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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Idealismus

die mathematische Konstruktion der mechanischen Naturgesetze, die Gültigkeit
dieser Gesetze für die Welt der materiellen Erscheinungen zog er nicht in Zweifel.
Nicht umsonst hatte er jahrelang mit großem Eifer mathematische Studien
getrieben und Newton gelesen. Für seinen Glauben an die Freiheit des sitt¬
lichen Selbstbewußtseins fehlte ihm anfangs in der Tat die wissenschaftliche
Begründung. In diesem Stadium seiner Gedankenentwicklung kam ihm nun¬
mehr die deutsche Philosophie zu Hilfe. Aus Kant entnahm er den Grund¬
gedanken der "transzendentalen Ästhetik": Raum und Zeit sind nur Anschauungs¬
formen des denkenden Bewußtseins, keine metaphysischen Realitäten; die Körper¬
welt besteht nicht aus "Dingen an sich", sondern aus bloßen Erscheinungen.
Also, folgerte Carlyle, ist der Materialismus und jede Weltbetrachtung, die
den Objekten absolute Realität zuspricht und die Selbständigkeit des Geistes im
Verhältnis zur Erscheinungswelt bezweifelt, wissenschaftlich widerlegt. Das war
ihm die Hauptsache; er verstand, daß die idealistische Weltbetrachtung, die er
aus der "höheren deutschen Literatur" kennen gelernt hatte, aus kantischen Boden
beruhe; um die philosophischen Argumente im einzelnen kümmerte er sich nicht
allzuviel. Die kantische Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft (im
engeren Sinne) übernahm er in einer gewissen Vergröberung. Er glaubte mit
ihrer Hilfe zu verstehen, warum die mathematisch-mechanische Weltbetrachtung
nur die eine Seite der Wirklichkeit erfassen könne. Der Verstand bleibt ewig
in die Grenzen der sinnlichen Erfahrung von Raum und Zeit gebannt, die
Vernunft aber greift darüber hinaus und erfaßt anschauend die ewigen Wahr¬
heiten: das transzendente Sein Gottes und die substantielle Einheit der Seele.
So sind die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis bestimmt, und eine
religiöse Weltanschauung ist "für den wissenschaftlich gebildeten Geist wieder
möglich und notwendig gemacht". Dieses Ergebnis übernahm Carlyle. In
der weiteren Ausgestaltung der Grundgedanken indessen zeigt er sich wesentlich
unabhängig von der deutschen Philosophie: sein Gottes- und Seelenbegriff geht
weit über das hinaus, was die idealistische Philosophie als "Postulat der
praktischen Vernunft" oder als "absoluten Grund" wollte gelten lassen. Wohl
ist er sich bewußt, daß unsere Begriffe und Namen dieser höchsten Idee gegen¬
über versagen, aber in der bildlichen Bezeichnung des höchsten Wesens nähert
er sich mit der Zeit immer mehr den alttestamentlichen Vorstellungen seiner
Jugend und entfernt sich von der philosophischen Ausdrucksweise.




Das sind im wesentlichen die Grundgedanken der neuen Weltbetrachtung,
zu der die innere Entwicklung Thomas Carlyles schließlich hinführte. Raum
und Zeit sind nur die beschränkten Formen unserer Anschauung von der
Ewigkeit und Unendlichkeit Gottes. Des Menschen höchstes Glück und höchste
Aufgabe ist es, die Ewigkeit im Zeitlichen zu schauen, Gott in seiner Er¬
scheinungswelt zu erkennen. Soweit der Mensch eine gottverwandte Seele hat,
soweit er die sinnliche Natur durch den Geist beherrscht, vermag er sich über


Der deutsche Idealismus

die mathematische Konstruktion der mechanischen Naturgesetze, die Gültigkeit
dieser Gesetze für die Welt der materiellen Erscheinungen zog er nicht in Zweifel.
Nicht umsonst hatte er jahrelang mit großem Eifer mathematische Studien
getrieben und Newton gelesen. Für seinen Glauben an die Freiheit des sitt¬
lichen Selbstbewußtseins fehlte ihm anfangs in der Tat die wissenschaftliche
Begründung. In diesem Stadium seiner Gedankenentwicklung kam ihm nun¬
mehr die deutsche Philosophie zu Hilfe. Aus Kant entnahm er den Grund¬
gedanken der „transzendentalen Ästhetik": Raum und Zeit sind nur Anschauungs¬
formen des denkenden Bewußtseins, keine metaphysischen Realitäten; die Körper¬
welt besteht nicht aus „Dingen an sich", sondern aus bloßen Erscheinungen.
Also, folgerte Carlyle, ist der Materialismus und jede Weltbetrachtung, die
den Objekten absolute Realität zuspricht und die Selbständigkeit des Geistes im
Verhältnis zur Erscheinungswelt bezweifelt, wissenschaftlich widerlegt. Das war
ihm die Hauptsache; er verstand, daß die idealistische Weltbetrachtung, die er
aus der „höheren deutschen Literatur" kennen gelernt hatte, aus kantischen Boden
beruhe; um die philosophischen Argumente im einzelnen kümmerte er sich nicht
allzuviel. Die kantische Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft (im
engeren Sinne) übernahm er in einer gewissen Vergröberung. Er glaubte mit
ihrer Hilfe zu verstehen, warum die mathematisch-mechanische Weltbetrachtung
nur die eine Seite der Wirklichkeit erfassen könne. Der Verstand bleibt ewig
in die Grenzen der sinnlichen Erfahrung von Raum und Zeit gebannt, die
Vernunft aber greift darüber hinaus und erfaßt anschauend die ewigen Wahr¬
heiten: das transzendente Sein Gottes und die substantielle Einheit der Seele.
So sind die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis bestimmt, und eine
religiöse Weltanschauung ist „für den wissenschaftlich gebildeten Geist wieder
möglich und notwendig gemacht". Dieses Ergebnis übernahm Carlyle. In
der weiteren Ausgestaltung der Grundgedanken indessen zeigt er sich wesentlich
unabhängig von der deutschen Philosophie: sein Gottes- und Seelenbegriff geht
weit über das hinaus, was die idealistische Philosophie als „Postulat der
praktischen Vernunft" oder als „absoluten Grund" wollte gelten lassen. Wohl
ist er sich bewußt, daß unsere Begriffe und Namen dieser höchsten Idee gegen¬
über versagen, aber in der bildlichen Bezeichnung des höchsten Wesens nähert
er sich mit der Zeit immer mehr den alttestamentlichen Vorstellungen seiner
Jugend und entfernt sich von der philosophischen Ausdrucksweise.




Das sind im wesentlichen die Grundgedanken der neuen Weltbetrachtung,
zu der die innere Entwicklung Thomas Carlyles schließlich hinführte. Raum
und Zeit sind nur die beschränkten Formen unserer Anschauung von der
Ewigkeit und Unendlichkeit Gottes. Des Menschen höchstes Glück und höchste
Aufgabe ist es, die Ewigkeit im Zeitlichen zu schauen, Gott in seiner Er¬
scheinungswelt zu erkennen. Soweit der Mensch eine gottverwandte Seele hat,
soweit er die sinnliche Natur durch den Geist beherrscht, vermag er sich über


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[0137] Der deutsche Idealismus die mathematische Konstruktion der mechanischen Naturgesetze, die Gültigkeit dieser Gesetze für die Welt der materiellen Erscheinungen zog er nicht in Zweifel. Nicht umsonst hatte er jahrelang mit großem Eifer mathematische Studien getrieben und Newton gelesen. Für seinen Glauben an die Freiheit des sitt¬ lichen Selbstbewußtseins fehlte ihm anfangs in der Tat die wissenschaftliche Begründung. In diesem Stadium seiner Gedankenentwicklung kam ihm nun¬ mehr die deutsche Philosophie zu Hilfe. Aus Kant entnahm er den Grund¬ gedanken der „transzendentalen Ästhetik": Raum und Zeit sind nur Anschauungs¬ formen des denkenden Bewußtseins, keine metaphysischen Realitäten; die Körper¬ welt besteht nicht aus „Dingen an sich", sondern aus bloßen Erscheinungen. Also, folgerte Carlyle, ist der Materialismus und jede Weltbetrachtung, die den Objekten absolute Realität zuspricht und die Selbständigkeit des Geistes im Verhältnis zur Erscheinungswelt bezweifelt, wissenschaftlich widerlegt. Das war ihm die Hauptsache; er verstand, daß die idealistische Weltbetrachtung, die er aus der „höheren deutschen Literatur" kennen gelernt hatte, aus kantischen Boden beruhe; um die philosophischen Argumente im einzelnen kümmerte er sich nicht allzuviel. Die kantische Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft (im engeren Sinne) übernahm er in einer gewissen Vergröberung. Er glaubte mit ihrer Hilfe zu verstehen, warum die mathematisch-mechanische Weltbetrachtung nur die eine Seite der Wirklichkeit erfassen könne. Der Verstand bleibt ewig in die Grenzen der sinnlichen Erfahrung von Raum und Zeit gebannt, die Vernunft aber greift darüber hinaus und erfaßt anschauend die ewigen Wahr¬ heiten: das transzendente Sein Gottes und die substantielle Einheit der Seele. So sind die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis bestimmt, und eine religiöse Weltanschauung ist „für den wissenschaftlich gebildeten Geist wieder möglich und notwendig gemacht". Dieses Ergebnis übernahm Carlyle. In der weiteren Ausgestaltung der Grundgedanken indessen zeigt er sich wesentlich unabhängig von der deutschen Philosophie: sein Gottes- und Seelenbegriff geht weit über das hinaus, was die idealistische Philosophie als „Postulat der praktischen Vernunft" oder als „absoluten Grund" wollte gelten lassen. Wohl ist er sich bewußt, daß unsere Begriffe und Namen dieser höchsten Idee gegen¬ über versagen, aber in der bildlichen Bezeichnung des höchsten Wesens nähert er sich mit der Zeit immer mehr den alttestamentlichen Vorstellungen seiner Jugend und entfernt sich von der philosophischen Ausdrucksweise. Das sind im wesentlichen die Grundgedanken der neuen Weltbetrachtung, zu der die innere Entwicklung Thomas Carlyles schließlich hinführte. Raum und Zeit sind nur die beschränkten Formen unserer Anschauung von der Ewigkeit und Unendlichkeit Gottes. Des Menschen höchstes Glück und höchste Aufgabe ist es, die Ewigkeit im Zeitlichen zu schauen, Gott in seiner Er¬ scheinungswelt zu erkennen. Soweit der Mensch eine gottverwandte Seele hat, soweit er die sinnliche Natur durch den Geist beherrscht, vermag er sich über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/137>, abgerufen am 04.07.2024.