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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Idealismus

Eindrücke der ersten Jugendjahre die stärksten gewesen. Aus der geistigen
Atmosphäre des schottischen Puritanertums ist Th. Carlyle zeitlebens nicht ganz
herausgewachsen. Er selbst hat sich in einem oft zitierten Wort nur als "Fort¬
setzung und zweiten Band seines Vaters" bezeichnet. Dieser Vater aber war
nur ein hervorragender Charakterkopf aus jenem zähen niederschottischen Bauern¬
geschlecht rein germanischer Abstammung, dem seine Familie seit Jahrhunderten
angehörte.

Das Leben dieses seltsamen Volkes war noch ganz von dem größten
Ereignis seiner geschichtlichen Vergangenheit überschattet: von der gewaltigen
religiösen Bewegung des siebzehnten Jahrhunderts. Zur Zeit von Carlvles
Jugend war noch wenig mehr als ein Jahrhundert verflossen, seit die schottischen
Dissenters unter dem restaurierten Königtum unerhörte Verfolgungen um
ihres Glaubens willen erlitten hatten. Der "Bund Gottes mit seinem
Volke", der die puritanischen Vorfahren zu so heroischen Opfern angespornt
hatte, lebte noch kräftig in dem Bewußtsein dieser Generation fort. Das
religiöse Denken gab dem ganzen Leben seine Weihe und Tatkraft. Für diese
Menschen verschwanden alle Ansprüche auf persönliches Glück vor dem Gedanken
an die unendliche Entscheidung über Seligkeit und Verdammnis: der Erwählte
Gottes hat seine Berufung durch die Tat zu bewähren und strebt mit gewaltigem
Ernst danach, durch gewissenhafte Pflichterfüllung in der täglichen Arbeit sich
seines Heilsbesitzes zu versichern.

Es war eine harte, entbehrungsvolle Jugend, die der Knabe in
dieser Umgebung durchzumachen hatte, kaum gemildert durch die sonnigere,
freundlichere Art der Mutter. Auch aus den wirtschaftlichen Sorgen kam die
Familie nie recht heraus. Aber doch war offenbar dieses Leben getragen von
geistigen Mächten, die weit über die Not des Alltags hinauswiesenz mit wie¬
viel ehrfürchtiger Dankbarkeit erinnerte sich noch der Greis jener Stunden der
Andacht in dem ärmlichen ländlichen Gotteshaus zu Ecclefechan, "da noch
heilige Flammen loderten, Zeugen echten Feuers vom Himmel, das das beste
im Menschen, das noch nicht verloschen ist, zum Brennen brachte!" Als der
kaum Vierzehnjährige das Elternhaus verließ, um zur Universität zu ziehen,
war er ein stiller, nachdenklicher Junge geworden, dem die harten Notwendig¬
keiten des Lebens frühzeitig die Seele bedrängten; aber er nahm einen reichen
Schatz sittlicher Bildung mit, der ihm in allen geistigen Revolutionen nicht
wieder verloren gehen sollte. Er hat das später dankbar anerkannt: "Es kann
uns nie zu frühzeitig und zu tief eingeprägt werden, daß in dieser unserer
Welt das Wollen nur eine Null ist im Vergleich -zum Sollen und zum größten
Teil nur ein ungeheuer kleiner Bruchteil im Vergleich zu dem Werden."

An der Edinburgher Universität wehte eine scharfe Luft aufklärerischer Ge¬
sinnung. Als Theologe begann hier Carlyle sein Studium; aber schon nach
Beendigung des vierjährigen Vorkurses hatte er die Freude an diesem Berufe
verloren. Das entscheidende geistige Erlebnis seiner Studienjahre ist der Zu-


Der deutsche Idealismus

Eindrücke der ersten Jugendjahre die stärksten gewesen. Aus der geistigen
Atmosphäre des schottischen Puritanertums ist Th. Carlyle zeitlebens nicht ganz
herausgewachsen. Er selbst hat sich in einem oft zitierten Wort nur als „Fort¬
setzung und zweiten Band seines Vaters" bezeichnet. Dieser Vater aber war
nur ein hervorragender Charakterkopf aus jenem zähen niederschottischen Bauern¬
geschlecht rein germanischer Abstammung, dem seine Familie seit Jahrhunderten
angehörte.

Das Leben dieses seltsamen Volkes war noch ganz von dem größten
Ereignis seiner geschichtlichen Vergangenheit überschattet: von der gewaltigen
religiösen Bewegung des siebzehnten Jahrhunderts. Zur Zeit von Carlvles
Jugend war noch wenig mehr als ein Jahrhundert verflossen, seit die schottischen
Dissenters unter dem restaurierten Königtum unerhörte Verfolgungen um
ihres Glaubens willen erlitten hatten. Der „Bund Gottes mit seinem
Volke", der die puritanischen Vorfahren zu so heroischen Opfern angespornt
hatte, lebte noch kräftig in dem Bewußtsein dieser Generation fort. Das
religiöse Denken gab dem ganzen Leben seine Weihe und Tatkraft. Für diese
Menschen verschwanden alle Ansprüche auf persönliches Glück vor dem Gedanken
an die unendliche Entscheidung über Seligkeit und Verdammnis: der Erwählte
Gottes hat seine Berufung durch die Tat zu bewähren und strebt mit gewaltigem
Ernst danach, durch gewissenhafte Pflichterfüllung in der täglichen Arbeit sich
seines Heilsbesitzes zu versichern.

Es war eine harte, entbehrungsvolle Jugend, die der Knabe in
dieser Umgebung durchzumachen hatte, kaum gemildert durch die sonnigere,
freundlichere Art der Mutter. Auch aus den wirtschaftlichen Sorgen kam die
Familie nie recht heraus. Aber doch war offenbar dieses Leben getragen von
geistigen Mächten, die weit über die Not des Alltags hinauswiesenz mit wie¬
viel ehrfürchtiger Dankbarkeit erinnerte sich noch der Greis jener Stunden der
Andacht in dem ärmlichen ländlichen Gotteshaus zu Ecclefechan, „da noch
heilige Flammen loderten, Zeugen echten Feuers vom Himmel, das das beste
im Menschen, das noch nicht verloschen ist, zum Brennen brachte!" Als der
kaum Vierzehnjährige das Elternhaus verließ, um zur Universität zu ziehen,
war er ein stiller, nachdenklicher Junge geworden, dem die harten Notwendig¬
keiten des Lebens frühzeitig die Seele bedrängten; aber er nahm einen reichen
Schatz sittlicher Bildung mit, der ihm in allen geistigen Revolutionen nicht
wieder verloren gehen sollte. Er hat das später dankbar anerkannt: „Es kann
uns nie zu frühzeitig und zu tief eingeprägt werden, daß in dieser unserer
Welt das Wollen nur eine Null ist im Vergleich -zum Sollen und zum größten
Teil nur ein ungeheuer kleiner Bruchteil im Vergleich zu dem Werden."

An der Edinburgher Universität wehte eine scharfe Luft aufklärerischer Ge¬
sinnung. Als Theologe begann hier Carlyle sein Studium; aber schon nach
Beendigung des vierjährigen Vorkurses hatte er die Freude an diesem Berufe
verloren. Das entscheidende geistige Erlebnis seiner Studienjahre ist der Zu-


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[0126] Der deutsche Idealismus Eindrücke der ersten Jugendjahre die stärksten gewesen. Aus der geistigen Atmosphäre des schottischen Puritanertums ist Th. Carlyle zeitlebens nicht ganz herausgewachsen. Er selbst hat sich in einem oft zitierten Wort nur als „Fort¬ setzung und zweiten Band seines Vaters" bezeichnet. Dieser Vater aber war nur ein hervorragender Charakterkopf aus jenem zähen niederschottischen Bauern¬ geschlecht rein germanischer Abstammung, dem seine Familie seit Jahrhunderten angehörte. Das Leben dieses seltsamen Volkes war noch ganz von dem größten Ereignis seiner geschichtlichen Vergangenheit überschattet: von der gewaltigen religiösen Bewegung des siebzehnten Jahrhunderts. Zur Zeit von Carlvles Jugend war noch wenig mehr als ein Jahrhundert verflossen, seit die schottischen Dissenters unter dem restaurierten Königtum unerhörte Verfolgungen um ihres Glaubens willen erlitten hatten. Der „Bund Gottes mit seinem Volke", der die puritanischen Vorfahren zu so heroischen Opfern angespornt hatte, lebte noch kräftig in dem Bewußtsein dieser Generation fort. Das religiöse Denken gab dem ganzen Leben seine Weihe und Tatkraft. Für diese Menschen verschwanden alle Ansprüche auf persönliches Glück vor dem Gedanken an die unendliche Entscheidung über Seligkeit und Verdammnis: der Erwählte Gottes hat seine Berufung durch die Tat zu bewähren und strebt mit gewaltigem Ernst danach, durch gewissenhafte Pflichterfüllung in der täglichen Arbeit sich seines Heilsbesitzes zu versichern. Es war eine harte, entbehrungsvolle Jugend, die der Knabe in dieser Umgebung durchzumachen hatte, kaum gemildert durch die sonnigere, freundlichere Art der Mutter. Auch aus den wirtschaftlichen Sorgen kam die Familie nie recht heraus. Aber doch war offenbar dieses Leben getragen von geistigen Mächten, die weit über die Not des Alltags hinauswiesenz mit wie¬ viel ehrfürchtiger Dankbarkeit erinnerte sich noch der Greis jener Stunden der Andacht in dem ärmlichen ländlichen Gotteshaus zu Ecclefechan, „da noch heilige Flammen loderten, Zeugen echten Feuers vom Himmel, das das beste im Menschen, das noch nicht verloschen ist, zum Brennen brachte!" Als der kaum Vierzehnjährige das Elternhaus verließ, um zur Universität zu ziehen, war er ein stiller, nachdenklicher Junge geworden, dem die harten Notwendig¬ keiten des Lebens frühzeitig die Seele bedrängten; aber er nahm einen reichen Schatz sittlicher Bildung mit, der ihm in allen geistigen Revolutionen nicht wieder verloren gehen sollte. Er hat das später dankbar anerkannt: „Es kann uns nie zu frühzeitig und zu tief eingeprägt werden, daß in dieser unserer Welt das Wollen nur eine Null ist im Vergleich -zum Sollen und zum größten Teil nur ein ungeheuer kleiner Bruchteil im Vergleich zu dem Werden." An der Edinburgher Universität wehte eine scharfe Luft aufklärerischer Ge¬ sinnung. Als Theologe begann hier Carlyle sein Studium; aber schon nach Beendigung des vierjährigen Vorkurses hatte er die Freude an diesem Berufe verloren. Das entscheidende geistige Erlebnis seiner Studienjahre ist der Zu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/126>, abgerufen am 22.12.2024.