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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Idealismus

sprächen neue Elemente der Schönheit sowohl als der Güte findend." "Selbst
in seinem Lächeln liegt vielleicht ein rührendes Pathos verborgen, ein Kummer,
der für Tränen viel zu tief ist." Denn dieser Geist "dringt in die verborgensten
Kombinationen der Dinge" und "brütet über den Abgründen des Daseins;
indeni er alle Dinge umfaßt, adelt und belebt er sie alle, selbst die leblose
Natur." Eben diese Belebung der ganzen Natur durch den Geist, der "die
Unendlichkeit durchschweift", war sicherlich die letzte Ursache für den starken
Eindruck, den Carlyle von Jean Pauls Schriften empfing. Hier sah er den
Zusammenhang alles Lebendigen nicht als einen toten Mechanismus, sondern
als ein unendliches Geheimnis erfaßt; durch die kleinen Geräusche des Alltags
klingt es ja bei Jean Paul stets hindurch wie ein wehmutsvoller Ton von der
Ewigkeit her. Nach der nüchternen Verständigkeit der englischen Prosa mag
diese Lektüre auf Carlyle gewirkt haben wie ein Labetrun! nach langer Wan¬
derung in der Dürre. Und so kam es wohl, daß er bald auch in dem phan¬
tastisch umherschweifenden Sprachstil des Romantikers die adäquate Ausdrucks¬
form für seine eigene, unruhig drängende Gedankenwelt zu finden glaubte*).

Aber auch Jean Paul gab Carlyle bei weitem nicht das, was er suchte:
nur verschwommene Stimmungen, keine klaren Gedankenzusammenhänge hatte
der romantische Poet mitzuteilen. Viel wichtiger und recht eigentlich entscheidend
wurde dagegen für den großen Schotten die Bekanntschaft mit Goethe. Nur
darf man nicht meinen, daß er gerade die Grundgedanken seiner späteren Welt¬
auffassung bei dem Weisen von Weimar habe finden können; vielmehr stehen
diese, wie sich zeigen wird, teilweise in geradem Widerspruch zu den LieblingS-
ideen Goethes. Aber durch eine Seite des Goethescher Wesens fühlte sich
Carlyle von vornherein angezogen, die er bei vielen der deutschen Idealisten
vermißte: durch den ausgeprägten Wirklichkeitssinn des großen Dichters. Das
schien ihm vor allem bewunderungswürdig an Goethe, daß dieser die ganze
Wirklichkeit der Natur und Geisteswelt mit seinem Geist umfaßte und durch¬
drang -- und dann trotz aller Widersprüche und Negationen des Lebens doch
zu einer freudigen Bejahung, einer harmonischen Weltauffassung gelangte. Auch
Carlyle war im Grunde ein Realist im Goethescher Sinne, kein Mann des
rein abstrakten Denkens; schon während die philosophischen Grundsätze
seiner neuen Weltauffassung in ihm reiften, waren zugleich tausend Fragen des
praktischen Kulturlebens in ihm lebendig geworden: ein gärendes Gedankenchaos
tat sich auf, für das er sich vergebens um feste Gestaltung mühte. Da wurde
ihm Goethe, der große Lebenskenner und Wortkünstler, zum unschätzbaren Helfer.
Carlyle empfand, daß die Form der Goethescher Weltbetrachtung seinen eigenen
Gedanken weithin adäquat sei; und so fand er in den Bildern und Gleichnissen
des weisen Dichters sein unklares Ahnen oft überraschend greifbar zum Wort
gestaltet. Gerade das war aber für ihn von großer Bedeutung. "Erst das



") Dieser stilistische Einfluß Jean Pauls ist meines Erachtens bisher zu einseitig betont,
der sachliche Einflusz dagegen meist beinahe übersehen worden.
Grenzboten I 1913 9
Der deutsche Idealismus

sprächen neue Elemente der Schönheit sowohl als der Güte findend." „Selbst
in seinem Lächeln liegt vielleicht ein rührendes Pathos verborgen, ein Kummer,
der für Tränen viel zu tief ist." Denn dieser Geist „dringt in die verborgensten
Kombinationen der Dinge" und „brütet über den Abgründen des Daseins;
indeni er alle Dinge umfaßt, adelt und belebt er sie alle, selbst die leblose
Natur." Eben diese Belebung der ganzen Natur durch den Geist, der „die
Unendlichkeit durchschweift", war sicherlich die letzte Ursache für den starken
Eindruck, den Carlyle von Jean Pauls Schriften empfing. Hier sah er den
Zusammenhang alles Lebendigen nicht als einen toten Mechanismus, sondern
als ein unendliches Geheimnis erfaßt; durch die kleinen Geräusche des Alltags
klingt es ja bei Jean Paul stets hindurch wie ein wehmutsvoller Ton von der
Ewigkeit her. Nach der nüchternen Verständigkeit der englischen Prosa mag
diese Lektüre auf Carlyle gewirkt haben wie ein Labetrun! nach langer Wan¬
derung in der Dürre. Und so kam es wohl, daß er bald auch in dem phan¬
tastisch umherschweifenden Sprachstil des Romantikers die adäquate Ausdrucks¬
form für seine eigene, unruhig drängende Gedankenwelt zu finden glaubte*).

Aber auch Jean Paul gab Carlyle bei weitem nicht das, was er suchte:
nur verschwommene Stimmungen, keine klaren Gedankenzusammenhänge hatte
der romantische Poet mitzuteilen. Viel wichtiger und recht eigentlich entscheidend
wurde dagegen für den großen Schotten die Bekanntschaft mit Goethe. Nur
darf man nicht meinen, daß er gerade die Grundgedanken seiner späteren Welt¬
auffassung bei dem Weisen von Weimar habe finden können; vielmehr stehen
diese, wie sich zeigen wird, teilweise in geradem Widerspruch zu den LieblingS-
ideen Goethes. Aber durch eine Seite des Goethescher Wesens fühlte sich
Carlyle von vornherein angezogen, die er bei vielen der deutschen Idealisten
vermißte: durch den ausgeprägten Wirklichkeitssinn des großen Dichters. Das
schien ihm vor allem bewunderungswürdig an Goethe, daß dieser die ganze
Wirklichkeit der Natur und Geisteswelt mit seinem Geist umfaßte und durch¬
drang — und dann trotz aller Widersprüche und Negationen des Lebens doch
zu einer freudigen Bejahung, einer harmonischen Weltauffassung gelangte. Auch
Carlyle war im Grunde ein Realist im Goethescher Sinne, kein Mann des
rein abstrakten Denkens; schon während die philosophischen Grundsätze
seiner neuen Weltauffassung in ihm reiften, waren zugleich tausend Fragen des
praktischen Kulturlebens in ihm lebendig geworden: ein gärendes Gedankenchaos
tat sich auf, für das er sich vergebens um feste Gestaltung mühte. Da wurde
ihm Goethe, der große Lebenskenner und Wortkünstler, zum unschätzbaren Helfer.
Carlyle empfand, daß die Form der Goethescher Weltbetrachtung seinen eigenen
Gedanken weithin adäquat sei; und so fand er in den Bildern und Gleichnissen
des weisen Dichters sein unklares Ahnen oft überraschend greifbar zum Wort
gestaltet. Gerade das war aber für ihn von großer Bedeutung. „Erst das



") Dieser stilistische Einfluß Jean Pauls ist meines Erachtens bisher zu einseitig betont,
der sachliche Einflusz dagegen meist beinahe übersehen worden.
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[0133] Der deutsche Idealismus sprächen neue Elemente der Schönheit sowohl als der Güte findend." „Selbst in seinem Lächeln liegt vielleicht ein rührendes Pathos verborgen, ein Kummer, der für Tränen viel zu tief ist." Denn dieser Geist „dringt in die verborgensten Kombinationen der Dinge" und „brütet über den Abgründen des Daseins; indeni er alle Dinge umfaßt, adelt und belebt er sie alle, selbst die leblose Natur." Eben diese Belebung der ganzen Natur durch den Geist, der „die Unendlichkeit durchschweift", war sicherlich die letzte Ursache für den starken Eindruck, den Carlyle von Jean Pauls Schriften empfing. Hier sah er den Zusammenhang alles Lebendigen nicht als einen toten Mechanismus, sondern als ein unendliches Geheimnis erfaßt; durch die kleinen Geräusche des Alltags klingt es ja bei Jean Paul stets hindurch wie ein wehmutsvoller Ton von der Ewigkeit her. Nach der nüchternen Verständigkeit der englischen Prosa mag diese Lektüre auf Carlyle gewirkt haben wie ein Labetrun! nach langer Wan¬ derung in der Dürre. Und so kam es wohl, daß er bald auch in dem phan¬ tastisch umherschweifenden Sprachstil des Romantikers die adäquate Ausdrucks¬ form für seine eigene, unruhig drängende Gedankenwelt zu finden glaubte*). Aber auch Jean Paul gab Carlyle bei weitem nicht das, was er suchte: nur verschwommene Stimmungen, keine klaren Gedankenzusammenhänge hatte der romantische Poet mitzuteilen. Viel wichtiger und recht eigentlich entscheidend wurde dagegen für den großen Schotten die Bekanntschaft mit Goethe. Nur darf man nicht meinen, daß er gerade die Grundgedanken seiner späteren Welt¬ auffassung bei dem Weisen von Weimar habe finden können; vielmehr stehen diese, wie sich zeigen wird, teilweise in geradem Widerspruch zu den LieblingS- ideen Goethes. Aber durch eine Seite des Goethescher Wesens fühlte sich Carlyle von vornherein angezogen, die er bei vielen der deutschen Idealisten vermißte: durch den ausgeprägten Wirklichkeitssinn des großen Dichters. Das schien ihm vor allem bewunderungswürdig an Goethe, daß dieser die ganze Wirklichkeit der Natur und Geisteswelt mit seinem Geist umfaßte und durch¬ drang — und dann trotz aller Widersprüche und Negationen des Lebens doch zu einer freudigen Bejahung, einer harmonischen Weltauffassung gelangte. Auch Carlyle war im Grunde ein Realist im Goethescher Sinne, kein Mann des rein abstrakten Denkens; schon während die philosophischen Grundsätze seiner neuen Weltauffassung in ihm reiften, waren zugleich tausend Fragen des praktischen Kulturlebens in ihm lebendig geworden: ein gärendes Gedankenchaos tat sich auf, für das er sich vergebens um feste Gestaltung mühte. Da wurde ihm Goethe, der große Lebenskenner und Wortkünstler, zum unschätzbaren Helfer. Carlyle empfand, daß die Form der Goethescher Weltbetrachtung seinen eigenen Gedanken weithin adäquat sei; und so fand er in den Bildern und Gleichnissen des weisen Dichters sein unklares Ahnen oft überraschend greifbar zum Wort gestaltet. Gerade das war aber für ihn von großer Bedeutung. „Erst das ") Dieser stilistische Einfluß Jean Pauls ist meines Erachtens bisher zu einseitig betont, der sachliche Einflusz dagegen meist beinahe übersehen worden. Grenzboten I 1913 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/133>, abgerufen am 24.08.2024.