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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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sätzlich höhergeartete Bildung zu besitzen,
als Bolksschüler und ihre Lehrer, und die
sozialen Gegensätze werden dadurch in ver¬
hängnisvoller Weise verschärft, statt daß die
Schule alles tun sollte, um sozial ausgleichend
zu wirken. Hier hat der Staat eine große
Aufgabe ernster Natur zu erfüllen, um erst
einmal die Grundlage zu schaffen, auf der
allererst eine wirksame soziale Erziehung mög¬
lich wird. Alles, was innerhalb des Rahmens
der jetzigen Schule getan werden kann, bleibt
bloßes Stückwerk. Dennoch gibt Muthe-
sius, nachdem er diese Gedanken entwickelt
hat, einige "Mittel der sozialen Schuler¬
ziehung" an und berührt sich dabei in seiner
ersten Forderung mit den Gedanken Wetekamps
und der Verfechter des Prinzips der Arbeits¬
schule: die Schule muß mehr Fühlung mit
dem Leben der Gegenwart suchen, Schule und
Leben dürfen keine Gegensätze mehr sein. Das
gilt in üezug auf die Stoffauswahl und Arbeits¬
methode für den Unterricht in allen Fächern,
auch der deutsche Unterricht muß die Gegen-
wartspoesie mehr berücksichtigen. Sodann sollte
die Berufsbildung mehr gepflegt werden; denn
durch den Beruf ist jeder einzelne an die
Gemeinschaft gekettet. Endlich muß die Schul¬
disziplin eine andere werden: der erzwungene
Gehorsam soll in freien Gehorsam übergehen,
der mit dem klaren Bewußtsein seiner Not¬
wendigkeit geübt wird. Zu diesem Zweck muß
durch eine begrenzte Selbstverwaltung und
Selbstregierung das Gemeinschaftsgefühl und
Verantwortlichkeitsbewußtsein geweckt werden.
Dadurch läßt sich manches erreichen, besonders
Wenn auch bei der Ausbildung der Lehrer
auf diese Dinge ein entscheidendes Gewicht
gelegt würde. -- So kritisch Muthesius auch
die bestehenden Verhältnisse betrachtet, so ist
doch seine ganze Auseinandersetzung von einem
hoffnungsstarken Idealismus und dem festen
Glauben an den guten Willen aller Beteiligten
getragen, zumal er in der vom Minister an¬
geregten Jugendpflege einen bedeutenden Fort¬
schritt in der angedeuteten Richtung erkennen
zu können meint.

Dr. Eduard Havenstein
Der erste Sprachunterricht im Rahmen
der Levenserzichung. Von v. Dr. Friedrich
Zimmer. Berlin - Zehlendorf, Mathilde
Zimmer-Haus. M. 2.40.
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Auf Seite 7 dieses Büchleins finden wir
folgenden Satz: "Wir können nicht gegen den
Wind fahren; aber wenn wir den günstigen
Wind in unseren Segeln auffangen, dann
gibt es eine schnelle und ruhige Fahrt."
Dies soll ein Bild sein dafür, daß der Er¬
zieher niemand wirklich erziehen kann, der
nicht von ihm erzogen werden will. In dem
Bilde von: Segeln zeigt sich die Unklarheit
dieser Behauptung noch deutlicher, als in dem
Pädagogischen Satze, der dadurch veranschau¬
licht werden soll; denn wir können schon seit
mehr als 1000 Jahren gegen den Wind
kreuzen, und ein modernes Segelboot fährt
besser gegen, als mit vollem Hinterwind,
weil der die Steuerung erschwert. Und die
Ruhe der Fahrt hängt nicht so sehr von der
Windrichtung, als von der Windstärke und
Stetigkeit ab. So falsch wie das Bild, ist
der Grundsatz: denn schon mancher ist zum
Guten und zum Schlechten erzogen worden,
ohne daß er erzogen werden wollte. Der
Verfasser will aber darauf hinaus, daß das
Kind sich frei zur Persönlichkeit, zu dem, was
in ihm steckt, entwickeln soll. Und das geben
wir ihm unbedingt zu; nur ist es ein Ge¬
meinplatz, mit dem wir heute nichts mehr
machen können. Wie wir längst gelernt haben,
den widrigen Wind durch Schwert und Kiel,
Scgelstellung und Steuerruder zu überlisten,
sodaß er uns vorwärts treiben muß, wenn
er uns zurückhaben möchte, so hat die theo¬
retische und Praktische Pädagogik schon längst
die Mittel gefunden, Kinder gegen ihren
Willen zu erziehen, d. h. die Kräfte des Kindes
gegen und ohne seinen Willen für seine
Erziehung nutzbar zu machen. Manchmal
möchte man sagen: Leider!

So unhaltbar Sache und Vergleich in
diesem Falle sind, so unhaltbar ist die Be¬
hauptung, auf die sich der von Zimmer ge¬
lehrte neue Sprachunterricht aufbaut: "Für
das Lesen besteht bei den Kindern noch gar
kein inneres Bedürfnis, und deshalb ist eS
so schwer, bei den Kindern dafür Interesse
zu erwecken." Nichts ist nach meiner Er¬
fahrung verkehrter. Die Kinder, die rings
um sich herum Schriftzeichen sehen, haben ein
brennendes Interesse an der Bedeutung dieser
Zeichen; dreijährige Kinder, die Eltern oder
große Geschwister schreiben sehen, nehmen ein

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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sätzlich höhergeartete Bildung zu besitzen,
als Bolksschüler und ihre Lehrer, und die
sozialen Gegensätze werden dadurch in ver¬
hängnisvoller Weise verschärft, statt daß die
Schule alles tun sollte, um sozial ausgleichend
zu wirken. Hier hat der Staat eine große
Aufgabe ernster Natur zu erfüllen, um erst
einmal die Grundlage zu schaffen, auf der
allererst eine wirksame soziale Erziehung mög¬
lich wird. Alles, was innerhalb des Rahmens
der jetzigen Schule getan werden kann, bleibt
bloßes Stückwerk. Dennoch gibt Muthe-
sius, nachdem er diese Gedanken entwickelt
hat, einige „Mittel der sozialen Schuler¬
ziehung" an und berührt sich dabei in seiner
ersten Forderung mit den Gedanken Wetekamps
und der Verfechter des Prinzips der Arbeits¬
schule: die Schule muß mehr Fühlung mit
dem Leben der Gegenwart suchen, Schule und
Leben dürfen keine Gegensätze mehr sein. Das
gilt in üezug auf die Stoffauswahl und Arbeits¬
methode für den Unterricht in allen Fächern,
auch der deutsche Unterricht muß die Gegen-
wartspoesie mehr berücksichtigen. Sodann sollte
die Berufsbildung mehr gepflegt werden; denn
durch den Beruf ist jeder einzelne an die
Gemeinschaft gekettet. Endlich muß die Schul¬
disziplin eine andere werden: der erzwungene
Gehorsam soll in freien Gehorsam übergehen,
der mit dem klaren Bewußtsein seiner Not¬
wendigkeit geübt wird. Zu diesem Zweck muß
durch eine begrenzte Selbstverwaltung und
Selbstregierung das Gemeinschaftsgefühl und
Verantwortlichkeitsbewußtsein geweckt werden.
Dadurch läßt sich manches erreichen, besonders
Wenn auch bei der Ausbildung der Lehrer
auf diese Dinge ein entscheidendes Gewicht
gelegt würde. — So kritisch Muthesius auch
die bestehenden Verhältnisse betrachtet, so ist
doch seine ganze Auseinandersetzung von einem
hoffnungsstarken Idealismus und dem festen
Glauben an den guten Willen aller Beteiligten
getragen, zumal er in der vom Minister an¬
geregten Jugendpflege einen bedeutenden Fort¬
schritt in der angedeuteten Richtung erkennen
zu können meint.

Dr. Eduard Havenstein
Der erste Sprachunterricht im Rahmen
der Levenserzichung. Von v. Dr. Friedrich
Zimmer. Berlin - Zehlendorf, Mathilde
Zimmer-Haus. M. 2.40.
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Auf Seite 7 dieses Büchleins finden wir
folgenden Satz: „Wir können nicht gegen den
Wind fahren; aber wenn wir den günstigen
Wind in unseren Segeln auffangen, dann
gibt es eine schnelle und ruhige Fahrt."
Dies soll ein Bild sein dafür, daß der Er¬
zieher niemand wirklich erziehen kann, der
nicht von ihm erzogen werden will. In dem
Bilde von: Segeln zeigt sich die Unklarheit
dieser Behauptung noch deutlicher, als in dem
Pädagogischen Satze, der dadurch veranschau¬
licht werden soll; denn wir können schon seit
mehr als 1000 Jahren gegen den Wind
kreuzen, und ein modernes Segelboot fährt
besser gegen, als mit vollem Hinterwind,
weil der die Steuerung erschwert. Und die
Ruhe der Fahrt hängt nicht so sehr von der
Windrichtung, als von der Windstärke und
Stetigkeit ab. So falsch wie das Bild, ist
der Grundsatz: denn schon mancher ist zum
Guten und zum Schlechten erzogen worden,
ohne daß er erzogen werden wollte. Der
Verfasser will aber darauf hinaus, daß das
Kind sich frei zur Persönlichkeit, zu dem, was
in ihm steckt, entwickeln soll. Und das geben
wir ihm unbedingt zu; nur ist es ein Ge¬
meinplatz, mit dem wir heute nichts mehr
machen können. Wie wir längst gelernt haben,
den widrigen Wind durch Schwert und Kiel,
Scgelstellung und Steuerruder zu überlisten,
sodaß er uns vorwärts treiben muß, wenn
er uns zurückhaben möchte, so hat die theo¬
retische und Praktische Pädagogik schon längst
die Mittel gefunden, Kinder gegen ihren
Willen zu erziehen, d. h. die Kräfte des Kindes
gegen und ohne seinen Willen für seine
Erziehung nutzbar zu machen. Manchmal
möchte man sagen: Leider!

So unhaltbar Sache und Vergleich in
diesem Falle sind, so unhaltbar ist die Be¬
hauptung, auf die sich der von Zimmer ge¬
lehrte neue Sprachunterricht aufbaut: „Für
das Lesen besteht bei den Kindern noch gar
kein inneres Bedürfnis, und deshalb ist eS
so schwer, bei den Kindern dafür Interesse
zu erwecken." Nichts ist nach meiner Er¬
fahrung verkehrter. Die Kinder, die rings
um sich herum Schriftzeichen sehen, haben ein
brennendes Interesse an der Bedeutung dieser
Zeichen; dreijährige Kinder, die Eltern oder
große Geschwister schreiben sehen, nehmen ein

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[0114] Maßgebliches und Unmaßgebliches sätzlich höhergeartete Bildung zu besitzen, als Bolksschüler und ihre Lehrer, und die sozialen Gegensätze werden dadurch in ver¬ hängnisvoller Weise verschärft, statt daß die Schule alles tun sollte, um sozial ausgleichend zu wirken. Hier hat der Staat eine große Aufgabe ernster Natur zu erfüllen, um erst einmal die Grundlage zu schaffen, auf der allererst eine wirksame soziale Erziehung mög¬ lich wird. Alles, was innerhalb des Rahmens der jetzigen Schule getan werden kann, bleibt bloßes Stückwerk. Dennoch gibt Muthe- sius, nachdem er diese Gedanken entwickelt hat, einige „Mittel der sozialen Schuler¬ ziehung" an und berührt sich dabei in seiner ersten Forderung mit den Gedanken Wetekamps und der Verfechter des Prinzips der Arbeits¬ schule: die Schule muß mehr Fühlung mit dem Leben der Gegenwart suchen, Schule und Leben dürfen keine Gegensätze mehr sein. Das gilt in üezug auf die Stoffauswahl und Arbeits¬ methode für den Unterricht in allen Fächern, auch der deutsche Unterricht muß die Gegen- wartspoesie mehr berücksichtigen. Sodann sollte die Berufsbildung mehr gepflegt werden; denn durch den Beruf ist jeder einzelne an die Gemeinschaft gekettet. Endlich muß die Schul¬ disziplin eine andere werden: der erzwungene Gehorsam soll in freien Gehorsam übergehen, der mit dem klaren Bewußtsein seiner Not¬ wendigkeit geübt wird. Zu diesem Zweck muß durch eine begrenzte Selbstverwaltung und Selbstregierung das Gemeinschaftsgefühl und Verantwortlichkeitsbewußtsein geweckt werden. Dadurch läßt sich manches erreichen, besonders Wenn auch bei der Ausbildung der Lehrer auf diese Dinge ein entscheidendes Gewicht gelegt würde. — So kritisch Muthesius auch die bestehenden Verhältnisse betrachtet, so ist doch seine ganze Auseinandersetzung von einem hoffnungsstarken Idealismus und dem festen Glauben an den guten Willen aller Beteiligten getragen, zumal er in der vom Minister an¬ geregten Jugendpflege einen bedeutenden Fort¬ schritt in der angedeuteten Richtung erkennen zu können meint. Dr. Eduard Havenstein Der erste Sprachunterricht im Rahmen der Levenserzichung. Von v. Dr. Friedrich Zimmer. Berlin - Zehlendorf, Mathilde Zimmer-Haus. M. 2.40. Auf Seite 7 dieses Büchleins finden wir folgenden Satz: „Wir können nicht gegen den Wind fahren; aber wenn wir den günstigen Wind in unseren Segeln auffangen, dann gibt es eine schnelle und ruhige Fahrt." Dies soll ein Bild sein dafür, daß der Er¬ zieher niemand wirklich erziehen kann, der nicht von ihm erzogen werden will. In dem Bilde von: Segeln zeigt sich die Unklarheit dieser Behauptung noch deutlicher, als in dem Pädagogischen Satze, der dadurch veranschau¬ licht werden soll; denn wir können schon seit mehr als 1000 Jahren gegen den Wind kreuzen, und ein modernes Segelboot fährt besser gegen, als mit vollem Hinterwind, weil der die Steuerung erschwert. Und die Ruhe der Fahrt hängt nicht so sehr von der Windrichtung, als von der Windstärke und Stetigkeit ab. So falsch wie das Bild, ist der Grundsatz: denn schon mancher ist zum Guten und zum Schlechten erzogen worden, ohne daß er erzogen werden wollte. Der Verfasser will aber darauf hinaus, daß das Kind sich frei zur Persönlichkeit, zu dem, was in ihm steckt, entwickeln soll. Und das geben wir ihm unbedingt zu; nur ist es ein Ge¬ meinplatz, mit dem wir heute nichts mehr machen können. Wie wir längst gelernt haben, den widrigen Wind durch Schwert und Kiel, Scgelstellung und Steuerruder zu überlisten, sodaß er uns vorwärts treiben muß, wenn er uns zurückhaben möchte, so hat die theo¬ retische und Praktische Pädagogik schon längst die Mittel gefunden, Kinder gegen ihren Willen zu erziehen, d. h. die Kräfte des Kindes gegen und ohne seinen Willen für seine Erziehung nutzbar zu machen. Manchmal möchte man sagen: Leider! So unhaltbar Sache und Vergleich in diesem Falle sind, so unhaltbar ist die Be¬ hauptung, auf die sich der von Zimmer ge¬ lehrte neue Sprachunterricht aufbaut: „Für das Lesen besteht bei den Kindern noch gar kein inneres Bedürfnis, und deshalb ist eS so schwer, bei den Kindern dafür Interesse zu erwecken." Nichts ist nach meiner Er¬ fahrung verkehrter. Die Kinder, die rings um sich herum Schriftzeichen sehen, haben ein brennendes Interesse an der Bedeutung dieser Zeichen; dreijährige Kinder, die Eltern oder große Geschwister schreiben sehen, nehmen ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/114>, abgerufen am 01.07.2024.