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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Idealismus

Zeit und Raum zu erheben, um in die Ewigkeit hinaufzureichen. Es sind die
"Helden" in der Geschichte, deren Geist diese Macht besitzt, einen Schimmer
von dem Geheimnis Gottes zu erfassen und der Menschheit in immer neuen,
wechselnden Formen zu künden*). Die Menschheit aber lebt davon, daß ihr
immer wieder seiche Helden erstehen.

Von hier aus war es endlich Carlyle möglich, den schmerzlichen Wider¬
spruch zwischen Willensfreiheit und naturgesetzlicher Notwendigkeit in einer
höheren Einheit zu überwinden: nur für die beschränkte Verstandeserkenntnis
erscheint ja das Naturgesetz als die einzige und letzte Norm alles Geschehens;
die Vernunft erkennt in und über dem natürlichen Zusammenhang der
Dinge das Walten des Geistes; so bildet die Sinnenwelt mit ihrer gesetzlichen
Bestimmtheit keine lähmende Fessel für unser sittliches, geistiges Wollen, sondern
das Feld für seine Betätigung. Unsere sittliche Aufgabe ist es gerade, diese
irdische Welt nach den Normen des Geistes frei zu gestalten. Aus der trotzigen
Verneinung des Lebens in der Wirklichkeit ist seine höchste Bejahung geworden.
Der Mensch als Geist ist Herr über diese Wirklichkeit, die er nach seinen
Idealen zu formen hat; Hindernisse sind nicht dazu da, die Menschen einzu¬
engen, sondern überwunden zu werden: "Das Jveal liegt in dir selbst, das
Hindernis ebenfalls in dir selbst; deine Lage ist nur das Material, aus dem
du dieses dein Ideal formen sollst."

Das sind Worte von starkem, mutigen Klang, die fast an Fichte gemahnen;
in der Tat kommen die reifsten ethischen Gedanken der deutschen Philosophie
darin zum Ausdruck. Und Carlyle hat nun sein Bestes geleistet, indem er diese
sittlichen Ideen anwandte bei seiner Betrachtung der menschlichen Gesellschaft
in Geschichte und Gegenwart. Seit er die quälenden Zweisel seiner Kampfes¬
jahre überwunden hatte, begann für ihn die Zeit des tätigen Schaffens --
zugleich von sonnigeren äußeren Umständen begleitet. Der Kern seiner ursprüng¬
lichen Persönlichkeit kam wieder zum Vorschein; in all den heißen Kämpfen um
seine geistige Freiheit war er nur weiter ausgereift. Mit allen Willenskräften
drängte nun diese starke Seele hinaus aus der bloßen Selbstbetrachtung in die
weite Welt der Wirklichkeit, um sich darin auszuwirken: "Nun konnte auch ich
mir sagen: sei nicht länger ein Chaos, sondern eine Welt, wär's auch nur eine
kleine Welt. Erzeuge, erzeuge! Wäre es auch nur der erbärmlichste, unendliche
Bruch eines Erzeugnisses, bringe es hervor in Gottes Namen! Es ist dieses
das Größte und Äußerste, was du in dir hast: wohlan, heraus damit! Auf!
Auf! Alles, was deine Hand zu tun findet, tue es mit deiner ganzen Kraft!
Wirke, solange es Tag ist, denn es kommt die Nacht, da niemand wirken kann!"





*) Der Inhalt der absoluten Wahrheit wird also niemals in absoluter Erkenntnis,
sondern immer nur symbolisch, in historisch bedingter Teilerkenntnis, erfaßt. In dieser
historischen Bestimmung der Wahrheit, im Gegensatz zur spekulativen, beruht in, E, der
grundlegende Unterschied zwischen Carlyle und den deutschen Idealisten -- wie ich an
anderer Stelle einmal genauer auszuführen hoffe.
Der deutsche Idealismus

Zeit und Raum zu erheben, um in die Ewigkeit hinaufzureichen. Es sind die
„Helden" in der Geschichte, deren Geist diese Macht besitzt, einen Schimmer
von dem Geheimnis Gottes zu erfassen und der Menschheit in immer neuen,
wechselnden Formen zu künden*). Die Menschheit aber lebt davon, daß ihr
immer wieder seiche Helden erstehen.

Von hier aus war es endlich Carlyle möglich, den schmerzlichen Wider¬
spruch zwischen Willensfreiheit und naturgesetzlicher Notwendigkeit in einer
höheren Einheit zu überwinden: nur für die beschränkte Verstandeserkenntnis
erscheint ja das Naturgesetz als die einzige und letzte Norm alles Geschehens;
die Vernunft erkennt in und über dem natürlichen Zusammenhang der
Dinge das Walten des Geistes; so bildet die Sinnenwelt mit ihrer gesetzlichen
Bestimmtheit keine lähmende Fessel für unser sittliches, geistiges Wollen, sondern
das Feld für seine Betätigung. Unsere sittliche Aufgabe ist es gerade, diese
irdische Welt nach den Normen des Geistes frei zu gestalten. Aus der trotzigen
Verneinung des Lebens in der Wirklichkeit ist seine höchste Bejahung geworden.
Der Mensch als Geist ist Herr über diese Wirklichkeit, die er nach seinen
Idealen zu formen hat; Hindernisse sind nicht dazu da, die Menschen einzu¬
engen, sondern überwunden zu werden: „Das Jveal liegt in dir selbst, das
Hindernis ebenfalls in dir selbst; deine Lage ist nur das Material, aus dem
du dieses dein Ideal formen sollst."

Das sind Worte von starkem, mutigen Klang, die fast an Fichte gemahnen;
in der Tat kommen die reifsten ethischen Gedanken der deutschen Philosophie
darin zum Ausdruck. Und Carlyle hat nun sein Bestes geleistet, indem er diese
sittlichen Ideen anwandte bei seiner Betrachtung der menschlichen Gesellschaft
in Geschichte und Gegenwart. Seit er die quälenden Zweisel seiner Kampfes¬
jahre überwunden hatte, begann für ihn die Zeit des tätigen Schaffens —
zugleich von sonnigeren äußeren Umständen begleitet. Der Kern seiner ursprüng¬
lichen Persönlichkeit kam wieder zum Vorschein; in all den heißen Kämpfen um
seine geistige Freiheit war er nur weiter ausgereift. Mit allen Willenskräften
drängte nun diese starke Seele hinaus aus der bloßen Selbstbetrachtung in die
weite Welt der Wirklichkeit, um sich darin auszuwirken: „Nun konnte auch ich
mir sagen: sei nicht länger ein Chaos, sondern eine Welt, wär's auch nur eine
kleine Welt. Erzeuge, erzeuge! Wäre es auch nur der erbärmlichste, unendliche
Bruch eines Erzeugnisses, bringe es hervor in Gottes Namen! Es ist dieses
das Größte und Äußerste, was du in dir hast: wohlan, heraus damit! Auf!
Auf! Alles, was deine Hand zu tun findet, tue es mit deiner ganzen Kraft!
Wirke, solange es Tag ist, denn es kommt die Nacht, da niemand wirken kann!"





*) Der Inhalt der absoluten Wahrheit wird also niemals in absoluter Erkenntnis,
sondern immer nur symbolisch, in historisch bedingter Teilerkenntnis, erfaßt. In dieser
historischen Bestimmung der Wahrheit, im Gegensatz zur spekulativen, beruht in, E, der
grundlegende Unterschied zwischen Carlyle und den deutschen Idealisten — wie ich an
anderer Stelle einmal genauer auszuführen hoffe.
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[0138] Der deutsche Idealismus Zeit und Raum zu erheben, um in die Ewigkeit hinaufzureichen. Es sind die „Helden" in der Geschichte, deren Geist diese Macht besitzt, einen Schimmer von dem Geheimnis Gottes zu erfassen und der Menschheit in immer neuen, wechselnden Formen zu künden*). Die Menschheit aber lebt davon, daß ihr immer wieder seiche Helden erstehen. Von hier aus war es endlich Carlyle möglich, den schmerzlichen Wider¬ spruch zwischen Willensfreiheit und naturgesetzlicher Notwendigkeit in einer höheren Einheit zu überwinden: nur für die beschränkte Verstandeserkenntnis erscheint ja das Naturgesetz als die einzige und letzte Norm alles Geschehens; die Vernunft erkennt in und über dem natürlichen Zusammenhang der Dinge das Walten des Geistes; so bildet die Sinnenwelt mit ihrer gesetzlichen Bestimmtheit keine lähmende Fessel für unser sittliches, geistiges Wollen, sondern das Feld für seine Betätigung. Unsere sittliche Aufgabe ist es gerade, diese irdische Welt nach den Normen des Geistes frei zu gestalten. Aus der trotzigen Verneinung des Lebens in der Wirklichkeit ist seine höchste Bejahung geworden. Der Mensch als Geist ist Herr über diese Wirklichkeit, die er nach seinen Idealen zu formen hat; Hindernisse sind nicht dazu da, die Menschen einzu¬ engen, sondern überwunden zu werden: „Das Jveal liegt in dir selbst, das Hindernis ebenfalls in dir selbst; deine Lage ist nur das Material, aus dem du dieses dein Ideal formen sollst." Das sind Worte von starkem, mutigen Klang, die fast an Fichte gemahnen; in der Tat kommen die reifsten ethischen Gedanken der deutschen Philosophie darin zum Ausdruck. Und Carlyle hat nun sein Bestes geleistet, indem er diese sittlichen Ideen anwandte bei seiner Betrachtung der menschlichen Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart. Seit er die quälenden Zweisel seiner Kampfes¬ jahre überwunden hatte, begann für ihn die Zeit des tätigen Schaffens — zugleich von sonnigeren äußeren Umständen begleitet. Der Kern seiner ursprüng¬ lichen Persönlichkeit kam wieder zum Vorschein; in all den heißen Kämpfen um seine geistige Freiheit war er nur weiter ausgereift. Mit allen Willenskräften drängte nun diese starke Seele hinaus aus der bloßen Selbstbetrachtung in die weite Welt der Wirklichkeit, um sich darin auszuwirken: „Nun konnte auch ich mir sagen: sei nicht länger ein Chaos, sondern eine Welt, wär's auch nur eine kleine Welt. Erzeuge, erzeuge! Wäre es auch nur der erbärmlichste, unendliche Bruch eines Erzeugnisses, bringe es hervor in Gottes Namen! Es ist dieses das Größte und Äußerste, was du in dir hast: wohlan, heraus damit! Auf! Auf! Alles, was deine Hand zu tun findet, tue es mit deiner ganzen Kraft! Wirke, solange es Tag ist, denn es kommt die Nacht, da niemand wirken kann!" *) Der Inhalt der absoluten Wahrheit wird also niemals in absoluter Erkenntnis, sondern immer nur symbolisch, in historisch bedingter Teilerkenntnis, erfaßt. In dieser historischen Bestimmung der Wahrheit, im Gegensatz zur spekulativen, beruht in, E, der grundlegende Unterschied zwischen Carlyle und den deutschen Idealisten — wie ich an anderer Stelle einmal genauer auszuführen hoffe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/138>, abgerufen am 02.07.2024.