Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der deutsche Idealismus

sammenbruch seines Kindheitsglaubens unter den Eindrücken des wissenschaftlichen
Weltbildes, das er sich nach und nach aus seiner Beschäftigung mit der zeit¬
genössischen Literatur gewann.

Die philosophischen Grundlagen des englischen Wissenschaftsbetriebes hatten
sich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts zu einer ziemlich geschlossenen
Einheit ausgestaltet. AIs das wesentlich-gemeinsame Merkmal der englischen
Aufklärung (und weiterhin der Aufklärungsphilosophie überhaupt) trat Carlyle
die gleichmäßige Anwendung mechanischer Kategorien auf die physische wie auf
die seelische und geschichtlich-sittliche Welt entgegen. Wie Newton die mecha¬
nischen Gesetze der Körperwelt aus den bewegenden Kräften ihrer einfachsten
Gebilde mathematisch berechnete, so war es das gemeinsame Ziel der Psychologen,
Ethiker, Nationalökonomen und Historiker, alle Lebensvorgänge aus gesetzlichen
Zusammenhängen und mechanischen Bewegungen einfachster Bestandteile zu
erklären. Zu Anfang des neuen Jahrhunderts hatte auf allen Gebieten der
rationalistische Empirismus über die älteren theologischen Weltvorstellungen
gesiegt. Für Carlyle war die Ausgestaltung dieser Grundsätze in der englischen
Moralphilosophie am wichtigsten. Von der aufgeklärten Ethik wurden auch
die komplizierten Erscheinungen der Sittlichkeit auf einfachste Elemente, auf die
beiden Grundformen des Trieblebens, Lust und Unlust, zurückgeführt. Aus
ihnen sollten letzlich alle Wollungen entspringen, nicht nur die egoistisch-natur¬
haften, sondern ebensogut die "sittlich" genannten, die man ebenfalls aus dem
egoistischen Streben nach Lust und der Abneigung gegen Unlust zu erklären
versuchte. Demnach führte die Entwicklung der englischen Moralphilosophie
immer mehr dahin, daß die individuelle, egoistische Glückseligkeit als höchstes
Ziel aller Sittlichkeit dargestellt wurde. Seinen folgerichtigsten Ausdruck fand
dieser Militarismus durch Bentham, den klassischen Vertreter des englischen
Individualismus zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Zum Glück
des Individuums gehört nach Bentham notwendig der glückliche Zustand
der Gesellschaft; um diesen zu erhalten, muß der einzelne, der sittlich handeln
will, dem Wohle des ganzen gewisse Opfer bringen, die aber mittelbar ihm
selbst zugute kommen, weil sie ja zum Wohle der Gesellschaft beitragen. Die
ethische Forderung läuft demnach im wesentlichen auf eine vorsichtige Berechnung
des "wohlverstandenen egoistischen Interesses", auf eine Anweisung zur Ge¬
winnung möglichst großer Lustquanten hinaus. "Das größte Glück der größten
Anzahl" ist die oberste Forderung der Sozialethik.

Es ist hier nicht der Ort, die praktische Anwendung dieser Ideen auf das
Leben der Gesellschaft im Staate, auf Nationalwirtschaft und Politik, im
einzelnen darzulegen. Die nationalökonomtschen und politischen Forderungen
des Manchestertums wurden folgerichtig aus den obersten Grundsätzen des
Nationalismus hergeleitet; der Ruf nach unbegrenzter wirtschaftlicher und
politischer Bewegungsfreiheit des einzelnen Staatsbürgers, das politische Schlag¬
wort vom "Iai88er taire, laisser aller", die Entkleidung des Staates von


Der deutsche Idealismus

sammenbruch seines Kindheitsglaubens unter den Eindrücken des wissenschaftlichen
Weltbildes, das er sich nach und nach aus seiner Beschäftigung mit der zeit¬
genössischen Literatur gewann.

Die philosophischen Grundlagen des englischen Wissenschaftsbetriebes hatten
sich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts zu einer ziemlich geschlossenen
Einheit ausgestaltet. AIs das wesentlich-gemeinsame Merkmal der englischen
Aufklärung (und weiterhin der Aufklärungsphilosophie überhaupt) trat Carlyle
die gleichmäßige Anwendung mechanischer Kategorien auf die physische wie auf
die seelische und geschichtlich-sittliche Welt entgegen. Wie Newton die mecha¬
nischen Gesetze der Körperwelt aus den bewegenden Kräften ihrer einfachsten
Gebilde mathematisch berechnete, so war es das gemeinsame Ziel der Psychologen,
Ethiker, Nationalökonomen und Historiker, alle Lebensvorgänge aus gesetzlichen
Zusammenhängen und mechanischen Bewegungen einfachster Bestandteile zu
erklären. Zu Anfang des neuen Jahrhunderts hatte auf allen Gebieten der
rationalistische Empirismus über die älteren theologischen Weltvorstellungen
gesiegt. Für Carlyle war die Ausgestaltung dieser Grundsätze in der englischen
Moralphilosophie am wichtigsten. Von der aufgeklärten Ethik wurden auch
die komplizierten Erscheinungen der Sittlichkeit auf einfachste Elemente, auf die
beiden Grundformen des Trieblebens, Lust und Unlust, zurückgeführt. Aus
ihnen sollten letzlich alle Wollungen entspringen, nicht nur die egoistisch-natur¬
haften, sondern ebensogut die „sittlich" genannten, die man ebenfalls aus dem
egoistischen Streben nach Lust und der Abneigung gegen Unlust zu erklären
versuchte. Demnach führte die Entwicklung der englischen Moralphilosophie
immer mehr dahin, daß die individuelle, egoistische Glückseligkeit als höchstes
Ziel aller Sittlichkeit dargestellt wurde. Seinen folgerichtigsten Ausdruck fand
dieser Militarismus durch Bentham, den klassischen Vertreter des englischen
Individualismus zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Zum Glück
des Individuums gehört nach Bentham notwendig der glückliche Zustand
der Gesellschaft; um diesen zu erhalten, muß der einzelne, der sittlich handeln
will, dem Wohle des ganzen gewisse Opfer bringen, die aber mittelbar ihm
selbst zugute kommen, weil sie ja zum Wohle der Gesellschaft beitragen. Die
ethische Forderung läuft demnach im wesentlichen auf eine vorsichtige Berechnung
des „wohlverstandenen egoistischen Interesses", auf eine Anweisung zur Ge¬
winnung möglichst großer Lustquanten hinaus. „Das größte Glück der größten
Anzahl" ist die oberste Forderung der Sozialethik.

Es ist hier nicht der Ort, die praktische Anwendung dieser Ideen auf das
Leben der Gesellschaft im Staate, auf Nationalwirtschaft und Politik, im
einzelnen darzulegen. Die nationalökonomtschen und politischen Forderungen
des Manchestertums wurden folgerichtig aus den obersten Grundsätzen des
Nationalismus hergeleitet; der Ruf nach unbegrenzter wirtschaftlicher und
politischer Bewegungsfreiheit des einzelnen Staatsbürgers, das politische Schlag¬
wort vom „Iai88er taire, laisser aller", die Entkleidung des Staates von


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0127" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324997"/>
          <fw type="header" place="top"> Der deutsche Idealismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_392" prev="#ID_391"> sammenbruch seines Kindheitsglaubens unter den Eindrücken des wissenschaftlichen<lb/>
Weltbildes, das er sich nach und nach aus seiner Beschäftigung mit der zeit¬<lb/>
genössischen Literatur gewann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_393"> Die philosophischen Grundlagen des englischen Wissenschaftsbetriebes hatten<lb/>
sich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts zu einer ziemlich geschlossenen<lb/>
Einheit ausgestaltet. AIs das wesentlich-gemeinsame Merkmal der englischen<lb/>
Aufklärung (und weiterhin der Aufklärungsphilosophie überhaupt) trat Carlyle<lb/>
die gleichmäßige Anwendung mechanischer Kategorien auf die physische wie auf<lb/>
die seelische und geschichtlich-sittliche Welt entgegen. Wie Newton die mecha¬<lb/>
nischen Gesetze der Körperwelt aus den bewegenden Kräften ihrer einfachsten<lb/>
Gebilde mathematisch berechnete, so war es das gemeinsame Ziel der Psychologen,<lb/>
Ethiker, Nationalökonomen und Historiker, alle Lebensvorgänge aus gesetzlichen<lb/>
Zusammenhängen und mechanischen Bewegungen einfachster Bestandteile zu<lb/>
erklären. Zu Anfang des neuen Jahrhunderts hatte auf allen Gebieten der<lb/>
rationalistische Empirismus über die älteren theologischen Weltvorstellungen<lb/>
gesiegt. Für Carlyle war die Ausgestaltung dieser Grundsätze in der englischen<lb/>
Moralphilosophie am wichtigsten. Von der aufgeklärten Ethik wurden auch<lb/>
die komplizierten Erscheinungen der Sittlichkeit auf einfachste Elemente, auf die<lb/>
beiden Grundformen des Trieblebens, Lust und Unlust, zurückgeführt. Aus<lb/>
ihnen sollten letzlich alle Wollungen entspringen, nicht nur die egoistisch-natur¬<lb/>
haften, sondern ebensogut die &#x201E;sittlich" genannten, die man ebenfalls aus dem<lb/>
egoistischen Streben nach Lust und der Abneigung gegen Unlust zu erklären<lb/>
versuchte. Demnach führte die Entwicklung der englischen Moralphilosophie<lb/>
immer mehr dahin, daß die individuelle, egoistische Glückseligkeit als höchstes<lb/>
Ziel aller Sittlichkeit dargestellt wurde. Seinen folgerichtigsten Ausdruck fand<lb/>
dieser Militarismus durch Bentham, den klassischen Vertreter des englischen<lb/>
Individualismus zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Zum Glück<lb/>
des Individuums gehört nach Bentham notwendig der glückliche Zustand<lb/>
der Gesellschaft; um diesen zu erhalten, muß der einzelne, der sittlich handeln<lb/>
will, dem Wohle des ganzen gewisse Opfer bringen, die aber mittelbar ihm<lb/>
selbst zugute kommen, weil sie ja zum Wohle der Gesellschaft beitragen. Die<lb/>
ethische Forderung läuft demnach im wesentlichen auf eine vorsichtige Berechnung<lb/>
des &#x201E;wohlverstandenen egoistischen Interesses", auf eine Anweisung zur Ge¬<lb/>
winnung möglichst großer Lustquanten hinaus. &#x201E;Das größte Glück der größten<lb/>
Anzahl" ist die oberste Forderung der Sozialethik.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_394" next="#ID_395"> Es ist hier nicht der Ort, die praktische Anwendung dieser Ideen auf das<lb/>
Leben der Gesellschaft im Staate, auf Nationalwirtschaft und Politik, im<lb/>
einzelnen darzulegen. Die nationalökonomtschen und politischen Forderungen<lb/>
des Manchestertums wurden folgerichtig aus den obersten Grundsätzen des<lb/>
Nationalismus hergeleitet; der Ruf nach unbegrenzter wirtschaftlicher und<lb/>
politischer Bewegungsfreiheit des einzelnen Staatsbürgers, das politische Schlag¬<lb/>
wort vom &#x201E;Iai88er taire, laisser aller", die Entkleidung des Staates von</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0127] Der deutsche Idealismus sammenbruch seines Kindheitsglaubens unter den Eindrücken des wissenschaftlichen Weltbildes, das er sich nach und nach aus seiner Beschäftigung mit der zeit¬ genössischen Literatur gewann. Die philosophischen Grundlagen des englischen Wissenschaftsbetriebes hatten sich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts zu einer ziemlich geschlossenen Einheit ausgestaltet. AIs das wesentlich-gemeinsame Merkmal der englischen Aufklärung (und weiterhin der Aufklärungsphilosophie überhaupt) trat Carlyle die gleichmäßige Anwendung mechanischer Kategorien auf die physische wie auf die seelische und geschichtlich-sittliche Welt entgegen. Wie Newton die mecha¬ nischen Gesetze der Körperwelt aus den bewegenden Kräften ihrer einfachsten Gebilde mathematisch berechnete, so war es das gemeinsame Ziel der Psychologen, Ethiker, Nationalökonomen und Historiker, alle Lebensvorgänge aus gesetzlichen Zusammenhängen und mechanischen Bewegungen einfachster Bestandteile zu erklären. Zu Anfang des neuen Jahrhunderts hatte auf allen Gebieten der rationalistische Empirismus über die älteren theologischen Weltvorstellungen gesiegt. Für Carlyle war die Ausgestaltung dieser Grundsätze in der englischen Moralphilosophie am wichtigsten. Von der aufgeklärten Ethik wurden auch die komplizierten Erscheinungen der Sittlichkeit auf einfachste Elemente, auf die beiden Grundformen des Trieblebens, Lust und Unlust, zurückgeführt. Aus ihnen sollten letzlich alle Wollungen entspringen, nicht nur die egoistisch-natur¬ haften, sondern ebensogut die „sittlich" genannten, die man ebenfalls aus dem egoistischen Streben nach Lust und der Abneigung gegen Unlust zu erklären versuchte. Demnach führte die Entwicklung der englischen Moralphilosophie immer mehr dahin, daß die individuelle, egoistische Glückseligkeit als höchstes Ziel aller Sittlichkeit dargestellt wurde. Seinen folgerichtigsten Ausdruck fand dieser Militarismus durch Bentham, den klassischen Vertreter des englischen Individualismus zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Zum Glück des Individuums gehört nach Bentham notwendig der glückliche Zustand der Gesellschaft; um diesen zu erhalten, muß der einzelne, der sittlich handeln will, dem Wohle des ganzen gewisse Opfer bringen, die aber mittelbar ihm selbst zugute kommen, weil sie ja zum Wohle der Gesellschaft beitragen. Die ethische Forderung läuft demnach im wesentlichen auf eine vorsichtige Berechnung des „wohlverstandenen egoistischen Interesses", auf eine Anweisung zur Ge¬ winnung möglichst großer Lustquanten hinaus. „Das größte Glück der größten Anzahl" ist die oberste Forderung der Sozialethik. Es ist hier nicht der Ort, die praktische Anwendung dieser Ideen auf das Leben der Gesellschaft im Staate, auf Nationalwirtschaft und Politik, im einzelnen darzulegen. Die nationalökonomtschen und politischen Forderungen des Manchestertums wurden folgerichtig aus den obersten Grundsätzen des Nationalismus hergeleitet; der Ruf nach unbegrenzter wirtschaftlicher und politischer Bewegungsfreiheit des einzelnen Staatsbürgers, das politische Schlag¬ wort vom „Iai88er taire, laisser aller", die Entkleidung des Staates von

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/127
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/127>, abgerufen am 26.06.2024.