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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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ver deutsche Idealismus

Wort entbindet den Gedanken, befreit vom Druck der Unklarheit" -- wie ein
Carlylekenner treffend bemerkt hat. An der Goethescher Lebensanschauung
rankten sich die Ideen Carlyles gewissermaßen empor.

Dabei war ihm besonders wertvoll, das Leben des großen Dichters zu
betrachten: er sah, daß auch dieser reine und tapfere Geist einst gelitten hatte
unter dem Mangel einer festen Lebensanschauung -- daß er sich dann aber
kraftvoll aus dem haltlosen Schwanken der Wertherperiode erhoben hatte zu
ruhiger Klarheit über sich selbst und die Welt. In dem zügellosen Subjektivismus,
dem egoistischen Selbstgenuß des "Werthertums" erkannte Carlyle die typische
Zeitkrankheit wieder, die auch ihn quälte, solange er noch unter der Herrschaft
des selbstsüchtigen Glücksoerlangens gestanden hatte, das ihm die mechanistische
Weltauffassung einreden wollte. Darum schätzte er die Altersschriften Goethes am
höchsten: "Wilhelm Meister" vor allem, den Erziehungsroman, in dem der
Held aus sinnlicher Triebbestimmtheit und egoistischen Glücksstreben zu ent¬
sagender Arbeit für die Gemeinschaft, zu bescheidener, aber fruchtbarer Tätigkeit
in bestimmtem Kreise geführt wird. Mit tiefster Ergriffenheit las Carlyle die
Stelle in den "Wanderjahren", wo der Wanderer von den Weisen der "päda¬
gogischen Provinz" belehrt wird über die dreierlei Arten von "Ehrfurcht": vor
dem, was über uns ist, dem, was uns gleich, und dem, was unter uns ist.
Hier glaubte er endlich zu finden, was er unablässig suchte, seit ihm der Glaube
seiner Väter versunken war: die neue religiöse Weltauffassung. Seitdem war
ihm Goethe unendlich verehrungswürdig als der erste wahrhaft moderne Mensch,
der sich seinen Glauben an überindividuelle Mächte, an das sittliche Pflichtgebot
und an den Wert der menschlichen Gemeinschaft selbst erobert hat. Es war
ihm ein tröstlicher Gedanke, in diesem skeptischen Zeitalter einen solchen Helden
zu sehen: einen Mann, der mitten im Leben stand und alle Anregungen seiner
Zeit in sich aufzunehmen wußte wie kaum ein zweiter, und der doch nicht
gefangen wurde von dem Treiben und der Unruhe seiner Tage, sondern sich
selbst in olympischer Ruhe und Überlegenheit zu behaupten wußte, weil sein
Geist aus Ewigkeitsgedanken lebte -- ein Prophet im höchsten Sinne.
'




Dieser gewaltige Eindruck trat gerade im entscheidenden Augenblick in das
Leben Carlyles -- immer tiefer befestigt durch einen inhaltreichen Briefwechsel,
der schon bald den Weimarer Alten mit seinem Verehrer persönlich verband.
Er wirkte klärend, festigend auch auf die sittliche Entwicklung Carlyles ein.
Solange dieser noch von den Ideen des "Benthamismus" gefangen war, hatte
er dem Schicksal gegrollt, weil es seinem Streben hartnäckig den Erfolg versagte.
Dann war die Stimmung des Trotzes über ihn gekommen, die bald darauf zu
einer stillen Verachtung der Welt verraucht war. In der Stunde seiner geistigen
Revolution hatte er alle Furcht vor dem zermalmenden Mechanismus des
Weltalls abgeschüttelt, hatte aber auch jede Hoffnung begraben, von dieser Um¬
welt, die seinem Ich so fremd und feindselig gegenüberstand, jemals persönliches


ver deutsche Idealismus

Wort entbindet den Gedanken, befreit vom Druck der Unklarheit" — wie ein
Carlylekenner treffend bemerkt hat. An der Goethescher Lebensanschauung
rankten sich die Ideen Carlyles gewissermaßen empor.

Dabei war ihm besonders wertvoll, das Leben des großen Dichters zu
betrachten: er sah, daß auch dieser reine und tapfere Geist einst gelitten hatte
unter dem Mangel einer festen Lebensanschauung — daß er sich dann aber
kraftvoll aus dem haltlosen Schwanken der Wertherperiode erhoben hatte zu
ruhiger Klarheit über sich selbst und die Welt. In dem zügellosen Subjektivismus,
dem egoistischen Selbstgenuß des „Werthertums" erkannte Carlyle die typische
Zeitkrankheit wieder, die auch ihn quälte, solange er noch unter der Herrschaft
des selbstsüchtigen Glücksoerlangens gestanden hatte, das ihm die mechanistische
Weltauffassung einreden wollte. Darum schätzte er die Altersschriften Goethes am
höchsten: „Wilhelm Meister" vor allem, den Erziehungsroman, in dem der
Held aus sinnlicher Triebbestimmtheit und egoistischen Glücksstreben zu ent¬
sagender Arbeit für die Gemeinschaft, zu bescheidener, aber fruchtbarer Tätigkeit
in bestimmtem Kreise geführt wird. Mit tiefster Ergriffenheit las Carlyle die
Stelle in den „Wanderjahren", wo der Wanderer von den Weisen der „päda¬
gogischen Provinz" belehrt wird über die dreierlei Arten von „Ehrfurcht": vor
dem, was über uns ist, dem, was uns gleich, und dem, was unter uns ist.
Hier glaubte er endlich zu finden, was er unablässig suchte, seit ihm der Glaube
seiner Väter versunken war: die neue religiöse Weltauffassung. Seitdem war
ihm Goethe unendlich verehrungswürdig als der erste wahrhaft moderne Mensch,
der sich seinen Glauben an überindividuelle Mächte, an das sittliche Pflichtgebot
und an den Wert der menschlichen Gemeinschaft selbst erobert hat. Es war
ihm ein tröstlicher Gedanke, in diesem skeptischen Zeitalter einen solchen Helden
zu sehen: einen Mann, der mitten im Leben stand und alle Anregungen seiner
Zeit in sich aufzunehmen wußte wie kaum ein zweiter, und der doch nicht
gefangen wurde von dem Treiben und der Unruhe seiner Tage, sondern sich
selbst in olympischer Ruhe und Überlegenheit zu behaupten wußte, weil sein
Geist aus Ewigkeitsgedanken lebte — ein Prophet im höchsten Sinne.
'




Dieser gewaltige Eindruck trat gerade im entscheidenden Augenblick in das
Leben Carlyles — immer tiefer befestigt durch einen inhaltreichen Briefwechsel,
der schon bald den Weimarer Alten mit seinem Verehrer persönlich verband.
Er wirkte klärend, festigend auch auf die sittliche Entwicklung Carlyles ein.
Solange dieser noch von den Ideen des „Benthamismus" gefangen war, hatte
er dem Schicksal gegrollt, weil es seinem Streben hartnäckig den Erfolg versagte.
Dann war die Stimmung des Trotzes über ihn gekommen, die bald darauf zu
einer stillen Verachtung der Welt verraucht war. In der Stunde seiner geistigen
Revolution hatte er alle Furcht vor dem zermalmenden Mechanismus des
Weltalls abgeschüttelt, hatte aber auch jede Hoffnung begraben, von dieser Um¬
welt, die seinem Ich so fremd und feindselig gegenüberstand, jemals persönliches


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/134>, abgerufen am 22.12.2024.