Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.Rurt Mimzer des nächtlichen Lasterberlins gemalt, die geradezu an Verhaerens halluzinatorische Das ist etwa die Atmosphäre der Münzerschen Novellen, eine weiche, Rurt Mimzer des nächtlichen Lasterberlins gemalt, die geradezu an Verhaerens halluzinatorische Das ist etwa die Atmosphäre der Münzerschen Novellen, eine weiche, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0108" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324978"/> <fw type="header" place="top"> Rurt Mimzer</fw><lb/> <p xml:id="ID_326" prev="#ID_325"> des nächtlichen Lasterberlins gemalt, die geradezu an Verhaerens halluzinatorische<lb/> Art erinnern, aber man fühlt, es ist ihm nicht wohl dabei. Er müßte im<lb/> schwarzsamtenen Hofkleid mit weichem Federbarett im schattigen Park eines<lb/> Renaissancehofes im Kreise edler Florentinerinnen und Venetianerinnen erzählen,<lb/> wie die Erzähler des Decamerone. Denn wenn auch seine Sinne in der zeit¬<lb/> losen Naturschönheit Italiens schwelgen, von dem modernen Italien sieht er<lb/> nichts. Seine Seele lebt in der Zeit Peruginos, Raffaels. Lionardos,<lb/> Michelangelos und Giorgiones, seine Schilderungen alter italienischer Stadtviertel<lb/> sind einzigartig in ihrer verträumten Melancholie. Man könnte ihn den<lb/> Rodenbach Italiens nennen. Ein Körper würde seiner Cinquecentistenseele be¬<lb/> hagen: der des Vasari, jenes Malers und Malerfreundes. Mit eben diesem<lb/> führt er ein langes Kunstgespräch im nächtlichen Florenz.</p><lb/> <p xml:id="ID_327" next="#ID_328"> Das ist etwa die Atmosphäre der Münzerschen Novellen, eine weiche,<lb/> gelegentlich ungesunde Atmosphäre. Seine Menschen sind Luxusgeschöpfe, reich,<lb/> schön, skrupellos, reine Ästheten, gänzlich amoralisch, nahe verwandt den gleich¬<lb/> mütig-schönen Jünglingen und Mädchen der Ricarda Huch. Als Musterbeispiel<lb/> für Münzers raffinierte Erzählungstechnik wähle ich aus den „Abenteuern der<lb/> Seele" „Die Madonna des Großherzogs". Ein Bild ist die Hauptperson, eben<lb/> die Madonna del Granduca von Raffael im Palazzo Pitti in Florenz. Ein<lb/> junger Maler liebt sie seit Jahren. Nun will er sie kopieren und dann auf<lb/> seinen Globetrotterfahrten mit sich führen. Das schreibt er seinem reichen Freunde<lb/> Jacob Lenden und bittet ihn, nachzukommen. Dieser liest den Brief, als er<lb/> todmüde von einem Feste heimkehrt. Am nächsten Tage treffen sie sich in<lb/> Verona. Im Luxuszug nach Rom, ihr zweijähriges Kind auf dem Arm, steht<lb/> am Fenster eine schöne stille Frau. Der Maler erkennt sie sofort: sie ist es,<lb/> die Madonna del Granduca. Seine Sehnsucht hat sie aus dem Rahmen gelockt!<lb/> Er spricht sie an, sie ist freundlich zu ihm, aber das Kind stört ihn. Ein<lb/> Eisenbahnunfall wirft sie ihm in die Arme. In Florenz verläßt er den Freund<lb/> auf ein paar Stunden. Strahlend kehrt er zurück: „Ich habe in ihrem Hause<lb/> in der Via Ricasoli drei Stunden bei ihr gelegen und alle Wonne des Himmels<lb/> genossen!" „Und das Kind?" schreit der Freund. „Ich habe es getötet, damit<lb/> es nicht zusahe." Dann schneidet er sich die Pulsader auf. Das Blut strömt<lb/> über des Freundes Arm, aber es ist nicht warm. Es ist — Wasser! Jacob<lb/> hat die Wasserkaraffe umgeworfen, die auf seinem Schreibtisch steht. Er ist<lb/> beim Lesen des Briefes eingeschlafen. Alles war ein Traum! Man atmet<lb/> auf. Aber es geht weiter. Am nächsten Tage fährt er dem Freunde wirklich<lb/> nach. Bei Bologna steht er Trümmer von Eisenbahnwagen. Der Schaffner<lb/> erzählt ihm auf seine Frage nichts Neues: er hat es ja miterlebt! Im Traum?<lb/> Wer will das jetzt noch sagen? In Florenz eilt er ahnungsbang in die Pitti-<lb/> galerie. Das Bild ist fort! Es wird restauriert und befindet sich in der Via<lb/> Ricasoli. Dieser Name! Daher kam ja der Freund glückstrahlend. Jacob<lb/> stürmt in dessen Hotel. Er ist nicht da. Bei einem deutschen Arzt liegt er</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0108]
Rurt Mimzer
des nächtlichen Lasterberlins gemalt, die geradezu an Verhaerens halluzinatorische
Art erinnern, aber man fühlt, es ist ihm nicht wohl dabei. Er müßte im
schwarzsamtenen Hofkleid mit weichem Federbarett im schattigen Park eines
Renaissancehofes im Kreise edler Florentinerinnen und Venetianerinnen erzählen,
wie die Erzähler des Decamerone. Denn wenn auch seine Sinne in der zeit¬
losen Naturschönheit Italiens schwelgen, von dem modernen Italien sieht er
nichts. Seine Seele lebt in der Zeit Peruginos, Raffaels. Lionardos,
Michelangelos und Giorgiones, seine Schilderungen alter italienischer Stadtviertel
sind einzigartig in ihrer verträumten Melancholie. Man könnte ihn den
Rodenbach Italiens nennen. Ein Körper würde seiner Cinquecentistenseele be¬
hagen: der des Vasari, jenes Malers und Malerfreundes. Mit eben diesem
führt er ein langes Kunstgespräch im nächtlichen Florenz.
Das ist etwa die Atmosphäre der Münzerschen Novellen, eine weiche,
gelegentlich ungesunde Atmosphäre. Seine Menschen sind Luxusgeschöpfe, reich,
schön, skrupellos, reine Ästheten, gänzlich amoralisch, nahe verwandt den gleich¬
mütig-schönen Jünglingen und Mädchen der Ricarda Huch. Als Musterbeispiel
für Münzers raffinierte Erzählungstechnik wähle ich aus den „Abenteuern der
Seele" „Die Madonna des Großherzogs". Ein Bild ist die Hauptperson, eben
die Madonna del Granduca von Raffael im Palazzo Pitti in Florenz. Ein
junger Maler liebt sie seit Jahren. Nun will er sie kopieren und dann auf
seinen Globetrotterfahrten mit sich führen. Das schreibt er seinem reichen Freunde
Jacob Lenden und bittet ihn, nachzukommen. Dieser liest den Brief, als er
todmüde von einem Feste heimkehrt. Am nächsten Tage treffen sie sich in
Verona. Im Luxuszug nach Rom, ihr zweijähriges Kind auf dem Arm, steht
am Fenster eine schöne stille Frau. Der Maler erkennt sie sofort: sie ist es,
die Madonna del Granduca. Seine Sehnsucht hat sie aus dem Rahmen gelockt!
Er spricht sie an, sie ist freundlich zu ihm, aber das Kind stört ihn. Ein
Eisenbahnunfall wirft sie ihm in die Arme. In Florenz verläßt er den Freund
auf ein paar Stunden. Strahlend kehrt er zurück: „Ich habe in ihrem Hause
in der Via Ricasoli drei Stunden bei ihr gelegen und alle Wonne des Himmels
genossen!" „Und das Kind?" schreit der Freund. „Ich habe es getötet, damit
es nicht zusahe." Dann schneidet er sich die Pulsader auf. Das Blut strömt
über des Freundes Arm, aber es ist nicht warm. Es ist — Wasser! Jacob
hat die Wasserkaraffe umgeworfen, die auf seinem Schreibtisch steht. Er ist
beim Lesen des Briefes eingeschlafen. Alles war ein Traum! Man atmet
auf. Aber es geht weiter. Am nächsten Tage fährt er dem Freunde wirklich
nach. Bei Bologna steht er Trümmer von Eisenbahnwagen. Der Schaffner
erzählt ihm auf seine Frage nichts Neues: er hat es ja miterlebt! Im Traum?
Wer will das jetzt noch sagen? In Florenz eilt er ahnungsbang in die Pitti-
galerie. Das Bild ist fort! Es wird restauriert und befindet sich in der Via
Ricasoli. Dieser Name! Daher kam ja der Freund glückstrahlend. Jacob
stürmt in dessen Hotel. Er ist nicht da. Bei einem deutschen Arzt liegt er
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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
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