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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Stück Papier und eine Bleifeder und malen
allerlei Zeichen und lesen dann treuherzig
vor, was sie geschrieben haben, sie lassen sich
von den schulgehenden Geschwistern die ersten
Zeichen schon längst vor der Schule bei¬
bringen und schwärmen schon von der Zeit,
da sie an "Großmütterchen" schreiben
Wollen usw.

Also die Voraussetzung ist meines Er-
achtens falsch, und da kann man bei der
neuen Methode auch auf allerlei Über¬
raschungen gefaßt sein. Bevor man sie er¬
fährt, mache man sich klar, daß Basedow
Buchstaben in Brotteig formen ließ, und daß
ernstzunehmende heutige Pädagogen unter
Mißbrauch des von Kerschensteiner zu Höherem
geweihten Begriffs "Arbeitsschule" allerlei
Mätzchen mit Släbchenlegen und Setzkästen
und dergleichen machen, um den Kindern den
Übergang zur Schreibarbeit zu erleichtern.
Zimmer hat aber noch eine ganz besondere
Feinheit herausgefunden: der erste Schreib-
unterricht muß dem biogenetischen Grund¬
gesetz entsprechen, daß nämlich dos Individuum
im kleinen die ganze Entwicklung des
Stammes wieder durchzumachen hat. Da
aber unsere Buchstabenschrift ans der Bilder¬
schrift der Ägypter entstanden ist (übrigens
nach dem heutigen Stande der Wissenschaft
mehr als fraglich), so muß die "erste Schrift
nicht Schreiben, sondern Bildzeichnen sein".
Es ist mit großer Freude zu begrüßen, daß
Zimmer hier doch wenigstens einen Kom¬
promiß macht und dein Kinde einen Teil der
Entwicklungsreproduknon seines Stammes
erspart. Er fängt also mit den großen ge¬
druckten lateinischen Buchstaben an: I, 1^, 1',
IZ usw. Zu diesen wird nun eine Geschichte
erfunden, in der ein mit I, L, T oder E
beginnendes Wesen graphisch in irgendeiner
Situation als I, 1^, 1", IZ usw. dargestellt
werden kann. Da ist die kleine Illa, die
sich aber Ila nennt, und sich auf die Spitzen
stellt, um auf den Gartentisch zu sehen und
dann ganz langgestreckt aussieht wie eine
Stange und vor Neugierde immer "i" sagt.
Die Stange wird gemalt und siehe da:
die Stange Ila sieht aus wie ein I.
Ein kleiner Bube, der glatt auf dem Boden
sitzt mit dein Rücken gegen die Wand und,
weil er noch nicht reden kann, immer litt.. .

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macht, bedeutet Das IZ ist der Esel, der
auf den Hinterbeinen sitzt und die Vorder¬
beine geradeaus in die Luft steckt. Das
Mittelstäbchen aber ist -- der Sattell Der
wird ihm Wohl auf den Bauch gerutscht
sein. Aber auch dann ließe er sich schwerlich
als Strich darstellen.

Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie ewig neu.

Sie ist aber meines Wissens noch niemals
mit solchem Ungeschick und solcher Welt- und
Schulfremdheit vorgetragen. -- WasSchreiven
bedeutet, wissen alle Kinder; um es ihnen
zum Bedürfnis zu machen, gibt es ein einfacheres
Mittel. Wenn der Lehrer sagt: "Ihr sollt
jetzt einen Brief an Eure Großmutter zum
Geburtstag schreiben lernen. Wie wollt ihr
anfangen?" so werden, die meisten Kinder
sagen: "Ich gratuliere dir von Herzen" oder
ähnlich; mit "ich" wollen jedenfalls die
meisten anfangen und dahat der Lehrer daS "i"
ohne lange und gezwungene Erzählung; und
wenn er nun nicht mit es, sondern mit
n, in, n usw. fortfährt, so hat er die Kinder
zwar überlistet, wie der Segler den Wind
überlistet, aber mühelos auf die Fahrt
gebracht. --

Es darf nicht geleugnet werden, daß sich
in der allgemeinen Einleitung von Zimmer
sehr gute Gedanken finden; aber die ganze
dilettantische Verirrung muß gerade von
reformfreundlichen Pädagogen aufs schärfste
verurteilt werden, weil derartige Neuerungen
von Uneingeweihten zu leicht auf unser Konto
gesetzt werden und es dann mit Recht heißt:
da seht die Überreformer, die alles ans den
Kopf stellen müssen!

Fritz Tychow
Schöne Literatur

Zwei Seelen, Erzählung von Wilhelm
Speck, sechzehntes bis zwanzigstes Tausend,
Berlin, Verlag Martin Warneck.

Wenn ein Buch ohne Ausrufungszeichen
und Gedankenstriche, ohne Telegrammstil und
ohne halb unterdrückte Sätze in kurzer Zeit
unter den dreißigtausend Bänden, die alljähr¬
lich in Deutschland gedruckt werden, so viele
Leser gefunden Hot, dann muß etwas an ihm
sein, das es über den Zeitgeschmack erhebt.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Stück Papier und eine Bleifeder und malen
allerlei Zeichen und lesen dann treuherzig
vor, was sie geschrieben haben, sie lassen sich
von den schulgehenden Geschwistern die ersten
Zeichen schon längst vor der Schule bei¬
bringen und schwärmen schon von der Zeit,
da sie an „Großmütterchen" schreiben
Wollen usw.

Also die Voraussetzung ist meines Er-
achtens falsch, und da kann man bei der
neuen Methode auch auf allerlei Über¬
raschungen gefaßt sein. Bevor man sie er¬
fährt, mache man sich klar, daß Basedow
Buchstaben in Brotteig formen ließ, und daß
ernstzunehmende heutige Pädagogen unter
Mißbrauch des von Kerschensteiner zu Höherem
geweihten Begriffs „Arbeitsschule" allerlei
Mätzchen mit Släbchenlegen und Setzkästen
und dergleichen machen, um den Kindern den
Übergang zur Schreibarbeit zu erleichtern.
Zimmer hat aber noch eine ganz besondere
Feinheit herausgefunden: der erste Schreib-
unterricht muß dem biogenetischen Grund¬
gesetz entsprechen, daß nämlich dos Individuum
im kleinen die ganze Entwicklung des
Stammes wieder durchzumachen hat. Da
aber unsere Buchstabenschrift ans der Bilder¬
schrift der Ägypter entstanden ist (übrigens
nach dem heutigen Stande der Wissenschaft
mehr als fraglich), so muß die „erste Schrift
nicht Schreiben, sondern Bildzeichnen sein".
Es ist mit großer Freude zu begrüßen, daß
Zimmer hier doch wenigstens einen Kom¬
promiß macht und dein Kinde einen Teil der
Entwicklungsreproduknon seines Stammes
erspart. Er fängt also mit den großen ge¬
druckten lateinischen Buchstaben an: I, 1^, 1',
IZ usw. Zu diesen wird nun eine Geschichte
erfunden, in der ein mit I, L, T oder E
beginnendes Wesen graphisch in irgendeiner
Situation als I, 1^, 1", IZ usw. dargestellt
werden kann. Da ist die kleine Illa, die
sich aber Ila nennt, und sich auf die Spitzen
stellt, um auf den Gartentisch zu sehen und
dann ganz langgestreckt aussieht wie eine
Stange und vor Neugierde immer „i" sagt.
Die Stange wird gemalt und siehe da:
die Stange Ila sieht aus wie ein I.
Ein kleiner Bube, der glatt auf dem Boden
sitzt mit dein Rücken gegen die Wand und,
weil er noch nicht reden kann, immer litt.. .

[Spaltenumbruch]

macht, bedeutet Das IZ ist der Esel, der
auf den Hinterbeinen sitzt und die Vorder¬
beine geradeaus in die Luft steckt. Das
Mittelstäbchen aber ist — der Sattell Der
wird ihm Wohl auf den Bauch gerutscht
sein. Aber auch dann ließe er sich schwerlich
als Strich darstellen.

Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie ewig neu.

Sie ist aber meines Wissens noch niemals
mit solchem Ungeschick und solcher Welt- und
Schulfremdheit vorgetragen. — WasSchreiven
bedeutet, wissen alle Kinder; um es ihnen
zum Bedürfnis zu machen, gibt es ein einfacheres
Mittel. Wenn der Lehrer sagt: „Ihr sollt
jetzt einen Brief an Eure Großmutter zum
Geburtstag schreiben lernen. Wie wollt ihr
anfangen?" so werden, die meisten Kinder
sagen: „Ich gratuliere dir von Herzen" oder
ähnlich; mit „ich" wollen jedenfalls die
meisten anfangen und dahat der Lehrer daS „i"
ohne lange und gezwungene Erzählung; und
wenn er nun nicht mit es, sondern mit
n, in, n usw. fortfährt, so hat er die Kinder
zwar überlistet, wie der Segler den Wind
überlistet, aber mühelos auf die Fahrt
gebracht. —

Es darf nicht geleugnet werden, daß sich
in der allgemeinen Einleitung von Zimmer
sehr gute Gedanken finden; aber die ganze
dilettantische Verirrung muß gerade von
reformfreundlichen Pädagogen aufs schärfste
verurteilt werden, weil derartige Neuerungen
von Uneingeweihten zu leicht auf unser Konto
gesetzt werden und es dann mit Recht heißt:
da seht die Überreformer, die alles ans den
Kopf stellen müssen!

Fritz Tychow
Schöne Literatur

Zwei Seelen, Erzählung von Wilhelm
Speck, sechzehntes bis zwanzigstes Tausend,
Berlin, Verlag Martin Warneck.

Wenn ein Buch ohne Ausrufungszeichen
und Gedankenstriche, ohne Telegrammstil und
ohne halb unterdrückte Sätze in kurzer Zeit
unter den dreißigtausend Bänden, die alljähr¬
lich in Deutschland gedruckt werden, so viele
Leser gefunden Hot, dann muß etwas an ihm
sein, das es über den Zeitgeschmack erhebt.

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[0115] Maßgebliches und Unmaßgebliches Stück Papier und eine Bleifeder und malen allerlei Zeichen und lesen dann treuherzig vor, was sie geschrieben haben, sie lassen sich von den schulgehenden Geschwistern die ersten Zeichen schon längst vor der Schule bei¬ bringen und schwärmen schon von der Zeit, da sie an „Großmütterchen" schreiben Wollen usw. Also die Voraussetzung ist meines Er- achtens falsch, und da kann man bei der neuen Methode auch auf allerlei Über¬ raschungen gefaßt sein. Bevor man sie er¬ fährt, mache man sich klar, daß Basedow Buchstaben in Brotteig formen ließ, und daß ernstzunehmende heutige Pädagogen unter Mißbrauch des von Kerschensteiner zu Höherem geweihten Begriffs „Arbeitsschule" allerlei Mätzchen mit Släbchenlegen und Setzkästen und dergleichen machen, um den Kindern den Übergang zur Schreibarbeit zu erleichtern. Zimmer hat aber noch eine ganz besondere Feinheit herausgefunden: der erste Schreib- unterricht muß dem biogenetischen Grund¬ gesetz entsprechen, daß nämlich dos Individuum im kleinen die ganze Entwicklung des Stammes wieder durchzumachen hat. Da aber unsere Buchstabenschrift ans der Bilder¬ schrift der Ägypter entstanden ist (übrigens nach dem heutigen Stande der Wissenschaft mehr als fraglich), so muß die „erste Schrift nicht Schreiben, sondern Bildzeichnen sein". Es ist mit großer Freude zu begrüßen, daß Zimmer hier doch wenigstens einen Kom¬ promiß macht und dein Kinde einen Teil der Entwicklungsreproduknon seines Stammes erspart. Er fängt also mit den großen ge¬ druckten lateinischen Buchstaben an: I, 1^, 1', IZ usw. Zu diesen wird nun eine Geschichte erfunden, in der ein mit I, L, T oder E beginnendes Wesen graphisch in irgendeiner Situation als I, 1^, 1", IZ usw. dargestellt werden kann. Da ist die kleine Illa, die sich aber Ila nennt, und sich auf die Spitzen stellt, um auf den Gartentisch zu sehen und dann ganz langgestreckt aussieht wie eine Stange und vor Neugierde immer „i" sagt. Die Stange wird gemalt und siehe da: die Stange Ila sieht aus wie ein I. Ein kleiner Bube, der glatt auf dem Boden sitzt mit dein Rücken gegen die Wand und, weil er noch nicht reden kann, immer litt.. . macht, bedeutet Das IZ ist der Esel, der auf den Hinterbeinen sitzt und die Vorder¬ beine geradeaus in die Luft steckt. Das Mittelstäbchen aber ist — der Sattell Der wird ihm Wohl auf den Bauch gerutscht sein. Aber auch dann ließe er sich schwerlich als Strich darstellen. Es ist eine alte Geschichte, Doch bleibt sie ewig neu. Sie ist aber meines Wissens noch niemals mit solchem Ungeschick und solcher Welt- und Schulfremdheit vorgetragen. — WasSchreiven bedeutet, wissen alle Kinder; um es ihnen zum Bedürfnis zu machen, gibt es ein einfacheres Mittel. Wenn der Lehrer sagt: „Ihr sollt jetzt einen Brief an Eure Großmutter zum Geburtstag schreiben lernen. Wie wollt ihr anfangen?" so werden, die meisten Kinder sagen: „Ich gratuliere dir von Herzen" oder ähnlich; mit „ich" wollen jedenfalls die meisten anfangen und dahat der Lehrer daS „i" ohne lange und gezwungene Erzählung; und wenn er nun nicht mit es, sondern mit n, in, n usw. fortfährt, so hat er die Kinder zwar überlistet, wie der Segler den Wind überlistet, aber mühelos auf die Fahrt gebracht. — Es darf nicht geleugnet werden, daß sich in der allgemeinen Einleitung von Zimmer sehr gute Gedanken finden; aber die ganze dilettantische Verirrung muß gerade von reformfreundlichen Pädagogen aufs schärfste verurteilt werden, weil derartige Neuerungen von Uneingeweihten zu leicht auf unser Konto gesetzt werden und es dann mit Recht heißt: da seht die Überreformer, die alles ans den Kopf stellen müssen! Fritz Tychow Schöne Literatur Zwei Seelen, Erzählung von Wilhelm Speck, sechzehntes bis zwanzigstes Tausend, Berlin, Verlag Martin Warneck. Wenn ein Buch ohne Ausrufungszeichen und Gedankenstriche, ohne Telegrammstil und ohne halb unterdrückte Sätze in kurzer Zeit unter den dreißigtausend Bänden, die alljähr¬ lich in Deutschland gedruckt werden, so viele Leser gefunden Hot, dann muß etwas an ihm sein, das es über den Zeitgeschmack erhebt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/115>, abgerufen am 22.12.2024.