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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Idealismus

allen positiven Kulturaufgaben -- alle diese Forderungen ergeben sich not¬
wendig aus der Auflösung des politischen und sozialen Organismus in seine
Atome, in die Summe der Einzelindividuen.

So stellte sich schließlich dem englischen Denken das ganze Kulturleben als
ein geschlossener großer Naturprozeß dar, der von immanenten Kräften gesetz¬
mäßig vorwärts getrieben wird und für die Einwirkung transzendenter Mächte
oder freier Willensentscheidungen des Individuums nirgends Raum bietet.
Zwar vermied es die englische Philosophie mit eigentümlicher Inkonsequenz und
Selbstbeschränkung, die Summe ihrer Gedanken zu einem abgerundeten System
zusammenzuschließen, das ja schließlich zu materialistischen Forderungen hätte
führen müssen. Aber darum war ihre tatsächliche Einheitlichkeit doch nicht
minder anschaulich und eindrucksvoll für jeden, der imstande war, alle diese
Ideen persönlich in einem Bilde zusammenzufassen.

Th. Carlyle drang bald zu dieser Erkenntnis vor. Das Studium Newtons
und der Mathematiker, die Lektüre Gibbons und Benthams führten ihn mitten
hinein in die Grundgedanken der englischen Aufklärung. Es konnte nicht aus¬
bleiben, daß er sich von hier aus zur Kritik der überkommenen Glaubensvor¬
stellungen wandte. In schmerzlichen, langdauernden Kämpfen vollzog sich in
ihm eine gründliche Auseinandersetzung zwischen "Glauben und Wissen".
Charakteristisch für die Eigenart des Carlyleschen Geistes ist dabei die uner¬
bittliche Ehrlichkeit und Energie, mit den er den einmal betretenen Weg bis
zum Ende verfolgte. Sein ganzes Leben hatte bisher auf den Überzeugungen
seines Kindheitsglaubens beruht; als ihm dieser ins Wanken geriet, fand er
keine Ruhe, bis er zur völligen Klarheit über sich selbst und die Welt gekommen
war. Diese Aufgabe war ihm über alles wichtig: ehe er sie zu Ende gebracht,
war er unfähig, an irgendeiner äußeren Tätigkeit Befriedigung zu finden.
Noch im Alter sprach er mit innerer Bewegung von diesen Jahren des ver¬
zweifelten Suchens: "Und die Stimme kam zu mir und sagte: .Steh' auf und
löse das Problem deines Lebens' . . . Und so ging ich in meine Kammer und
schloß die Tür, und um mich erhoben sich endlose Scharen fürchterlicher Ge¬
stalten aus den tiefsten Abgründen der Hölle. Zweifel, Furcht, Unglauben,
Spott und Hohn waren da; und ich stand auf, rang mit ihnen in Geistes¬
nöten und Geistespein. Ob ich aß, weiß ich nicht; ob ich schlief, weiß ich
nicht" . . . Unstet umhergetrieben, auch in dauernder materieller Not, bald als
Lehrer in Arran, dann in Kirkcaldy, bald wieder in Edinburgh in literarischer
Tätigkeit, emsig forschend auf allen ihm erreichbaren Wissensgebieten, aber
überall unbefriedigt, so lebte er damals in quälender innerer und äußerer
Unruhe. Aber er ersparte sich nichts von den Bitterkeiten, die ihm die neue
Erkenntnis zu bringen drohte; ihm war es unmöglich, vor den letzten Ge¬
heimnissen des Lebens Halt zu machen, wie es seine englischen Landsleute so
oft zu tun pflegten, um Konflikte mit den Grundlehren der Religion zu ver¬
meiden. Da er in der englischen Philosophie nirgends den systematischen Ge-


Der deutsche Idealismus

allen positiven Kulturaufgaben — alle diese Forderungen ergeben sich not¬
wendig aus der Auflösung des politischen und sozialen Organismus in seine
Atome, in die Summe der Einzelindividuen.

So stellte sich schließlich dem englischen Denken das ganze Kulturleben als
ein geschlossener großer Naturprozeß dar, der von immanenten Kräften gesetz¬
mäßig vorwärts getrieben wird und für die Einwirkung transzendenter Mächte
oder freier Willensentscheidungen des Individuums nirgends Raum bietet.
Zwar vermied es die englische Philosophie mit eigentümlicher Inkonsequenz und
Selbstbeschränkung, die Summe ihrer Gedanken zu einem abgerundeten System
zusammenzuschließen, das ja schließlich zu materialistischen Forderungen hätte
führen müssen. Aber darum war ihre tatsächliche Einheitlichkeit doch nicht
minder anschaulich und eindrucksvoll für jeden, der imstande war, alle diese
Ideen persönlich in einem Bilde zusammenzufassen.

Th. Carlyle drang bald zu dieser Erkenntnis vor. Das Studium Newtons
und der Mathematiker, die Lektüre Gibbons und Benthams führten ihn mitten
hinein in die Grundgedanken der englischen Aufklärung. Es konnte nicht aus¬
bleiben, daß er sich von hier aus zur Kritik der überkommenen Glaubensvor¬
stellungen wandte. In schmerzlichen, langdauernden Kämpfen vollzog sich in
ihm eine gründliche Auseinandersetzung zwischen „Glauben und Wissen".
Charakteristisch für die Eigenart des Carlyleschen Geistes ist dabei die uner¬
bittliche Ehrlichkeit und Energie, mit den er den einmal betretenen Weg bis
zum Ende verfolgte. Sein ganzes Leben hatte bisher auf den Überzeugungen
seines Kindheitsglaubens beruht; als ihm dieser ins Wanken geriet, fand er
keine Ruhe, bis er zur völligen Klarheit über sich selbst und die Welt gekommen
war. Diese Aufgabe war ihm über alles wichtig: ehe er sie zu Ende gebracht,
war er unfähig, an irgendeiner äußeren Tätigkeit Befriedigung zu finden.
Noch im Alter sprach er mit innerer Bewegung von diesen Jahren des ver¬
zweifelten Suchens: „Und die Stimme kam zu mir und sagte: .Steh' auf und
löse das Problem deines Lebens' . . . Und so ging ich in meine Kammer und
schloß die Tür, und um mich erhoben sich endlose Scharen fürchterlicher Ge¬
stalten aus den tiefsten Abgründen der Hölle. Zweifel, Furcht, Unglauben,
Spott und Hohn waren da; und ich stand auf, rang mit ihnen in Geistes¬
nöten und Geistespein. Ob ich aß, weiß ich nicht; ob ich schlief, weiß ich
nicht" . . . Unstet umhergetrieben, auch in dauernder materieller Not, bald als
Lehrer in Arran, dann in Kirkcaldy, bald wieder in Edinburgh in literarischer
Tätigkeit, emsig forschend auf allen ihm erreichbaren Wissensgebieten, aber
überall unbefriedigt, so lebte er damals in quälender innerer und äußerer
Unruhe. Aber er ersparte sich nichts von den Bitterkeiten, die ihm die neue
Erkenntnis zu bringen drohte; ihm war es unmöglich, vor den letzten Ge¬
heimnissen des Lebens Halt zu machen, wie es seine englischen Landsleute so
oft zu tun pflegten, um Konflikte mit den Grundlehren der Religion zu ver¬
meiden. Da er in der englischen Philosophie nirgends den systematischen Ge-


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[0128] Der deutsche Idealismus allen positiven Kulturaufgaben — alle diese Forderungen ergeben sich not¬ wendig aus der Auflösung des politischen und sozialen Organismus in seine Atome, in die Summe der Einzelindividuen. So stellte sich schließlich dem englischen Denken das ganze Kulturleben als ein geschlossener großer Naturprozeß dar, der von immanenten Kräften gesetz¬ mäßig vorwärts getrieben wird und für die Einwirkung transzendenter Mächte oder freier Willensentscheidungen des Individuums nirgends Raum bietet. Zwar vermied es die englische Philosophie mit eigentümlicher Inkonsequenz und Selbstbeschränkung, die Summe ihrer Gedanken zu einem abgerundeten System zusammenzuschließen, das ja schließlich zu materialistischen Forderungen hätte führen müssen. Aber darum war ihre tatsächliche Einheitlichkeit doch nicht minder anschaulich und eindrucksvoll für jeden, der imstande war, alle diese Ideen persönlich in einem Bilde zusammenzufassen. Th. Carlyle drang bald zu dieser Erkenntnis vor. Das Studium Newtons und der Mathematiker, die Lektüre Gibbons und Benthams führten ihn mitten hinein in die Grundgedanken der englischen Aufklärung. Es konnte nicht aus¬ bleiben, daß er sich von hier aus zur Kritik der überkommenen Glaubensvor¬ stellungen wandte. In schmerzlichen, langdauernden Kämpfen vollzog sich in ihm eine gründliche Auseinandersetzung zwischen „Glauben und Wissen". Charakteristisch für die Eigenart des Carlyleschen Geistes ist dabei die uner¬ bittliche Ehrlichkeit und Energie, mit den er den einmal betretenen Weg bis zum Ende verfolgte. Sein ganzes Leben hatte bisher auf den Überzeugungen seines Kindheitsglaubens beruht; als ihm dieser ins Wanken geriet, fand er keine Ruhe, bis er zur völligen Klarheit über sich selbst und die Welt gekommen war. Diese Aufgabe war ihm über alles wichtig: ehe er sie zu Ende gebracht, war er unfähig, an irgendeiner äußeren Tätigkeit Befriedigung zu finden. Noch im Alter sprach er mit innerer Bewegung von diesen Jahren des ver¬ zweifelten Suchens: „Und die Stimme kam zu mir und sagte: .Steh' auf und löse das Problem deines Lebens' . . . Und so ging ich in meine Kammer und schloß die Tür, und um mich erhoben sich endlose Scharen fürchterlicher Ge¬ stalten aus den tiefsten Abgründen der Hölle. Zweifel, Furcht, Unglauben, Spott und Hohn waren da; und ich stand auf, rang mit ihnen in Geistes¬ nöten und Geistespein. Ob ich aß, weiß ich nicht; ob ich schlief, weiß ich nicht" . . . Unstet umhergetrieben, auch in dauernder materieller Not, bald als Lehrer in Arran, dann in Kirkcaldy, bald wieder in Edinburgh in literarischer Tätigkeit, emsig forschend auf allen ihm erreichbaren Wissensgebieten, aber überall unbefriedigt, so lebte er damals in quälender innerer und äußerer Unruhe. Aber er ersparte sich nichts von den Bitterkeiten, die ihm die neue Erkenntnis zu bringen drohte; ihm war es unmöglich, vor den letzten Ge¬ heimnissen des Lebens Halt zu machen, wie es seine englischen Landsleute so oft zu tun pflegten, um Konflikte mit den Grundlehren der Religion zu ver¬ meiden. Da er in der englischen Philosophie nirgends den systematischen Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/128>, abgerufen am 29.06.2024.