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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Londoner Brief

man denn schon lieber bei Herrn Bonar Law und unterzeichnete sogar nahezu
geschlossen ein Vertrauensvotum, dessen Zustandekommen auf einem merkwürdigen
Kompromiß basiert. Die Partei bekennt sich prinzipiell zur Tarifreform und
zu Vorzugszöllen zugunsten der überseeischen Reichsteile. Sie wird aber, selbst
wenn die nächsten allgemeinen Wahlen ihr die Mehrheit im Parlament bringen,
nicht sofort zur Durchführung ihres Programms schreiten, sondern seine Ver¬
wirklichung von einer zweiten allgemeinen Wahl abhängig machen. Dieser
Beschluß bedeutet die Wiederaufnahme des Referendumversprechens in anderer Form.

So ist die Einigkeit äußerlich wenigstens trotz einiger grollenden und ent¬
täuschten Reden Austin Chamberlains und der Seinen im großen ganzen
wiederhergestellt. Das Prestige der Partei ist durch diese Vorgänge sicherlich
nicht gehoben worden. Es muß sich zeigen, ob die Unzufriedenheit mit den
Maßnahmen der Regierung groß genug ist. um bei den nächsten Nachwahlen
einen Rückschlag zum Schaden der Unionisten zu verhindern. Bis zu den all¬
gemeinen Wahlen, die ordnungsgemäß im nächsten Jahre stattzufinden haben,
kann sich noch so viel ereignen, daß Mutmaßungen darüber verfrüht sind. Man
sprach auch davon, die Regierung wolle die momentane Schwierigkeit der
Opposition benutzen, um sich eine bedeutendere Mehrheit zu sichern. Allein die
gespannte europäische Lage muß, solange sie in der gegenwärtigen Weise an¬
dauert, auch nur die Möglichkeit eines Regierungswechsels vermeiden lassen.
Sir Edward Greys auswärtige Politik wird von dem unbegrenzten Vertrauen
des englischen Volkes getragen, und die unionistische Partei würde es sich selbst
nicht verzeihen, diesen Staatsmann mit dem Kabinett Asquith im jetzigen
kritischen Zeitpunkt, auch wenn sie es vermöchte, zu stürzen. Es wäre be¬
greiflich, wenn die liberale Negierung ganz gern 1914 abträte, um nach Voll¬
endung ihrer großen Aufgabe in einer vorübergehenden Oppositionsstellung
neue Kräfte zu sammeln. Die nächsten Wahlen verschlechtern insofern die
Chancen der Negierung, als die Zahl der zur Regierungskoalition gehörigen
Iren im Parlament zu Westminster nach Einführung der Selbstregierung
Irlands um zwei Drittel verringert wird.

Als das nächste große Projekt, mit dem die Koalition der Regierungs¬
parteien vor das englische Volk treten würde, galt bisher die Landkampagne,
d. h. der Feldzug gegen das System der Grundherrschaften. Die Steuerpolitik
Lloyd Georges macht schon heute den englischen Latifundienbesitzern schwere
Sorgen. Die Arbeiterpartei und der radikale Flügel der Liberalen drängten
auf diesem Weg energisch weiter zu schreiten und es schien so, als ob der
Schatzkanzler sich an die Spitze dieser Agitation stellen würde. Aber dieser
Kampf gegen die Landlords erregte bei den grundbesitzenden Liberalen, zumal
den liberalen Peers gelindes Mißbehagen und den gemäßigten Elementen,
namentlich in den Grafschaften schien dieses Vorgehen bedenklich. So entschloß
man sich denn diese Kampagne zum mindesten zurückzustellen. Dafür ver¬
kündigte der Lordkanzler Viscount Haldane eine gründliche Neugestaltung des


Londoner Brief

man denn schon lieber bei Herrn Bonar Law und unterzeichnete sogar nahezu
geschlossen ein Vertrauensvotum, dessen Zustandekommen auf einem merkwürdigen
Kompromiß basiert. Die Partei bekennt sich prinzipiell zur Tarifreform und
zu Vorzugszöllen zugunsten der überseeischen Reichsteile. Sie wird aber, selbst
wenn die nächsten allgemeinen Wahlen ihr die Mehrheit im Parlament bringen,
nicht sofort zur Durchführung ihres Programms schreiten, sondern seine Ver¬
wirklichung von einer zweiten allgemeinen Wahl abhängig machen. Dieser
Beschluß bedeutet die Wiederaufnahme des Referendumversprechens in anderer Form.

So ist die Einigkeit äußerlich wenigstens trotz einiger grollenden und ent¬
täuschten Reden Austin Chamberlains und der Seinen im großen ganzen
wiederhergestellt. Das Prestige der Partei ist durch diese Vorgänge sicherlich
nicht gehoben worden. Es muß sich zeigen, ob die Unzufriedenheit mit den
Maßnahmen der Regierung groß genug ist. um bei den nächsten Nachwahlen
einen Rückschlag zum Schaden der Unionisten zu verhindern. Bis zu den all¬
gemeinen Wahlen, die ordnungsgemäß im nächsten Jahre stattzufinden haben,
kann sich noch so viel ereignen, daß Mutmaßungen darüber verfrüht sind. Man
sprach auch davon, die Regierung wolle die momentane Schwierigkeit der
Opposition benutzen, um sich eine bedeutendere Mehrheit zu sichern. Allein die
gespannte europäische Lage muß, solange sie in der gegenwärtigen Weise an¬
dauert, auch nur die Möglichkeit eines Regierungswechsels vermeiden lassen.
Sir Edward Greys auswärtige Politik wird von dem unbegrenzten Vertrauen
des englischen Volkes getragen, und die unionistische Partei würde es sich selbst
nicht verzeihen, diesen Staatsmann mit dem Kabinett Asquith im jetzigen
kritischen Zeitpunkt, auch wenn sie es vermöchte, zu stürzen. Es wäre be¬
greiflich, wenn die liberale Negierung ganz gern 1914 abträte, um nach Voll¬
endung ihrer großen Aufgabe in einer vorübergehenden Oppositionsstellung
neue Kräfte zu sammeln. Die nächsten Wahlen verschlechtern insofern die
Chancen der Negierung, als die Zahl der zur Regierungskoalition gehörigen
Iren im Parlament zu Westminster nach Einführung der Selbstregierung
Irlands um zwei Drittel verringert wird.

Als das nächste große Projekt, mit dem die Koalition der Regierungs¬
parteien vor das englische Volk treten würde, galt bisher die Landkampagne,
d. h. der Feldzug gegen das System der Grundherrschaften. Die Steuerpolitik
Lloyd Georges macht schon heute den englischen Latifundienbesitzern schwere
Sorgen. Die Arbeiterpartei und der radikale Flügel der Liberalen drängten
auf diesem Weg energisch weiter zu schreiten und es schien so, als ob der
Schatzkanzler sich an die Spitze dieser Agitation stellen würde. Aber dieser
Kampf gegen die Landlords erregte bei den grundbesitzenden Liberalen, zumal
den liberalen Peers gelindes Mißbehagen und den gemäßigten Elementen,
namentlich in den Grafschaften schien dieses Vorgehen bedenklich. So entschloß
man sich denn diese Kampagne zum mindesten zurückzustellen. Dafür ver¬
kündigte der Lordkanzler Viscount Haldane eine gründliche Neugestaltung des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/218>, abgerufen am 22.07.2024.