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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Idealismus

dankenabschluß fand, den er brauchte, so griff er nach den Systemen der fran¬
zösischen Materialisten. Immer weiter drang er in dieser Richtung, bis es ihm
in der Tat zur Überzeugung geworden war, daß "dies Weltall eine tote, enorme,
unermeßliche Dampfmaschine" sei, die "in stumpfer Gleichgültigkeit weiterrollt".




Aber Carlvle litt unsäglich unter der Notwendigkeit dieser Weltbetrachtung.
Sein ganzes inneres Leben stand in Hellem Widerspruch zu ihren Grundlehren.
Er empfand sich durchaus nicht als bloßes willenloses Glied einer unendlichen
Kausalkette, als einen bloßen Mechanismus aufgehäufter Sinneseindrücke, von
blind waltenden Assoziationsgesetzen und dem eintönigen Wechsel von Lust- und
Unlustgefühlen beherrscht. Es bäumte sich etwas in ihm auf gegen diese
mechanische Weltvorstellung -- ein unbesiegbarer Willenstrieb nach freier sitt¬
licher Betätigung aller seiner Kräfte, deren Möglichkeit doch der Verstand
leugnete und durch Naturgesetzlichkeit und egoistische Glückstriebe ersetzen wollte.
Darin zeigt sich am deutlichsten die nachhaltige Wirkung der religiösen Erziehung
Carlyles: er war gewöhnt, sein Handeln unter einen Pflichtbegriff zu stellen,
der mit der Frage nach dem individuellen Glück nicht das mindeste zu tun
hatte; mit der Überwindung dieses Ideals schwand für ihn alles Edle, Große.
Erstrebenswerte aus dem Leben dahin. Das Leben selbst verlor seinen Wert
für ihn; er fand sich einem "ewigen Nein" gegenüber, das ihm den Atem
raubte und wie ein "Albdruck" auf der Seele lag. Die Verzweiflung darüber
hat ihn -- so scheint es -- zeitweise bis nahe an den Selbstmord heran¬
getrieben. Aber das Bemerkenswerte ist gerade, daß sie zu keiner Zeit in
endgültige Resignation umschlug: er konnte sich doch niemals völlig davon über¬
zeugen, daß alles Streben nach "rein idealen" Zwecken nichts als Wahn und
verdeckter Eigennutz sei, und daß alles, "was wir Pflicht nennen, kein gött¬
licher Führer und Bote, sondern ein falsches, irdisches, aus Begierde und Furcht,
Galgen- und Tortureinflüssen zusammengesetztes Phantasiegebilde" darstellt.

Das war der feste Punkt, an dem allein eine innere Umkehr einsetzen
konnte. "Wie ist für den Menschen eine freie, sittliche Tat möglich, die ihn
über die eigenen sinnlichen Existenzbedingungen hinaushebt?" -- so etwa stellte
sich für Carlnle das große Welträtsel dar: als ein sittliches Problem. Er war
unfähig, aus der eudämonistischen Morallehre die praktischen Konsequenzen zu
ziehen; die Aussicht, persönliches Wohlbehagen durch selbstsüchtiges Glücksstreben
zu gewinnen, beflügelte nicht seine Tatkraft, sondern lähmte ihn vollends.
Obendrein mußte ihm die optimistische Anschauung des achtzehnten Jahr¬
hunderts, daß alle Tugend schließlich ihren Lohn in vermehrten Lustquanten
des Individuums finde, als bitterer Hohn auf sein eigenes Schicksal erscheinen.
Hatte er nicht stets gestrebt, das Gute zu tun? Und hatte er etwa seinen
gerechten Anteil am Glück von der Welt zurückerhalten? Er, der arme Student
und Schulmeister, dem das Leben nach endlosen Jahren fleißigster Studierarbcit


Der deutsche Idealismus

dankenabschluß fand, den er brauchte, so griff er nach den Systemen der fran¬
zösischen Materialisten. Immer weiter drang er in dieser Richtung, bis es ihm
in der Tat zur Überzeugung geworden war, daß „dies Weltall eine tote, enorme,
unermeßliche Dampfmaschine" sei, die „in stumpfer Gleichgültigkeit weiterrollt".




Aber Carlvle litt unsäglich unter der Notwendigkeit dieser Weltbetrachtung.
Sein ganzes inneres Leben stand in Hellem Widerspruch zu ihren Grundlehren.
Er empfand sich durchaus nicht als bloßes willenloses Glied einer unendlichen
Kausalkette, als einen bloßen Mechanismus aufgehäufter Sinneseindrücke, von
blind waltenden Assoziationsgesetzen und dem eintönigen Wechsel von Lust- und
Unlustgefühlen beherrscht. Es bäumte sich etwas in ihm auf gegen diese
mechanische Weltvorstellung — ein unbesiegbarer Willenstrieb nach freier sitt¬
licher Betätigung aller seiner Kräfte, deren Möglichkeit doch der Verstand
leugnete und durch Naturgesetzlichkeit und egoistische Glückstriebe ersetzen wollte.
Darin zeigt sich am deutlichsten die nachhaltige Wirkung der religiösen Erziehung
Carlyles: er war gewöhnt, sein Handeln unter einen Pflichtbegriff zu stellen,
der mit der Frage nach dem individuellen Glück nicht das mindeste zu tun
hatte; mit der Überwindung dieses Ideals schwand für ihn alles Edle, Große.
Erstrebenswerte aus dem Leben dahin. Das Leben selbst verlor seinen Wert
für ihn; er fand sich einem „ewigen Nein" gegenüber, das ihm den Atem
raubte und wie ein „Albdruck" auf der Seele lag. Die Verzweiflung darüber
hat ihn — so scheint es — zeitweise bis nahe an den Selbstmord heran¬
getrieben. Aber das Bemerkenswerte ist gerade, daß sie zu keiner Zeit in
endgültige Resignation umschlug: er konnte sich doch niemals völlig davon über¬
zeugen, daß alles Streben nach „rein idealen" Zwecken nichts als Wahn und
verdeckter Eigennutz sei, und daß alles, „was wir Pflicht nennen, kein gött¬
licher Führer und Bote, sondern ein falsches, irdisches, aus Begierde und Furcht,
Galgen- und Tortureinflüssen zusammengesetztes Phantasiegebilde" darstellt.

Das war der feste Punkt, an dem allein eine innere Umkehr einsetzen
konnte. „Wie ist für den Menschen eine freie, sittliche Tat möglich, die ihn
über die eigenen sinnlichen Existenzbedingungen hinaushebt?" — so etwa stellte
sich für Carlnle das große Welträtsel dar: als ein sittliches Problem. Er war
unfähig, aus der eudämonistischen Morallehre die praktischen Konsequenzen zu
ziehen; die Aussicht, persönliches Wohlbehagen durch selbstsüchtiges Glücksstreben
zu gewinnen, beflügelte nicht seine Tatkraft, sondern lähmte ihn vollends.
Obendrein mußte ihm die optimistische Anschauung des achtzehnten Jahr¬
hunderts, daß alle Tugend schließlich ihren Lohn in vermehrten Lustquanten
des Individuums finde, als bitterer Hohn auf sein eigenes Schicksal erscheinen.
Hatte er nicht stets gestrebt, das Gute zu tun? Und hatte er etwa seinen
gerechten Anteil am Glück von der Welt zurückerhalten? Er, der arme Student
und Schulmeister, dem das Leben nach endlosen Jahren fleißigster Studierarbcit


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[0129] Der deutsche Idealismus dankenabschluß fand, den er brauchte, so griff er nach den Systemen der fran¬ zösischen Materialisten. Immer weiter drang er in dieser Richtung, bis es ihm in der Tat zur Überzeugung geworden war, daß „dies Weltall eine tote, enorme, unermeßliche Dampfmaschine" sei, die „in stumpfer Gleichgültigkeit weiterrollt". Aber Carlvle litt unsäglich unter der Notwendigkeit dieser Weltbetrachtung. Sein ganzes inneres Leben stand in Hellem Widerspruch zu ihren Grundlehren. Er empfand sich durchaus nicht als bloßes willenloses Glied einer unendlichen Kausalkette, als einen bloßen Mechanismus aufgehäufter Sinneseindrücke, von blind waltenden Assoziationsgesetzen und dem eintönigen Wechsel von Lust- und Unlustgefühlen beherrscht. Es bäumte sich etwas in ihm auf gegen diese mechanische Weltvorstellung — ein unbesiegbarer Willenstrieb nach freier sitt¬ licher Betätigung aller seiner Kräfte, deren Möglichkeit doch der Verstand leugnete und durch Naturgesetzlichkeit und egoistische Glückstriebe ersetzen wollte. Darin zeigt sich am deutlichsten die nachhaltige Wirkung der religiösen Erziehung Carlyles: er war gewöhnt, sein Handeln unter einen Pflichtbegriff zu stellen, der mit der Frage nach dem individuellen Glück nicht das mindeste zu tun hatte; mit der Überwindung dieses Ideals schwand für ihn alles Edle, Große. Erstrebenswerte aus dem Leben dahin. Das Leben selbst verlor seinen Wert für ihn; er fand sich einem „ewigen Nein" gegenüber, das ihm den Atem raubte und wie ein „Albdruck" auf der Seele lag. Die Verzweiflung darüber hat ihn — so scheint es — zeitweise bis nahe an den Selbstmord heran¬ getrieben. Aber das Bemerkenswerte ist gerade, daß sie zu keiner Zeit in endgültige Resignation umschlug: er konnte sich doch niemals völlig davon über¬ zeugen, daß alles Streben nach „rein idealen" Zwecken nichts als Wahn und verdeckter Eigennutz sei, und daß alles, „was wir Pflicht nennen, kein gött¬ licher Führer und Bote, sondern ein falsches, irdisches, aus Begierde und Furcht, Galgen- und Tortureinflüssen zusammengesetztes Phantasiegebilde" darstellt. Das war der feste Punkt, an dem allein eine innere Umkehr einsetzen konnte. „Wie ist für den Menschen eine freie, sittliche Tat möglich, die ihn über die eigenen sinnlichen Existenzbedingungen hinaushebt?" — so etwa stellte sich für Carlnle das große Welträtsel dar: als ein sittliches Problem. Er war unfähig, aus der eudämonistischen Morallehre die praktischen Konsequenzen zu ziehen; die Aussicht, persönliches Wohlbehagen durch selbstsüchtiges Glücksstreben zu gewinnen, beflügelte nicht seine Tatkraft, sondern lähmte ihn vollends. Obendrein mußte ihm die optimistische Anschauung des achtzehnten Jahr¬ hunderts, daß alle Tugend schließlich ihren Lohn in vermehrten Lustquanten des Individuums finde, als bitterer Hohn auf sein eigenes Schicksal erscheinen. Hatte er nicht stets gestrebt, das Gute zu tun? Und hatte er etwa seinen gerechten Anteil am Glück von der Welt zurückerhalten? Er, der arme Student und Schulmeister, dem das Leben nach endlosen Jahren fleißigster Studierarbcit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/129>, abgerufen am 01.07.2024.