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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Londoner Brief

Vor den allgemeinen Wahlen im Januar 1910 gaben Balfour, der da¬
malige Führer der Konservativen, und Chamberlain das feierliche Versprechen,
daß die Lebensmittelzölle im Verein mit entsprechender Herabsetzung der bestehenden
Steuern, z. B. auf Zucker und Tee, die Lebenshaltung der arbeitenden Klassen
nicht verteuern würden. Die Unionisten verloren die Wahl, wenngleich die
Liberalen einen erheblichen Teil ihrer Sitze einbüßten, was bei der unnatürlich
großen Mehrheit, die sie seit 1906 inne hatten, zu erwarten war. Mr. Balfour
ließ nun die Forderung des Zolls auf Weizen fallen. Noch im Dezember des
gleichen Jahres kam es zu einer zweiten allgemeinen Wahl. Die Unionisten
zogen in den Kampf mit der Verheißung, im Falle ihres Sieges die ganze
Tarifreformfrage einschließlich der Lebensmittelzölle dem Lande als Referendum
zu unterbreiten. Wieder verloren sie die Wahlschlacht.

Im Sommer 1912 vollzog sich nunmehr auch äußerlich die Vereinigung
der ehemals liberalen und konservativen Unionisten. Ihr bisheriger Führer im
Unterhaus, Arthur Balfour, gegen den sich eine starke Strömung in der Partei
bemerkbar machte, trat zurück. Als sein Nachfolger kam Austin Chamberlain,
das Haupt der intransiganten Tarifreformer und Walter Long in Betracht.
Man konnte sich nicht auf einen der beiden einigen und so wurde als Kom¬
promißmann Herr Bonar Law zum offiziellen Führer gewählt. Seitdem steht
er mit dem Führer der Opposition im Oberhaus, Marquis of Lansdowne, an
der Spitze der Partei.

Auf dem Parteitag, der vor zwei Monaten in der Londoner Albert Hall
stattfand, zog Lord Lansdowne das Referendumversprechen, für das er selbst
noch vor etwa anderthalb Jahren eingetreten war, als "ungeschäftsmäßig"
zurück. Auf der gleichen Tagung erklärte Herr Bonar Law, daß die Unionisten
die Erhebung von Einfuhrzöllen anstrebten. Jedoch sollte dann durch ent¬
sprechende Herabsetzung der bestehenden Steuern ein Ausgleich geschaffen werden.

Auf diese Kundgebung der Führer folgten deutliche Proteste vor allem aus
dem Industriegebiete im Norden und sie fanden Zustimmung in einem Teil der
hauptstädtischen Parteipresse. In einer Nachwahl zeigte sich ein merklicher
Stillstand in dem Anwachsen der unionistischen Stimmen, an das man bei
früheren Nachwahlen gewöhnt war. Herr Bonar Law aber glaubte seinen Mißgriff
wieder gut machen zu sollen und sagte am 16. Dezember in Ashton-under-Lyme:

"Die "monistische Partei würde, wenn sie zur Regierung käme, an und
für sich nicht auf Lebensmittelzöllen bestehen. Diese Frage muß alsdann einer
Neichskonferenz unterbreitet werden, Wenn die Kolonien keinen Wert darauf
legten, daß England ihrer Ausfuhr von Agrarprodukten nach dem Mutterlande
eine Vorzugsbehandlung zuteil werden läßt, so würde auch auf die nicht-
britische Agrareinfuhr kein Zoll gelegt werden. Wenn die Kolonien aber diese
Zölle für ein notwendiges Bestandteil eines handelspolitischen Differenttalsustems
des Reiches hielten, so würde sich wohl auch das englische Volk damit ein¬
verstanden erklären."


Londoner Brief

Vor den allgemeinen Wahlen im Januar 1910 gaben Balfour, der da¬
malige Führer der Konservativen, und Chamberlain das feierliche Versprechen,
daß die Lebensmittelzölle im Verein mit entsprechender Herabsetzung der bestehenden
Steuern, z. B. auf Zucker und Tee, die Lebenshaltung der arbeitenden Klassen
nicht verteuern würden. Die Unionisten verloren die Wahl, wenngleich die
Liberalen einen erheblichen Teil ihrer Sitze einbüßten, was bei der unnatürlich
großen Mehrheit, die sie seit 1906 inne hatten, zu erwarten war. Mr. Balfour
ließ nun die Forderung des Zolls auf Weizen fallen. Noch im Dezember des
gleichen Jahres kam es zu einer zweiten allgemeinen Wahl. Die Unionisten
zogen in den Kampf mit der Verheißung, im Falle ihres Sieges die ganze
Tarifreformfrage einschließlich der Lebensmittelzölle dem Lande als Referendum
zu unterbreiten. Wieder verloren sie die Wahlschlacht.

Im Sommer 1912 vollzog sich nunmehr auch äußerlich die Vereinigung
der ehemals liberalen und konservativen Unionisten. Ihr bisheriger Führer im
Unterhaus, Arthur Balfour, gegen den sich eine starke Strömung in der Partei
bemerkbar machte, trat zurück. Als sein Nachfolger kam Austin Chamberlain,
das Haupt der intransiganten Tarifreformer und Walter Long in Betracht.
Man konnte sich nicht auf einen der beiden einigen und so wurde als Kom¬
promißmann Herr Bonar Law zum offiziellen Führer gewählt. Seitdem steht
er mit dem Führer der Opposition im Oberhaus, Marquis of Lansdowne, an
der Spitze der Partei.

Auf dem Parteitag, der vor zwei Monaten in der Londoner Albert Hall
stattfand, zog Lord Lansdowne das Referendumversprechen, für das er selbst
noch vor etwa anderthalb Jahren eingetreten war, als „ungeschäftsmäßig"
zurück. Auf der gleichen Tagung erklärte Herr Bonar Law, daß die Unionisten
die Erhebung von Einfuhrzöllen anstrebten. Jedoch sollte dann durch ent¬
sprechende Herabsetzung der bestehenden Steuern ein Ausgleich geschaffen werden.

Auf diese Kundgebung der Führer folgten deutliche Proteste vor allem aus
dem Industriegebiete im Norden und sie fanden Zustimmung in einem Teil der
hauptstädtischen Parteipresse. In einer Nachwahl zeigte sich ein merklicher
Stillstand in dem Anwachsen der unionistischen Stimmen, an das man bei
früheren Nachwahlen gewöhnt war. Herr Bonar Law aber glaubte seinen Mißgriff
wieder gut machen zu sollen und sagte am 16. Dezember in Ashton-under-Lyme:

„Die »monistische Partei würde, wenn sie zur Regierung käme, an und
für sich nicht auf Lebensmittelzöllen bestehen. Diese Frage muß alsdann einer
Neichskonferenz unterbreitet werden, Wenn die Kolonien keinen Wert darauf
legten, daß England ihrer Ausfuhr von Agrarprodukten nach dem Mutterlande
eine Vorzugsbehandlung zuteil werden läßt, so würde auch auf die nicht-
britische Agrareinfuhr kein Zoll gelegt werden. Wenn die Kolonien aber diese
Zölle für ein notwendiges Bestandteil eines handelspolitischen Differenttalsustems
des Reiches hielten, so würde sich wohl auch das englische Volk damit ein¬
verstanden erklären."


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[0216] Londoner Brief Vor den allgemeinen Wahlen im Januar 1910 gaben Balfour, der da¬ malige Führer der Konservativen, und Chamberlain das feierliche Versprechen, daß die Lebensmittelzölle im Verein mit entsprechender Herabsetzung der bestehenden Steuern, z. B. auf Zucker und Tee, die Lebenshaltung der arbeitenden Klassen nicht verteuern würden. Die Unionisten verloren die Wahl, wenngleich die Liberalen einen erheblichen Teil ihrer Sitze einbüßten, was bei der unnatürlich großen Mehrheit, die sie seit 1906 inne hatten, zu erwarten war. Mr. Balfour ließ nun die Forderung des Zolls auf Weizen fallen. Noch im Dezember des gleichen Jahres kam es zu einer zweiten allgemeinen Wahl. Die Unionisten zogen in den Kampf mit der Verheißung, im Falle ihres Sieges die ganze Tarifreformfrage einschließlich der Lebensmittelzölle dem Lande als Referendum zu unterbreiten. Wieder verloren sie die Wahlschlacht. Im Sommer 1912 vollzog sich nunmehr auch äußerlich die Vereinigung der ehemals liberalen und konservativen Unionisten. Ihr bisheriger Führer im Unterhaus, Arthur Balfour, gegen den sich eine starke Strömung in der Partei bemerkbar machte, trat zurück. Als sein Nachfolger kam Austin Chamberlain, das Haupt der intransiganten Tarifreformer und Walter Long in Betracht. Man konnte sich nicht auf einen der beiden einigen und so wurde als Kom¬ promißmann Herr Bonar Law zum offiziellen Führer gewählt. Seitdem steht er mit dem Führer der Opposition im Oberhaus, Marquis of Lansdowne, an der Spitze der Partei. Auf dem Parteitag, der vor zwei Monaten in der Londoner Albert Hall stattfand, zog Lord Lansdowne das Referendumversprechen, für das er selbst noch vor etwa anderthalb Jahren eingetreten war, als „ungeschäftsmäßig" zurück. Auf der gleichen Tagung erklärte Herr Bonar Law, daß die Unionisten die Erhebung von Einfuhrzöllen anstrebten. Jedoch sollte dann durch ent¬ sprechende Herabsetzung der bestehenden Steuern ein Ausgleich geschaffen werden. Auf diese Kundgebung der Führer folgten deutliche Proteste vor allem aus dem Industriegebiete im Norden und sie fanden Zustimmung in einem Teil der hauptstädtischen Parteipresse. In einer Nachwahl zeigte sich ein merklicher Stillstand in dem Anwachsen der unionistischen Stimmen, an das man bei früheren Nachwahlen gewöhnt war. Herr Bonar Law aber glaubte seinen Mißgriff wieder gut machen zu sollen und sagte am 16. Dezember in Ashton-under-Lyme: „Die »monistische Partei würde, wenn sie zur Regierung käme, an und für sich nicht auf Lebensmittelzöllen bestehen. Diese Frage muß alsdann einer Neichskonferenz unterbreitet werden, Wenn die Kolonien keinen Wert darauf legten, daß England ihrer Ausfuhr von Agrarprodukten nach dem Mutterlande eine Vorzugsbehandlung zuteil werden läßt, so würde auch auf die nicht- britische Agrareinfuhr kein Zoll gelegt werden. Wenn die Kolonien aber diese Zölle für ein notwendiges Bestandteil eines handelspolitischen Differenttalsustems des Reiches hielten, so würde sich wohl auch das englische Volk damit ein¬ verstanden erklären."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/216>, abgerufen am 24.08.2024.