Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

lamp undMuthesius. Beide haben den Vorzug,
daß die in ihnen vorgetragenen Ideen nicht
mehr bloß theoretisch geblieben, sondern so¬
weit das möglich war, bereits in die Praxis
umgesetzt sind und sich trefflich bewährt haben.

Wetekamp, der sein Buch zum drittenmal
erscheinen läßt, sieht den größten Mangel des
herrschenden Schulsystems darin, daß es den
Menschen unselbständig macht, während doch
der von Tag zu Tag schwieriger werdende
Kampf ums Dasein bor allem Selbstvertrauen
und Kraftbewußtsein erfordert. Das ist nicht
etwa eine Übertreibung I Man vergleiche nur
einmal einen Abiturienten einer höheren Lehr¬
anstalt mit einem jungen Mann gleichen Alters,
der die Schule mit dem Abschlußexamen ver¬
lassen und schon drei Jahre im Leben gestanden
hat. Der mit Wissen vollgepfropfte Abiturient
steht im allgemeinen trotz des Reifezeugnisses
an Reife, d. h. an Selbstsicherheit und Freiheit
des Benehmens, weit hinter dem weniger ge¬
lehrten Kaufmann oder Leutnant zurück, ja
selbst der gleichaltrige Arbeiter ist ihm über¬
legen! Die Ursache dieser bedauerlichen Tat¬
sache findet Wetekamp in der völlig verkehrten
Arbeitsmethode, der er infolgedessen den Krieg
erklärt.

Die Schulerziehung legt immer noch das
Hauptgewicht auf das Wissen, und zwar auf
ein Wissen, das der Schüler zum größten
Teil aus dem Munde des Lehrers oder aus
Büchern gutgläubig hinnehmen und sich ge¬
dächtnismäßig einprägen muß. Er ist dabei
vorwiegend passiv und rezeptiv. Solch ein
Wissen aber ist ein bloßes Schulwissen und
bleibt unfruchtbar. Lebendiges Wissen kann
niemals überliefert, sondern nur erarbeitet
werden, durch Selbsttätigkeit, durch eigene
Beobachtung und Erfahrung. Dazu aber ge¬
hören Menschen mit scharfen Sinnen und
schneller Auffassungsfähigkeit; sonst werden sie
sich über die Dinge täuschen und falsche Ur¬
teile fällen. Man gebe also den Kindern von
der Wiege an Gelegenheit, Erfahrungen zu
machen, und lasse sie nicht durch beständiges
Beaussichtigtsein verkrüppeln. Ebenso lasse
man in der Schule zunächst nicht das Wort
und den Begriff, sondern die Sache und die
Anschauung herrschen und beginne mit dem
Formaten erst, wenn genügend Inhalte ge¬
wonnen sind. Man verlange von den Kin¬

[Spaltenumbruch]

dern, die vom Bewegungs- und Spieltrieb
erfüllt sind, nicht die Seßhaftigkeit und Ernst¬
haftigkeit eines Gelehrten, man gebe ihren
Händen zu tun und zu schaffen! Man zwinge
Kinder nicht zum Schweigen; denn ein Kind
hat ein starkes Frage- und Mitteilungsbedürfnis.
Gibt man den natürlichen Trieben nicht Raum,
so nimmt man ihnen überhaupt Lust und Liebe
zur Arbeit! Wetekamp hat auf Grund dieser
Erwägungen in der Borschule des von ihm
geleiteten Werner - sieu eus - Realgymnasiums
bekanntlich den Werkunterricht eingeführt und
seiner Schrift einen Anhang beigegeben, in dem
der Vorschullehrer Paul Borchert den durch
dies Prinzip bedingten Lehrgang während
der ersten drei Schuljahre ausführlich dar¬
stellt. Der Bericht ist überaus lehrreich und
beweist, daß die Arbeitsschule kein Phantom
ist, sondern ein lebenskräftiges Ding, dem
man nur weiteste Verbreitung, vor allem auch
für die eigentlichen Gymnasialilassen, wünschen
kann. Einige mitabgedruckte Gutachten be¬
weisen, daß auch die Eltern den Segen dieser
Erziehungsmethode dankbar anerkennen. Das
Buch kann nur jedem Lehrer zur Lektüre
empfohlen werden; denn es schärft die Ge¬
wissen!

Denselben Dienst leistet noch in verstärktem
Maße die Schrift von MuthesiuS. Es ist ein
Pädagogisches Buch großen Stils, daS sich
nicht scheut, die tiefsten Schäden unseres Schul¬
systems aufzudecken und das Kind beim rechten
Namen zu nennen. Daß die Schule so wenig
wirkliche Erziehungserfolge zu verzeichnen hat,
liegt daran, daß ein unsozialer Geist in ihr
herrscht. Der deutlichste Beweis dafür ist die
Kluft, welche die Volksschule und die höheren
Lehranstalten voneinander trennt. Während
doch über die Zugehörigkeit zu einer höheren
Schule gerechterweise Befähigung und Bil¬
dungstrieb entscheiden sollten, entscheidet in
Wahrheit der Besitz, so daß man geradezu von
einer Proletarierschule im Gegensatz zu einer
Schule der bevorrechteten Stände sprechen
kann. Dementsprechend gibt eS auch eine
doppelte Bildung, Volksschulbildung und Gym-
nasialvildung, während doch vernünftigerweise
der Begriff Schulbildung eindeutig sein müßte.
Und diese Unterscheidung überträgt sich von
den Instituten auf die Menschen. Gym¬
nasiasten und Oberlehrer glauben eine grünt-

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

lamp undMuthesius. Beide haben den Vorzug,
daß die in ihnen vorgetragenen Ideen nicht
mehr bloß theoretisch geblieben, sondern so¬
weit das möglich war, bereits in die Praxis
umgesetzt sind und sich trefflich bewährt haben.

Wetekamp, der sein Buch zum drittenmal
erscheinen läßt, sieht den größten Mangel des
herrschenden Schulsystems darin, daß es den
Menschen unselbständig macht, während doch
der von Tag zu Tag schwieriger werdende
Kampf ums Dasein bor allem Selbstvertrauen
und Kraftbewußtsein erfordert. Das ist nicht
etwa eine Übertreibung I Man vergleiche nur
einmal einen Abiturienten einer höheren Lehr¬
anstalt mit einem jungen Mann gleichen Alters,
der die Schule mit dem Abschlußexamen ver¬
lassen und schon drei Jahre im Leben gestanden
hat. Der mit Wissen vollgepfropfte Abiturient
steht im allgemeinen trotz des Reifezeugnisses
an Reife, d. h. an Selbstsicherheit und Freiheit
des Benehmens, weit hinter dem weniger ge¬
lehrten Kaufmann oder Leutnant zurück, ja
selbst der gleichaltrige Arbeiter ist ihm über¬
legen! Die Ursache dieser bedauerlichen Tat¬
sache findet Wetekamp in der völlig verkehrten
Arbeitsmethode, der er infolgedessen den Krieg
erklärt.

Die Schulerziehung legt immer noch das
Hauptgewicht auf das Wissen, und zwar auf
ein Wissen, das der Schüler zum größten
Teil aus dem Munde des Lehrers oder aus
Büchern gutgläubig hinnehmen und sich ge¬
dächtnismäßig einprägen muß. Er ist dabei
vorwiegend passiv und rezeptiv. Solch ein
Wissen aber ist ein bloßes Schulwissen und
bleibt unfruchtbar. Lebendiges Wissen kann
niemals überliefert, sondern nur erarbeitet
werden, durch Selbsttätigkeit, durch eigene
Beobachtung und Erfahrung. Dazu aber ge¬
hören Menschen mit scharfen Sinnen und
schneller Auffassungsfähigkeit; sonst werden sie
sich über die Dinge täuschen und falsche Ur¬
teile fällen. Man gebe also den Kindern von
der Wiege an Gelegenheit, Erfahrungen zu
machen, und lasse sie nicht durch beständiges
Beaussichtigtsein verkrüppeln. Ebenso lasse
man in der Schule zunächst nicht das Wort
und den Begriff, sondern die Sache und die
Anschauung herrschen und beginne mit dem
Formaten erst, wenn genügend Inhalte ge¬
wonnen sind. Man verlange von den Kin¬

[Spaltenumbruch]

dern, die vom Bewegungs- und Spieltrieb
erfüllt sind, nicht die Seßhaftigkeit und Ernst¬
haftigkeit eines Gelehrten, man gebe ihren
Händen zu tun und zu schaffen! Man zwinge
Kinder nicht zum Schweigen; denn ein Kind
hat ein starkes Frage- und Mitteilungsbedürfnis.
Gibt man den natürlichen Trieben nicht Raum,
so nimmt man ihnen überhaupt Lust und Liebe
zur Arbeit! Wetekamp hat auf Grund dieser
Erwägungen in der Borschule des von ihm
geleiteten Werner - sieu eus - Realgymnasiums
bekanntlich den Werkunterricht eingeführt und
seiner Schrift einen Anhang beigegeben, in dem
der Vorschullehrer Paul Borchert den durch
dies Prinzip bedingten Lehrgang während
der ersten drei Schuljahre ausführlich dar¬
stellt. Der Bericht ist überaus lehrreich und
beweist, daß die Arbeitsschule kein Phantom
ist, sondern ein lebenskräftiges Ding, dem
man nur weiteste Verbreitung, vor allem auch
für die eigentlichen Gymnasialilassen, wünschen
kann. Einige mitabgedruckte Gutachten be¬
weisen, daß auch die Eltern den Segen dieser
Erziehungsmethode dankbar anerkennen. Das
Buch kann nur jedem Lehrer zur Lektüre
empfohlen werden; denn es schärft die Ge¬
wissen!

Denselben Dienst leistet noch in verstärktem
Maße die Schrift von MuthesiuS. Es ist ein
Pädagogisches Buch großen Stils, daS sich
nicht scheut, die tiefsten Schäden unseres Schul¬
systems aufzudecken und das Kind beim rechten
Namen zu nennen. Daß die Schule so wenig
wirkliche Erziehungserfolge zu verzeichnen hat,
liegt daran, daß ein unsozialer Geist in ihr
herrscht. Der deutlichste Beweis dafür ist die
Kluft, welche die Volksschule und die höheren
Lehranstalten voneinander trennt. Während
doch über die Zugehörigkeit zu einer höheren
Schule gerechterweise Befähigung und Bil¬
dungstrieb entscheiden sollten, entscheidet in
Wahrheit der Besitz, so daß man geradezu von
einer Proletarierschule im Gegensatz zu einer
Schule der bevorrechteten Stände sprechen
kann. Dementsprechend gibt eS auch eine
doppelte Bildung, Volksschulbildung und Gym-
nasialvildung, während doch vernünftigerweise
der Begriff Schulbildung eindeutig sein müßte.
Und diese Unterscheidung überträgt sich von
den Instituten auf die Menschen. Gym¬
nasiasten und Oberlehrer glauben eine grünt-

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0113" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324983"/>
              <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
              <cb type="start"/>
              <p xml:id="ID_341" prev="#ID_340"> lamp undMuthesius. Beide haben den Vorzug,<lb/>
daß die in ihnen vorgetragenen Ideen nicht<lb/>
mehr bloß theoretisch geblieben, sondern so¬<lb/>
weit das möglich war, bereits in die Praxis<lb/>
umgesetzt sind und sich trefflich bewährt haben.</p>
              <p xml:id="ID_342"> Wetekamp, der sein Buch zum drittenmal<lb/>
erscheinen läßt, sieht den größten Mangel des<lb/>
herrschenden Schulsystems darin, daß es den<lb/>
Menschen unselbständig macht, während doch<lb/>
der von Tag zu Tag schwieriger werdende<lb/>
Kampf ums Dasein bor allem Selbstvertrauen<lb/>
und Kraftbewußtsein erfordert. Das ist nicht<lb/>
etwa eine Übertreibung I Man vergleiche nur<lb/>
einmal einen Abiturienten einer höheren Lehr¬<lb/>
anstalt mit einem jungen Mann gleichen Alters,<lb/>
der die Schule mit dem Abschlußexamen ver¬<lb/>
lassen und schon drei Jahre im Leben gestanden<lb/>
hat. Der mit Wissen vollgepfropfte Abiturient<lb/>
steht im allgemeinen trotz des Reifezeugnisses<lb/>
an Reife, d. h. an Selbstsicherheit und Freiheit<lb/>
des Benehmens, weit hinter dem weniger ge¬<lb/>
lehrten Kaufmann oder Leutnant zurück, ja<lb/>
selbst der gleichaltrige Arbeiter ist ihm über¬<lb/>
legen! Die Ursache dieser bedauerlichen Tat¬<lb/>
sache findet Wetekamp in der völlig verkehrten<lb/>
Arbeitsmethode, der er infolgedessen den Krieg<lb/>
erklärt.</p>
              <p xml:id="ID_343" next="#ID_344"> Die Schulerziehung legt immer noch das<lb/>
Hauptgewicht auf das Wissen, und zwar auf<lb/>
ein Wissen, das der Schüler zum größten<lb/>
Teil aus dem Munde des Lehrers oder aus<lb/>
Büchern gutgläubig hinnehmen und sich ge¬<lb/>
dächtnismäßig einprägen muß. Er ist dabei<lb/>
vorwiegend passiv und rezeptiv. Solch ein<lb/>
Wissen aber ist ein bloßes Schulwissen und<lb/>
bleibt unfruchtbar. Lebendiges Wissen kann<lb/>
niemals überliefert, sondern nur erarbeitet<lb/>
werden, durch Selbsttätigkeit, durch eigene<lb/>
Beobachtung und Erfahrung. Dazu aber ge¬<lb/>
hören Menschen mit scharfen Sinnen und<lb/>
schneller Auffassungsfähigkeit; sonst werden sie<lb/>
sich über die Dinge täuschen und falsche Ur¬<lb/>
teile fällen. Man gebe also den Kindern von<lb/>
der Wiege an Gelegenheit, Erfahrungen zu<lb/>
machen, und lasse sie nicht durch beständiges<lb/>
Beaussichtigtsein verkrüppeln. Ebenso lasse<lb/>
man in der Schule zunächst nicht das Wort<lb/>
und den Begriff, sondern die Sache und die<lb/>
Anschauung herrschen und beginne mit dem<lb/>
Formaten erst, wenn genügend Inhalte ge¬<lb/>
wonnen sind. Man verlange von den Kin¬</p>
              <cb/><lb/>
              <p xml:id="ID_344" prev="#ID_343"> dern, die vom Bewegungs- und Spieltrieb<lb/>
erfüllt sind, nicht die Seßhaftigkeit und Ernst¬<lb/>
haftigkeit eines Gelehrten, man gebe ihren<lb/>
Händen zu tun und zu schaffen! Man zwinge<lb/>
Kinder nicht zum Schweigen; denn ein Kind<lb/>
hat ein starkes Frage- und Mitteilungsbedürfnis.<lb/>
Gibt man den natürlichen Trieben nicht Raum,<lb/>
so nimmt man ihnen überhaupt Lust und Liebe<lb/>
zur Arbeit! Wetekamp hat auf Grund dieser<lb/>
Erwägungen in der Borschule des von ihm<lb/>
geleiteten Werner - sieu eus - Realgymnasiums<lb/>
bekanntlich den Werkunterricht eingeführt und<lb/>
seiner Schrift einen Anhang beigegeben, in dem<lb/>
der Vorschullehrer Paul Borchert den durch<lb/>
dies Prinzip bedingten Lehrgang während<lb/>
der ersten drei Schuljahre ausführlich dar¬<lb/>
stellt. Der Bericht ist überaus lehrreich und<lb/>
beweist, daß die Arbeitsschule kein Phantom<lb/>
ist, sondern ein lebenskräftiges Ding, dem<lb/>
man nur weiteste Verbreitung, vor allem auch<lb/>
für die eigentlichen Gymnasialilassen, wünschen<lb/>
kann. Einige mitabgedruckte Gutachten be¬<lb/>
weisen, daß auch die Eltern den Segen dieser<lb/>
Erziehungsmethode dankbar anerkennen. Das<lb/>
Buch kann nur jedem Lehrer zur Lektüre<lb/>
empfohlen werden; denn es schärft die Ge¬<lb/>
wissen!</p>
              <p xml:id="ID_345" next="#ID_346"> Denselben Dienst leistet noch in verstärktem<lb/>
Maße die Schrift von MuthesiuS. Es ist ein<lb/>
Pädagogisches Buch großen Stils, daS sich<lb/>
nicht scheut, die tiefsten Schäden unseres Schul¬<lb/>
systems aufzudecken und das Kind beim rechten<lb/>
Namen zu nennen. Daß die Schule so wenig<lb/>
wirkliche Erziehungserfolge zu verzeichnen hat,<lb/>
liegt daran, daß ein unsozialer Geist in ihr<lb/>
herrscht. Der deutlichste Beweis dafür ist die<lb/>
Kluft, welche die Volksschule und die höheren<lb/>
Lehranstalten voneinander trennt. Während<lb/>
doch über die Zugehörigkeit zu einer höheren<lb/>
Schule gerechterweise Befähigung und Bil¬<lb/>
dungstrieb entscheiden sollten, entscheidet in<lb/>
Wahrheit der Besitz, so daß man geradezu von<lb/>
einer Proletarierschule im Gegensatz zu einer<lb/>
Schule der bevorrechteten Stände sprechen<lb/>
kann. Dementsprechend gibt eS auch eine<lb/>
doppelte Bildung, Volksschulbildung und Gym-<lb/>
nasialvildung, während doch vernünftigerweise<lb/>
der Begriff Schulbildung eindeutig sein müßte.<lb/>
Und diese Unterscheidung überträgt sich von<lb/>
den Instituten auf die Menschen. Gym¬<lb/>
nasiasten und Oberlehrer glauben eine grünt-</p>
              <cb type="end"/><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0113] Maßgebliches und Unmaßgebliches lamp undMuthesius. Beide haben den Vorzug, daß die in ihnen vorgetragenen Ideen nicht mehr bloß theoretisch geblieben, sondern so¬ weit das möglich war, bereits in die Praxis umgesetzt sind und sich trefflich bewährt haben. Wetekamp, der sein Buch zum drittenmal erscheinen läßt, sieht den größten Mangel des herrschenden Schulsystems darin, daß es den Menschen unselbständig macht, während doch der von Tag zu Tag schwieriger werdende Kampf ums Dasein bor allem Selbstvertrauen und Kraftbewußtsein erfordert. Das ist nicht etwa eine Übertreibung I Man vergleiche nur einmal einen Abiturienten einer höheren Lehr¬ anstalt mit einem jungen Mann gleichen Alters, der die Schule mit dem Abschlußexamen ver¬ lassen und schon drei Jahre im Leben gestanden hat. Der mit Wissen vollgepfropfte Abiturient steht im allgemeinen trotz des Reifezeugnisses an Reife, d. h. an Selbstsicherheit und Freiheit des Benehmens, weit hinter dem weniger ge¬ lehrten Kaufmann oder Leutnant zurück, ja selbst der gleichaltrige Arbeiter ist ihm über¬ legen! Die Ursache dieser bedauerlichen Tat¬ sache findet Wetekamp in der völlig verkehrten Arbeitsmethode, der er infolgedessen den Krieg erklärt. Die Schulerziehung legt immer noch das Hauptgewicht auf das Wissen, und zwar auf ein Wissen, das der Schüler zum größten Teil aus dem Munde des Lehrers oder aus Büchern gutgläubig hinnehmen und sich ge¬ dächtnismäßig einprägen muß. Er ist dabei vorwiegend passiv und rezeptiv. Solch ein Wissen aber ist ein bloßes Schulwissen und bleibt unfruchtbar. Lebendiges Wissen kann niemals überliefert, sondern nur erarbeitet werden, durch Selbsttätigkeit, durch eigene Beobachtung und Erfahrung. Dazu aber ge¬ hören Menschen mit scharfen Sinnen und schneller Auffassungsfähigkeit; sonst werden sie sich über die Dinge täuschen und falsche Ur¬ teile fällen. Man gebe also den Kindern von der Wiege an Gelegenheit, Erfahrungen zu machen, und lasse sie nicht durch beständiges Beaussichtigtsein verkrüppeln. Ebenso lasse man in der Schule zunächst nicht das Wort und den Begriff, sondern die Sache und die Anschauung herrschen und beginne mit dem Formaten erst, wenn genügend Inhalte ge¬ wonnen sind. Man verlange von den Kin¬ dern, die vom Bewegungs- und Spieltrieb erfüllt sind, nicht die Seßhaftigkeit und Ernst¬ haftigkeit eines Gelehrten, man gebe ihren Händen zu tun und zu schaffen! Man zwinge Kinder nicht zum Schweigen; denn ein Kind hat ein starkes Frage- und Mitteilungsbedürfnis. Gibt man den natürlichen Trieben nicht Raum, so nimmt man ihnen überhaupt Lust und Liebe zur Arbeit! Wetekamp hat auf Grund dieser Erwägungen in der Borschule des von ihm geleiteten Werner - sieu eus - Realgymnasiums bekanntlich den Werkunterricht eingeführt und seiner Schrift einen Anhang beigegeben, in dem der Vorschullehrer Paul Borchert den durch dies Prinzip bedingten Lehrgang während der ersten drei Schuljahre ausführlich dar¬ stellt. Der Bericht ist überaus lehrreich und beweist, daß die Arbeitsschule kein Phantom ist, sondern ein lebenskräftiges Ding, dem man nur weiteste Verbreitung, vor allem auch für die eigentlichen Gymnasialilassen, wünschen kann. Einige mitabgedruckte Gutachten be¬ weisen, daß auch die Eltern den Segen dieser Erziehungsmethode dankbar anerkennen. Das Buch kann nur jedem Lehrer zur Lektüre empfohlen werden; denn es schärft die Ge¬ wissen! Denselben Dienst leistet noch in verstärktem Maße die Schrift von MuthesiuS. Es ist ein Pädagogisches Buch großen Stils, daS sich nicht scheut, die tiefsten Schäden unseres Schul¬ systems aufzudecken und das Kind beim rechten Namen zu nennen. Daß die Schule so wenig wirkliche Erziehungserfolge zu verzeichnen hat, liegt daran, daß ein unsozialer Geist in ihr herrscht. Der deutlichste Beweis dafür ist die Kluft, welche die Volksschule und die höheren Lehranstalten voneinander trennt. Während doch über die Zugehörigkeit zu einer höheren Schule gerechterweise Befähigung und Bil¬ dungstrieb entscheiden sollten, entscheidet in Wahrheit der Besitz, so daß man geradezu von einer Proletarierschule im Gegensatz zu einer Schule der bevorrechteten Stände sprechen kann. Dementsprechend gibt eS auch eine doppelte Bildung, Volksschulbildung und Gym- nasialvildung, während doch vernünftigerweise der Begriff Schulbildung eindeutig sein müßte. Und diese Unterscheidung überträgt sich von den Instituten auf die Menschen. Gym¬ nasiasten und Oberlehrer glauben eine grünt-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/113
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/113>, abgerufen am 29.06.2024.