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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der König von Sachalin

haften Schönen neben sich, während erst wenige Wochen vorher die Wogen von
Tsushima über der russischen Flotte zusammengeschlagen waren.

Wir saßen eine Weile stumm und gedachten der Zuckungen, die das Riesen¬
reich erschütterten, in denen die Haltlosigkeit der einzelnen Menschen nur ein
Ausfluß der Verworrenheit des Ganzen war.

"Der Tollsten einer war damals," fuhr Herr Stürgens fort. "Pawel
Feodorowitsch. Ein mittelgroßer fester Kerl mit einem Kopf, dem man eine
wilde Willenskraft ansah. Die Kameraden fürchteten ihn, für Weiber war er
unwiderstehlich. Er hatte schon oft mit unserer Anna angebandelt und schickte
ihr auch an jenem Abend eine Botschaft über die andere, an seinen Tisch zu
kommen, wo er mit einigen Kameraden saß. Aber sie wollte heute nicht, weil
einer von uns, der .schöne BeusV, seinen Abschied aus Rußland feierte. Pawel
Feodorowitsch blieb nichts übrig, als uns alle miteinzuladen. Wir hatten nichts
gegen einen lustigen Abend einzuwenden. Es dauerte nicht lange, da saßen
wir verstärkt durch ein halb Dutzend anderer Mädchen und zwei Moskaner
Fabrikantensöhne in einem Kabinett. Durch eine vorgezogene Portiere drang
die Musik aus dem Saal zu uns herein. Wein, Sekt, Liköre zusammen mit
allem, was die raffinierteste russische Küche bieten kann, brachten uns in Stimmung.
Pawel mußte gerade gut bei Kasse sein. Er und die beiden Moskaner über¬
boten sich im Geldhinauswerfen.

Eine der Chansonetten von Krestowski nach der anderen ließen wir in
unserem Kabinett auftreten, Zigeunerchöre mußten vor uns singen, Zigeuner
uns zum Tanz aufspielen. Zum Schluß wurde es uns Deutschen zu wüst;
die aus Rand und Band geratenen Russen zogen die Mädchen halb aus, und
die beiden Moskaner fingen an mit Champagnerflaschen die Spiegelscheiben des
Kabinetts einzuwerfen.

Sie können sich denken, daß dabei Wirt und Kellner keine Miene verzogen;
ein besseres Geschäft gibt es ja nicht. Die Kellner schleppten die Hälfte der
Flaschen überhaupt unaufgekorkt wieder hinaus. Pawel und die Moskaner
bezahlten nur noch mit Hundertrubelscheinen.

An dem Abend hatte die schöne Anna ihr Herz an Pawel verloren, sie
zog bei uns aus, ich sah sie seitdem noch ein paarmal im eigenen Wagen
fahren, einmal mit Pawel Feodorowitsch, dann verlor ich beide ganz aus den
Augen.

Ein paar Jahre später erst kamen sie mir wieder in Erinnerung. Alle
Zeitungen waren voll von einem großen Mordprozeß. Der traurige Held war
Pawel Feodorowitsch. Die Gerichtsverhandlungen entrollten die Geschichte in
aller Breite. Pawel hatte sich für die schöne Anna im Galopp ruiniert. Als
alle Geldquellen erschöpft waren, hatte er bei einem besonders gefährlichen Wucherer
große Summen bekommen. Dieser war merkwürdigerweise mit ihm verwandt,
so einer von den hier nicht ganz seltenen Wucherern aus bester Gesellschaft.
Ganz klar ist mir die Sache nicht geworden; war es wegen der Verwandtschaft


Der König von Sachalin

haften Schönen neben sich, während erst wenige Wochen vorher die Wogen von
Tsushima über der russischen Flotte zusammengeschlagen waren.

Wir saßen eine Weile stumm und gedachten der Zuckungen, die das Riesen¬
reich erschütterten, in denen die Haltlosigkeit der einzelnen Menschen nur ein
Ausfluß der Verworrenheit des Ganzen war.

„Der Tollsten einer war damals," fuhr Herr Stürgens fort. „Pawel
Feodorowitsch. Ein mittelgroßer fester Kerl mit einem Kopf, dem man eine
wilde Willenskraft ansah. Die Kameraden fürchteten ihn, für Weiber war er
unwiderstehlich. Er hatte schon oft mit unserer Anna angebandelt und schickte
ihr auch an jenem Abend eine Botschaft über die andere, an seinen Tisch zu
kommen, wo er mit einigen Kameraden saß. Aber sie wollte heute nicht, weil
einer von uns, der .schöne BeusV, seinen Abschied aus Rußland feierte. Pawel
Feodorowitsch blieb nichts übrig, als uns alle miteinzuladen. Wir hatten nichts
gegen einen lustigen Abend einzuwenden. Es dauerte nicht lange, da saßen
wir verstärkt durch ein halb Dutzend anderer Mädchen und zwei Moskaner
Fabrikantensöhne in einem Kabinett. Durch eine vorgezogene Portiere drang
die Musik aus dem Saal zu uns herein. Wein, Sekt, Liköre zusammen mit
allem, was die raffinierteste russische Küche bieten kann, brachten uns in Stimmung.
Pawel mußte gerade gut bei Kasse sein. Er und die beiden Moskaner über¬
boten sich im Geldhinauswerfen.

Eine der Chansonetten von Krestowski nach der anderen ließen wir in
unserem Kabinett auftreten, Zigeunerchöre mußten vor uns singen, Zigeuner
uns zum Tanz aufspielen. Zum Schluß wurde es uns Deutschen zu wüst;
die aus Rand und Band geratenen Russen zogen die Mädchen halb aus, und
die beiden Moskaner fingen an mit Champagnerflaschen die Spiegelscheiben des
Kabinetts einzuwerfen.

Sie können sich denken, daß dabei Wirt und Kellner keine Miene verzogen;
ein besseres Geschäft gibt es ja nicht. Die Kellner schleppten die Hälfte der
Flaschen überhaupt unaufgekorkt wieder hinaus. Pawel und die Moskaner
bezahlten nur noch mit Hundertrubelscheinen.

An dem Abend hatte die schöne Anna ihr Herz an Pawel verloren, sie
zog bei uns aus, ich sah sie seitdem noch ein paarmal im eigenen Wagen
fahren, einmal mit Pawel Feodorowitsch, dann verlor ich beide ganz aus den
Augen.

Ein paar Jahre später erst kamen sie mir wieder in Erinnerung. Alle
Zeitungen waren voll von einem großen Mordprozeß. Der traurige Held war
Pawel Feodorowitsch. Die Gerichtsverhandlungen entrollten die Geschichte in
aller Breite. Pawel hatte sich für die schöne Anna im Galopp ruiniert. Als
alle Geldquellen erschöpft waren, hatte er bei einem besonders gefährlichen Wucherer
große Summen bekommen. Dieser war merkwürdigerweise mit ihm verwandt,
so einer von den hier nicht ganz seltenen Wucherern aus bester Gesellschaft.
Ganz klar ist mir die Sache nicht geworden; war es wegen der Verwandtschaft


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[0101] Der König von Sachalin haften Schönen neben sich, während erst wenige Wochen vorher die Wogen von Tsushima über der russischen Flotte zusammengeschlagen waren. Wir saßen eine Weile stumm und gedachten der Zuckungen, die das Riesen¬ reich erschütterten, in denen die Haltlosigkeit der einzelnen Menschen nur ein Ausfluß der Verworrenheit des Ganzen war. „Der Tollsten einer war damals," fuhr Herr Stürgens fort. „Pawel Feodorowitsch. Ein mittelgroßer fester Kerl mit einem Kopf, dem man eine wilde Willenskraft ansah. Die Kameraden fürchteten ihn, für Weiber war er unwiderstehlich. Er hatte schon oft mit unserer Anna angebandelt und schickte ihr auch an jenem Abend eine Botschaft über die andere, an seinen Tisch zu kommen, wo er mit einigen Kameraden saß. Aber sie wollte heute nicht, weil einer von uns, der .schöne BeusV, seinen Abschied aus Rußland feierte. Pawel Feodorowitsch blieb nichts übrig, als uns alle miteinzuladen. Wir hatten nichts gegen einen lustigen Abend einzuwenden. Es dauerte nicht lange, da saßen wir verstärkt durch ein halb Dutzend anderer Mädchen und zwei Moskaner Fabrikantensöhne in einem Kabinett. Durch eine vorgezogene Portiere drang die Musik aus dem Saal zu uns herein. Wein, Sekt, Liköre zusammen mit allem, was die raffinierteste russische Küche bieten kann, brachten uns in Stimmung. Pawel mußte gerade gut bei Kasse sein. Er und die beiden Moskaner über¬ boten sich im Geldhinauswerfen. Eine der Chansonetten von Krestowski nach der anderen ließen wir in unserem Kabinett auftreten, Zigeunerchöre mußten vor uns singen, Zigeuner uns zum Tanz aufspielen. Zum Schluß wurde es uns Deutschen zu wüst; die aus Rand und Band geratenen Russen zogen die Mädchen halb aus, und die beiden Moskaner fingen an mit Champagnerflaschen die Spiegelscheiben des Kabinetts einzuwerfen. Sie können sich denken, daß dabei Wirt und Kellner keine Miene verzogen; ein besseres Geschäft gibt es ja nicht. Die Kellner schleppten die Hälfte der Flaschen überhaupt unaufgekorkt wieder hinaus. Pawel und die Moskaner bezahlten nur noch mit Hundertrubelscheinen. An dem Abend hatte die schöne Anna ihr Herz an Pawel verloren, sie zog bei uns aus, ich sah sie seitdem noch ein paarmal im eigenen Wagen fahren, einmal mit Pawel Feodorowitsch, dann verlor ich beide ganz aus den Augen. Ein paar Jahre später erst kamen sie mir wieder in Erinnerung. Alle Zeitungen waren voll von einem großen Mordprozeß. Der traurige Held war Pawel Feodorowitsch. Die Gerichtsverhandlungen entrollten die Geschichte in aller Breite. Pawel hatte sich für die schöne Anna im Galopp ruiniert. Als alle Geldquellen erschöpft waren, hatte er bei einem besonders gefährlichen Wucherer große Summen bekommen. Dieser war merkwürdigerweise mit ihm verwandt, so einer von den hier nicht ganz seltenen Wucherern aus bester Gesellschaft. Ganz klar ist mir die Sache nicht geworden; war es wegen der Verwandtschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/101>, abgerufen am 04.07.2024.