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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Uurt Münzer

schwerkrank. Dieser erzählt ihm nun alles: der Freund hat sich zu dem Bilde
gewaltsam Zugang verschafft, hat dem Jesuskinde die Augen ausgestochen und
hat seine heißbegehrte Madonna in wilder Brunst geliebt wie ein irdisches Weib.
"Geschlechtlicher Wahnsinn", schließt der Arzt. Eine Nervenkur wird ihn wieder¬
herstellen. Jacob weiß es besser: er ist ja tot. Sein Traum war Miterleben
der Wirklichkeit. Also Telepathie? Gewiß! Nur ist bei Münzer keine Spur
pseudowissenschaftlichen Anstriches. Der Stoff ist ja sicherlich häßlich, grotesk,
pervers, aber die Darstellung ist voll edlen Auslandes und ungesuchter Wirkung.

Die "Abenteuer der Seele" würden genügen, Münzer in die erste Reihe
unter den heutigen Erzählern zu stellen. Er hat seitdem auf dem Gebiete der
Erzählung neben einer ganz unmünzerisch anmutenden burschikos-frischen, aber
jäh ins Tragische umschlagenden Novelle "Der Strandläufer" drei Romane
veröffentlicht: "Der Weg nach Zion", "Schweigende Bettler" und "Kinder der
Stadt". Den ersten habe ich mir nicht verschaffen können, da er in
Deutschland verboten ist. So viel ich weiß, behandelt er das Thema der Ge¬
schwisterliebe: Münzer würde hier also auf den Pfaden des ihm geistes¬
verwandten Gabriele d'Annunzio gehen; im zweiten ist er im satirischen von
Thomas Mann, in der allgemeinen Atmosphäre von Ricard" Huch stark
beeinflußt; der dritte enthält die überaus herrliche Schilderung der menschen-
fremden verträumten Seele eines kleinen Mädchens, köstliche Satiren auf spie߬
bürgerliche Beschränktheit, wahrhaft unheimlich virtuose impressionistische Bilder
Berlins, ist überhaupt ein geistfunkelndes Buch; es fehlt ihm aber die geniale
künstlerische Naivetät jenes ersten Meisterwurfes; er bringt zu viel ästhetische
Debatten, ist überhaupt zu sehr Thesenroman. Die These ist: Kunstschaffen,
zumal in der überhitzten Atmosphäre der Großstadt, tötet die natürliche
Menschlichkeit. Dies wird an einer Reihe von Malern und Malerinnen
demonstriert, wenn auch oft mit tiefen, offenbar ganz persönlich empfundenen
Tönen der Verzweiflung. Der Zweifel an der Realität der Erlebnisse, der
sich in den "Abenteuern der Seele" auf das bezog, was dem Erzähler
von außenher begegnete, ist jetzt ins Innere der Menschen verlegt, die Alter¬
native Traum oder Wirklichkeit erscheint vertieft zu der anderen: Kunst
oder Leben. So angesehen, mag das letzte Werk Münzers nach seinem Ideen¬
gehalt höher gestellt werden als jenes erste Novellenbuch. Künstlerisch ist dieses
überlegen.

Münzer hat auch Dramen geschrieben, ja deren ersten Band sogar vor den
Erzählungen veröffentlicht. "Das verlorene Lied" (vier Einakter, 1907) kon¬
trastiert in wenig erquicklicher Weise weichliche Träumerei mit stark dem Perversen
zuneigenden erotischen Motiven gegen grelle Realitäten. Wie der Tod in der
Gestalt eines verliebten alten Lebemannes in eine Kaffeegesellschaft junger Demi-
ViergeZ eindringt und eine non ihnen tötet, ist freilich glänzend geschildert. Die
1910 veröffentlichte Tragikomödie "Ruhm" versieht dieselbe These wie die
"Kinder der Stadt". Nur ist es hier ein alternder Schauspieler, an dem der


Grenzlwwn I 1918 7
Uurt Münzer

schwerkrank. Dieser erzählt ihm nun alles: der Freund hat sich zu dem Bilde
gewaltsam Zugang verschafft, hat dem Jesuskinde die Augen ausgestochen und
hat seine heißbegehrte Madonna in wilder Brunst geliebt wie ein irdisches Weib.
„Geschlechtlicher Wahnsinn", schließt der Arzt. Eine Nervenkur wird ihn wieder¬
herstellen. Jacob weiß es besser: er ist ja tot. Sein Traum war Miterleben
der Wirklichkeit. Also Telepathie? Gewiß! Nur ist bei Münzer keine Spur
pseudowissenschaftlichen Anstriches. Der Stoff ist ja sicherlich häßlich, grotesk,
pervers, aber die Darstellung ist voll edlen Auslandes und ungesuchter Wirkung.

Die „Abenteuer der Seele" würden genügen, Münzer in die erste Reihe
unter den heutigen Erzählern zu stellen. Er hat seitdem auf dem Gebiete der
Erzählung neben einer ganz unmünzerisch anmutenden burschikos-frischen, aber
jäh ins Tragische umschlagenden Novelle „Der Strandläufer" drei Romane
veröffentlicht: „Der Weg nach Zion", „Schweigende Bettler" und „Kinder der
Stadt". Den ersten habe ich mir nicht verschaffen können, da er in
Deutschland verboten ist. So viel ich weiß, behandelt er das Thema der Ge¬
schwisterliebe: Münzer würde hier also auf den Pfaden des ihm geistes¬
verwandten Gabriele d'Annunzio gehen; im zweiten ist er im satirischen von
Thomas Mann, in der allgemeinen Atmosphäre von Ricard« Huch stark
beeinflußt; der dritte enthält die überaus herrliche Schilderung der menschen-
fremden verträumten Seele eines kleinen Mädchens, köstliche Satiren auf spie߬
bürgerliche Beschränktheit, wahrhaft unheimlich virtuose impressionistische Bilder
Berlins, ist überhaupt ein geistfunkelndes Buch; es fehlt ihm aber die geniale
künstlerische Naivetät jenes ersten Meisterwurfes; er bringt zu viel ästhetische
Debatten, ist überhaupt zu sehr Thesenroman. Die These ist: Kunstschaffen,
zumal in der überhitzten Atmosphäre der Großstadt, tötet die natürliche
Menschlichkeit. Dies wird an einer Reihe von Malern und Malerinnen
demonstriert, wenn auch oft mit tiefen, offenbar ganz persönlich empfundenen
Tönen der Verzweiflung. Der Zweifel an der Realität der Erlebnisse, der
sich in den „Abenteuern der Seele" auf das bezog, was dem Erzähler
von außenher begegnete, ist jetzt ins Innere der Menschen verlegt, die Alter¬
native Traum oder Wirklichkeit erscheint vertieft zu der anderen: Kunst
oder Leben. So angesehen, mag das letzte Werk Münzers nach seinem Ideen¬
gehalt höher gestellt werden als jenes erste Novellenbuch. Künstlerisch ist dieses
überlegen.

Münzer hat auch Dramen geschrieben, ja deren ersten Band sogar vor den
Erzählungen veröffentlicht. „Das verlorene Lied" (vier Einakter, 1907) kon¬
trastiert in wenig erquicklicher Weise weichliche Träumerei mit stark dem Perversen
zuneigenden erotischen Motiven gegen grelle Realitäten. Wie der Tod in der
Gestalt eines verliebten alten Lebemannes in eine Kaffeegesellschaft junger Demi-
ViergeZ eindringt und eine non ihnen tötet, ist freilich glänzend geschildert. Die
1910 veröffentlichte Tragikomödie „Ruhm" versieht dieselbe These wie die
„Kinder der Stadt". Nur ist es hier ein alternder Schauspieler, an dem der


Grenzlwwn I 1918 7
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/109>, abgerufen am 22.12.2024.