freihandels so gut wie in
den Schutzzollstaaten des Kontinents herausgebildet hat. Das ist aber jeden¬
falls nicht der geeignete Zeitpunkt, um die Masse von der Notwendigkeit einer
so durchgreifenden Änderung der Wirtschaftspolitik zu überzeugen, zumal, wenn
diese Umwälzung mit dem greifbaren Risiko verbunden ist, daß man der
Teuerungskalamität neuen Vorschub leistet. Viele Konservative hatten über¬
haupt die ganze Tarifreform gründlich satt, zum Siege bei den Wahlen hatte
sie noch nie geführt, dafür aber war sie schuld an all den Krisen, die die
Stoßkraft der Partei schwachem. Dieser Umschwung in der Stimmung der
Wähler fand einen überraschend starken Reflex in den Ansichten der Parlaments¬
mitglieder. Man hatte bisher angenommen, daß fast die ganze 282 Mann
starke Parlamentsfraktion auf dem Boden des Schutzzollprogramms stand. Nach
den Weihnachtsferien zählte man aber nur noch siebzehn unentwegte Anhänger
des Tarifreformprogramms, einschließlich der Lebensmittelzölle, an ihrer Spitze
natürlich Austin Chamberlain.
Man hatte im Lande mit herber Kritik der Parteileitung nicht zurückgehalten
und zweifelsohne hatten Herr Bonar Law sowohl wie Lord Lansdowne ernstlich
Rücktrittsgedanken erwogen. Allein ein Wechsel in der Führung der Partei
hätte die Gegensätze innerhalb der Partei verstärkt aufleben lassen und ihr
Vorhandensein Freunden wie Feinden gegenüber noch mehr betont. So blieb
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