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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Bevölkerungspolitik und Linkommensteuer

Die Bevölkerungszunahme wird durch drei Faktoren hauptsächlich beeinflußt:
Geburtenhäufigkeit, Sterblichkeit (insbesondere Kindersterblichkeit) und Zu- und
Abwanderung. Über Zu- und Abwanderung braucht nach den Hinweisen in der
Einleitung in diesen Heften nicht mehr ausführlich gesprochen zu werden.
Der Sterblichkeit insbesondere unter den jüngeren Kindern wird neuerdings durch
hygienische und andere Maßnahmen, als da sind: hauswirtschafilicher Unterricht
der künftigen Mütter, Schutz der arbeitenden Frauen und Jugendlichen, all¬
gemeine Jugendpflege für Körper und Geist, Wohnungs- und Bodenreform
zielbewußt und mit Erfolg vorgebeugt, wenn auch auf allen diesen Gebieten
noch außerordentlich viel zu tun übrig bleibt. Die Geburtenhäufigkeit ist der¬
jenige Faktor, bei welchem bisher durch staatliche Maßnahmen am wenigsten
erreicht werden konnte. Die schönsten Enqueten werden in dieser Hinsicht auch
wenig ändern.

Wirklich Positives kann der Staat in dieser Richtung nur auf dem Gebiete der
Besoldungs- und Besteuerungsfragen tun. In beiden Richtungen hat es aber
bisher an einem zielbewußter Vorgehen fast ganz gefehlt. Eine Abstufung der
Einkünfte der Beamten gleicher Klasse für Unverheiratete, Kinderlose, Kinder
arme und Kinderreiche ist ja manchmal versucht, aber in der Regel in den
Anfängen der Erwägung steckengeblieben, obgleich sie an sich eine Forderung
der gesunden Vernunft ist. Die Erleichterung und Verbilligung der Kinder¬
erziehung für diejenigen auf dem Lande und in der Kleinstadt lebenden Be¬
amten, denen nicht zugemutet werden kann, ihren Kindern nur Volksschulbildung
angedeihen zu lassen, müßte gleichfalls ins Auge gefaßt werden, und zwar nicht
nur vom Standpunkte der Bevölkerungspolitik, sondern auch im Interesse der
für das Staatswohl dringend erforderlichen Seßhaftigkeit dieser Beamtenschichten.
Mindestens aber müßte zunächst bei jeder Gehaltserhöhung das System der
Kinderzulagen, für das sich vorläufig nur bei einzelnen Klassen gering besoldeter
Staats- und Kommunalbeamten Anfänge finden, ausgebaut und auch auf die
höheren Beamten ausgedehnt werden, wenn man sich zu der vorhin angedeuteten
weitergehenden Differenzierung der Besoldung nach dem Familienstande noch
nicht entschließen will.

Nicht minder wichtig, aber leider bisher ebensowenig zielbewußt berücksichtigt,
ist die Einwirkung der Steuerpolitik auf das Problem der Bevölkerungs-
zunahme. Von Reichs wegen ist dabei wenig zu tun. Es liegt zwar auf der
Hand, daß die preissteigernde Wirkung der Schutzzollpolitik die kinderreichen
Familien schärfer trifft als die kinderarmer oder kinderlosen. Es ist aber ein
Zeichen doktrinärer Verbohrtheit und völliger Unbelehrbarkeit durch die geschicht¬
liche Entwicklung, wenn aus diesem Grunde eine Erschütterung oder gar Be¬
seitigung unserer Wirtschaftspolitik gefordert wird. Niedrige Preise nützen für
die Lebenshaltung nichts bei mangelhafter Erwerbsgelegenheit,- eine Gefährdung
der letzteren durch Aufgabe unserer, für jeden der sehen will und nicht einseitige
Handelsinteressen verfolgt, als segensreich erwiesene Wirtschaftspolitik würde also


Bevölkerungspolitik und Linkommensteuer

Die Bevölkerungszunahme wird durch drei Faktoren hauptsächlich beeinflußt:
Geburtenhäufigkeit, Sterblichkeit (insbesondere Kindersterblichkeit) und Zu- und
Abwanderung. Über Zu- und Abwanderung braucht nach den Hinweisen in der
Einleitung in diesen Heften nicht mehr ausführlich gesprochen zu werden.
Der Sterblichkeit insbesondere unter den jüngeren Kindern wird neuerdings durch
hygienische und andere Maßnahmen, als da sind: hauswirtschafilicher Unterricht
der künftigen Mütter, Schutz der arbeitenden Frauen und Jugendlichen, all¬
gemeine Jugendpflege für Körper und Geist, Wohnungs- und Bodenreform
zielbewußt und mit Erfolg vorgebeugt, wenn auch auf allen diesen Gebieten
noch außerordentlich viel zu tun übrig bleibt. Die Geburtenhäufigkeit ist der¬
jenige Faktor, bei welchem bisher durch staatliche Maßnahmen am wenigsten
erreicht werden konnte. Die schönsten Enqueten werden in dieser Hinsicht auch
wenig ändern.

Wirklich Positives kann der Staat in dieser Richtung nur auf dem Gebiete der
Besoldungs- und Besteuerungsfragen tun. In beiden Richtungen hat es aber
bisher an einem zielbewußter Vorgehen fast ganz gefehlt. Eine Abstufung der
Einkünfte der Beamten gleicher Klasse für Unverheiratete, Kinderlose, Kinder
arme und Kinderreiche ist ja manchmal versucht, aber in der Regel in den
Anfängen der Erwägung steckengeblieben, obgleich sie an sich eine Forderung
der gesunden Vernunft ist. Die Erleichterung und Verbilligung der Kinder¬
erziehung für diejenigen auf dem Lande und in der Kleinstadt lebenden Be¬
amten, denen nicht zugemutet werden kann, ihren Kindern nur Volksschulbildung
angedeihen zu lassen, müßte gleichfalls ins Auge gefaßt werden, und zwar nicht
nur vom Standpunkte der Bevölkerungspolitik, sondern auch im Interesse der
für das Staatswohl dringend erforderlichen Seßhaftigkeit dieser Beamtenschichten.
Mindestens aber müßte zunächst bei jeder Gehaltserhöhung das System der
Kinderzulagen, für das sich vorläufig nur bei einzelnen Klassen gering besoldeter
Staats- und Kommunalbeamten Anfänge finden, ausgebaut und auch auf die
höheren Beamten ausgedehnt werden, wenn man sich zu der vorhin angedeuteten
weitergehenden Differenzierung der Besoldung nach dem Familienstande noch
nicht entschließen will.

Nicht minder wichtig, aber leider bisher ebensowenig zielbewußt berücksichtigt,
ist die Einwirkung der Steuerpolitik auf das Problem der Bevölkerungs-
zunahme. Von Reichs wegen ist dabei wenig zu tun. Es liegt zwar auf der
Hand, daß die preissteigernde Wirkung der Schutzzollpolitik die kinderreichen
Familien schärfer trifft als die kinderarmer oder kinderlosen. Es ist aber ein
Zeichen doktrinärer Verbohrtheit und völliger Unbelehrbarkeit durch die geschicht¬
liche Entwicklung, wenn aus diesem Grunde eine Erschütterung oder gar Be¬
seitigung unserer Wirtschaftspolitik gefordert wird. Niedrige Preise nützen für
die Lebenshaltung nichts bei mangelhafter Erwerbsgelegenheit,- eine Gefährdung
der letzteren durch Aufgabe unserer, für jeden der sehen will und nicht einseitige
Handelsinteressen verfolgt, als segensreich erwiesene Wirtschaftspolitik würde also


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[0140] Bevölkerungspolitik und Linkommensteuer Die Bevölkerungszunahme wird durch drei Faktoren hauptsächlich beeinflußt: Geburtenhäufigkeit, Sterblichkeit (insbesondere Kindersterblichkeit) und Zu- und Abwanderung. Über Zu- und Abwanderung braucht nach den Hinweisen in der Einleitung in diesen Heften nicht mehr ausführlich gesprochen zu werden. Der Sterblichkeit insbesondere unter den jüngeren Kindern wird neuerdings durch hygienische und andere Maßnahmen, als da sind: hauswirtschafilicher Unterricht der künftigen Mütter, Schutz der arbeitenden Frauen und Jugendlichen, all¬ gemeine Jugendpflege für Körper und Geist, Wohnungs- und Bodenreform zielbewußt und mit Erfolg vorgebeugt, wenn auch auf allen diesen Gebieten noch außerordentlich viel zu tun übrig bleibt. Die Geburtenhäufigkeit ist der¬ jenige Faktor, bei welchem bisher durch staatliche Maßnahmen am wenigsten erreicht werden konnte. Die schönsten Enqueten werden in dieser Hinsicht auch wenig ändern. Wirklich Positives kann der Staat in dieser Richtung nur auf dem Gebiete der Besoldungs- und Besteuerungsfragen tun. In beiden Richtungen hat es aber bisher an einem zielbewußter Vorgehen fast ganz gefehlt. Eine Abstufung der Einkünfte der Beamten gleicher Klasse für Unverheiratete, Kinderlose, Kinder arme und Kinderreiche ist ja manchmal versucht, aber in der Regel in den Anfängen der Erwägung steckengeblieben, obgleich sie an sich eine Forderung der gesunden Vernunft ist. Die Erleichterung und Verbilligung der Kinder¬ erziehung für diejenigen auf dem Lande und in der Kleinstadt lebenden Be¬ amten, denen nicht zugemutet werden kann, ihren Kindern nur Volksschulbildung angedeihen zu lassen, müßte gleichfalls ins Auge gefaßt werden, und zwar nicht nur vom Standpunkte der Bevölkerungspolitik, sondern auch im Interesse der für das Staatswohl dringend erforderlichen Seßhaftigkeit dieser Beamtenschichten. Mindestens aber müßte zunächst bei jeder Gehaltserhöhung das System der Kinderzulagen, für das sich vorläufig nur bei einzelnen Klassen gering besoldeter Staats- und Kommunalbeamten Anfänge finden, ausgebaut und auch auf die höheren Beamten ausgedehnt werden, wenn man sich zu der vorhin angedeuteten weitergehenden Differenzierung der Besoldung nach dem Familienstande noch nicht entschließen will. Nicht minder wichtig, aber leider bisher ebensowenig zielbewußt berücksichtigt, ist die Einwirkung der Steuerpolitik auf das Problem der Bevölkerungs- zunahme. Von Reichs wegen ist dabei wenig zu tun. Es liegt zwar auf der Hand, daß die preissteigernde Wirkung der Schutzzollpolitik die kinderreichen Familien schärfer trifft als die kinderarmer oder kinderlosen. Es ist aber ein Zeichen doktrinärer Verbohrtheit und völliger Unbelehrbarkeit durch die geschicht¬ liche Entwicklung, wenn aus diesem Grunde eine Erschütterung oder gar Be¬ seitigung unserer Wirtschaftspolitik gefordert wird. Niedrige Preise nützen für die Lebenshaltung nichts bei mangelhafter Erwerbsgelegenheit,- eine Gefährdung der letzteren durch Aufgabe unserer, für jeden der sehen will und nicht einseitige Handelsinteressen verfolgt, als segensreich erwiesene Wirtschaftspolitik würde also

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/140>, abgerufen am 28.06.2024.