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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der König von Sachalin

wird es auf der Insel nur an ganz wenigen Tagen, und Sturm, Regen,
Schnee herrschen fast das ganze Jahr. Der Grund für die meisten Beamten,
sich auf der Insel wohl zu fühlen, ist unabhängig von der Natur der Insel.
Er liegt in dem beneidenswerten Abstand von Vorgesetzten und in einem faulen
und ungenierter Leben.

An einem der ersten Tage schlenderte ich langsam nach Dueh hinaus, um
einige erste Eindrücke von der Insel zu gewinnen. Kurz vor meinem Ziel rief
mich ein Posten an, der mit aufgepflanzten Seitengewehr fünfzig Meter über
mir am Hang stand: ich solle mich vor Steinschlag in acht nehmen. Ich sah
hinauf. Hoch oben am Absturz stehend hackten einige Dutzend Zwangsarbeiter
Kohlen aus einem zutage tretenden Flöz, der wie ein schwarzes Band im grauen
Uferrand lag. Die Stücke ließen die Leute an den Strand hinunter rollen.
Unten häuften ein paar andere Sträflinge die Kohlen auf. Als ich an einer
Gruppe von ihnen vorbeikam, richtete sich gerade ein stämmiger Kerl vor mir
auf; wir schauten uns an, es war Pawel Feodorowitsch.

Er reichte mir beneidenswert unbefangen die Hand, und ich war schon
Sibirier genug, den Händedruck des Mörders ruhig zu erwidern. Erst als ich
den krummgebliebenen Finger, in den ihn damals das Dienstmädchen gebissen
hatte, fühlte, zog ich unwillkürlich etwas zurück. Er merkte es, und in sein
Auge trat für einen Moment der scheue Blick, der die Mörder zu kennzeichnen
pflegt.

Ich schickte dem Posten eine Handvoll Zigaretten hinauf und setzte mich
mit Pawel Feodorowitsch zu einem Schwätzchen auf einen in die Brandung
hinausragenden Felsen.

Er saß zuerst in Gedanken, so daß ich ihn betrachten konnte. Er war
doch ein eiserner Kerl, wie er alles überstanden hatte! Der Transport nach
Sibirien und die erste Zeit sind für keinen eine Kleinigkeit; da sind Erleichte¬
rungen kaum möglich, auch für die, die über viel Geld verfügen, kaum. Ich
wunderte mich aber, daß er noch immer schaufeln und karren mußte, wo er
doch schon ein bis zwei Jahre auf der Insel war. Er hatte, scheint es, meine
Gedanken erraten, denn er sagte gleich darauf: .Sie sehen, Karl Karlowitsch,
wie es geht, wenn man hier kein Geld hat. Meine Verwandten lassen mich
gänzlich im Stich, hol' sie der Teufel! In vierzehn Tagen ist Schluß mit dem
Sommer; hier im Winter Kohlen schaufeln, ist ein verdammtes Geschäft; hol'
der Satan alle Weiber bei lebendigem Leibe! Ihre schöne Anna hat mir für
die vielen tausend Rubel, um die sie mich geprellt hat, auch nicht eine Kopeke
geschickt.

Nein, lassen Sie/ sagte er weiter, als ich nach der Brieftasche griff, ,ich
finde schon eines Tages einen Weg heraus aus der Patsche, verlassen Sie
sich darauf/

Auf dem eisernen Gesicht stand nichts von Reue, nur ein ungebrochener
Wille zum Leben.


Der König von Sachalin

wird es auf der Insel nur an ganz wenigen Tagen, und Sturm, Regen,
Schnee herrschen fast das ganze Jahr. Der Grund für die meisten Beamten,
sich auf der Insel wohl zu fühlen, ist unabhängig von der Natur der Insel.
Er liegt in dem beneidenswerten Abstand von Vorgesetzten und in einem faulen
und ungenierter Leben.

An einem der ersten Tage schlenderte ich langsam nach Dueh hinaus, um
einige erste Eindrücke von der Insel zu gewinnen. Kurz vor meinem Ziel rief
mich ein Posten an, der mit aufgepflanzten Seitengewehr fünfzig Meter über
mir am Hang stand: ich solle mich vor Steinschlag in acht nehmen. Ich sah
hinauf. Hoch oben am Absturz stehend hackten einige Dutzend Zwangsarbeiter
Kohlen aus einem zutage tretenden Flöz, der wie ein schwarzes Band im grauen
Uferrand lag. Die Stücke ließen die Leute an den Strand hinunter rollen.
Unten häuften ein paar andere Sträflinge die Kohlen auf. Als ich an einer
Gruppe von ihnen vorbeikam, richtete sich gerade ein stämmiger Kerl vor mir
auf; wir schauten uns an, es war Pawel Feodorowitsch.

Er reichte mir beneidenswert unbefangen die Hand, und ich war schon
Sibirier genug, den Händedruck des Mörders ruhig zu erwidern. Erst als ich
den krummgebliebenen Finger, in den ihn damals das Dienstmädchen gebissen
hatte, fühlte, zog ich unwillkürlich etwas zurück. Er merkte es, und in sein
Auge trat für einen Moment der scheue Blick, der die Mörder zu kennzeichnen
pflegt.

Ich schickte dem Posten eine Handvoll Zigaretten hinauf und setzte mich
mit Pawel Feodorowitsch zu einem Schwätzchen auf einen in die Brandung
hinausragenden Felsen.

Er saß zuerst in Gedanken, so daß ich ihn betrachten konnte. Er war
doch ein eiserner Kerl, wie er alles überstanden hatte! Der Transport nach
Sibirien und die erste Zeit sind für keinen eine Kleinigkeit; da sind Erleichte¬
rungen kaum möglich, auch für die, die über viel Geld verfügen, kaum. Ich
wunderte mich aber, daß er noch immer schaufeln und karren mußte, wo er
doch schon ein bis zwei Jahre auf der Insel war. Er hatte, scheint es, meine
Gedanken erraten, denn er sagte gleich darauf: .Sie sehen, Karl Karlowitsch,
wie es geht, wenn man hier kein Geld hat. Meine Verwandten lassen mich
gänzlich im Stich, hol' sie der Teufel! In vierzehn Tagen ist Schluß mit dem
Sommer; hier im Winter Kohlen schaufeln, ist ein verdammtes Geschäft; hol'
der Satan alle Weiber bei lebendigem Leibe! Ihre schöne Anna hat mir für
die vielen tausend Rubel, um die sie mich geprellt hat, auch nicht eine Kopeke
geschickt.

Nein, lassen Sie/ sagte er weiter, als ich nach der Brieftasche griff, ,ich
finde schon eines Tages einen Weg heraus aus der Patsche, verlassen Sie
sich darauf/

Auf dem eisernen Gesicht stand nichts von Reue, nur ein ungebrochener
Wille zum Leben.


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[0103] Der König von Sachalin wird es auf der Insel nur an ganz wenigen Tagen, und Sturm, Regen, Schnee herrschen fast das ganze Jahr. Der Grund für die meisten Beamten, sich auf der Insel wohl zu fühlen, ist unabhängig von der Natur der Insel. Er liegt in dem beneidenswerten Abstand von Vorgesetzten und in einem faulen und ungenierter Leben. An einem der ersten Tage schlenderte ich langsam nach Dueh hinaus, um einige erste Eindrücke von der Insel zu gewinnen. Kurz vor meinem Ziel rief mich ein Posten an, der mit aufgepflanzten Seitengewehr fünfzig Meter über mir am Hang stand: ich solle mich vor Steinschlag in acht nehmen. Ich sah hinauf. Hoch oben am Absturz stehend hackten einige Dutzend Zwangsarbeiter Kohlen aus einem zutage tretenden Flöz, der wie ein schwarzes Band im grauen Uferrand lag. Die Stücke ließen die Leute an den Strand hinunter rollen. Unten häuften ein paar andere Sträflinge die Kohlen auf. Als ich an einer Gruppe von ihnen vorbeikam, richtete sich gerade ein stämmiger Kerl vor mir auf; wir schauten uns an, es war Pawel Feodorowitsch. Er reichte mir beneidenswert unbefangen die Hand, und ich war schon Sibirier genug, den Händedruck des Mörders ruhig zu erwidern. Erst als ich den krummgebliebenen Finger, in den ihn damals das Dienstmädchen gebissen hatte, fühlte, zog ich unwillkürlich etwas zurück. Er merkte es, und in sein Auge trat für einen Moment der scheue Blick, der die Mörder zu kennzeichnen pflegt. Ich schickte dem Posten eine Handvoll Zigaretten hinauf und setzte mich mit Pawel Feodorowitsch zu einem Schwätzchen auf einen in die Brandung hinausragenden Felsen. Er saß zuerst in Gedanken, so daß ich ihn betrachten konnte. Er war doch ein eiserner Kerl, wie er alles überstanden hatte! Der Transport nach Sibirien und die erste Zeit sind für keinen eine Kleinigkeit; da sind Erleichte¬ rungen kaum möglich, auch für die, die über viel Geld verfügen, kaum. Ich wunderte mich aber, daß er noch immer schaufeln und karren mußte, wo er doch schon ein bis zwei Jahre auf der Insel war. Er hatte, scheint es, meine Gedanken erraten, denn er sagte gleich darauf: .Sie sehen, Karl Karlowitsch, wie es geht, wenn man hier kein Geld hat. Meine Verwandten lassen mich gänzlich im Stich, hol' sie der Teufel! In vierzehn Tagen ist Schluß mit dem Sommer; hier im Winter Kohlen schaufeln, ist ein verdammtes Geschäft; hol' der Satan alle Weiber bei lebendigem Leibe! Ihre schöne Anna hat mir für die vielen tausend Rubel, um die sie mich geprellt hat, auch nicht eine Kopeke geschickt. Nein, lassen Sie/ sagte er weiter, als ich nach der Brieftasche griff, ,ich finde schon eines Tages einen Weg heraus aus der Patsche, verlassen Sie sich darauf/ Auf dem eisernen Gesicht stand nichts von Reue, nur ein ungebrochener Wille zum Leben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/103>, abgerufen am 22.12.2024.