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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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haben, ist es nicht mehr angängig, sie mit den geistigen Mitteln des Nationalitöten-
kampfes lösen zu wollen. In einer Wirtschaftsorganisation, in der alles
mobilisiert wird, wird stets derjenige die am heißesten begehrten Waren kaufen
können, dem das meiste Geld zur Verfügung steht. Das aber sind in der
Ostmark, wo eben der Boden die am heißesten umstrittene Ware bildet, die Polen;
sie verfügen uicht nur über viele hundert Millionen Arbeiterersparnisse aus den
Jndustriegegendcn, sondern auch über die etwa 600 Millionen Mark, die die An-
siedlungskommission in die Ostmark getragen hat. Weil guter deutscher Boden
demi falschen Gott der Handelsfreiheit geopfert wird, deshalb verlieren wir ihn
an das Fremdvolk und lassen es in ihrer vermeintlichen Verlegenheit so über¬
mütig werden, daß es selbst zum Boykott deutscher Waren innerhalb der
deutschen Landesgrenzen schreitet.

Die Erstarkung des Polentunis, die aus dem Boykott zutage zu treten
scheint, ist indessen problematischer Natur. In der Boykotterklärung brauchen
wir lediglich einen gut organisierten Volkswillen zu erkennen sowie die Überzeugung
bei den polnischen Führern, daß die polnische städtische Bevölkerung bereits
befähigt ist, die Versorgung der Ostmark mit ihrem Warenbedarf selbständig
vornehmen zu können. Wer seinerzeit das Buch Bernhards über die polnischen Wirt¬
schaftsorganisationen aufmerksam studiert hat, der wird von der Tatsache uicht
überrascht sein, und wer die Wechselwirkung zwischen ländlicher Kolonisation und
städtischer Gewerbeentwicklung zu beobachten Gelegenheit hatte, wird sich über
die Erstarkung des polnischen Bürgertums in den Städten nicht wundern. Die
Ansiedlung deutscher Bauern und die damit zusammenhängende Auflösung der
landwirtschaftlichen Großbetriebe hat, wie ich dies schon im Sommer 1908 in
diesen Heften näher begründete, auch dem alteingesessenen Handel in den Städten,
der mangels einer Industrie fast ausschließlich auf das platte Land angewiesen
ist, die Verbindungen zerstört und zwar um so schneller, als mit den Ansiedlern
auch das Genossenschaftswesen siegreich seinen Einzug in die Ostmark hielt.
Der alte Handel aber lag vorzugsweise in jüdischen Händen; die Polen fingen
erst um die Mitte der 1890er Jahre an, sich in größerem Umfange im Handel
zu betätigten. Nachdem die Juden aber ihre Handelsverbindungen verloren hatte",
wanderten sie. beweglich wie sie sind, in die großen Städte, besonders nach
Berlin aus. Da nun aber kein geeigneter deutscher Kaufmannsnachwnchs vorhanden
war, die Protektionswirtschaft aber, die die deutschen Beamten usw. zwingt,
ausschließlich bei Deutschen zu kaufen, die wenigen deutschen Kaufleute und
Handwerker sehr schnell konkurrenzunlustig gemacht hat, konnten die Polen um
so eher in die Lücke springen, als sie offen in ihrer Nationalität bedroht, zur
höchsten Anspannung ihrer Kräfte in Handwerk und Handel geradezu gezwungen
wurden. Diese Entwicklung mußte kommen; sie war jedem klar, der überhaupt
nur über Siedlungsprobleme nachgedacht hat. Daß sie aber eine so wenig
vorbereitete deutsche Kampfmannschaft findet, das ist unsere, der Deutschen eigene
Schuld. So wenig erfreulich das hier skizzierte Bild auch ist, so haben wir


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haben, ist es nicht mehr angängig, sie mit den geistigen Mitteln des Nationalitöten-
kampfes lösen zu wollen. In einer Wirtschaftsorganisation, in der alles
mobilisiert wird, wird stets derjenige die am heißesten begehrten Waren kaufen
können, dem das meiste Geld zur Verfügung steht. Das aber sind in der
Ostmark, wo eben der Boden die am heißesten umstrittene Ware bildet, die Polen;
sie verfügen uicht nur über viele hundert Millionen Arbeiterersparnisse aus den
Jndustriegegendcn, sondern auch über die etwa 600 Millionen Mark, die die An-
siedlungskommission in die Ostmark getragen hat. Weil guter deutscher Boden
demi falschen Gott der Handelsfreiheit geopfert wird, deshalb verlieren wir ihn
an das Fremdvolk und lassen es in ihrer vermeintlichen Verlegenheit so über¬
mütig werden, daß es selbst zum Boykott deutscher Waren innerhalb der
deutschen Landesgrenzen schreitet.

Die Erstarkung des Polentunis, die aus dem Boykott zutage zu treten
scheint, ist indessen problematischer Natur. In der Boykotterklärung brauchen
wir lediglich einen gut organisierten Volkswillen zu erkennen sowie die Überzeugung
bei den polnischen Führern, daß die polnische städtische Bevölkerung bereits
befähigt ist, die Versorgung der Ostmark mit ihrem Warenbedarf selbständig
vornehmen zu können. Wer seinerzeit das Buch Bernhards über die polnischen Wirt¬
schaftsorganisationen aufmerksam studiert hat, der wird von der Tatsache uicht
überrascht sein, und wer die Wechselwirkung zwischen ländlicher Kolonisation und
städtischer Gewerbeentwicklung zu beobachten Gelegenheit hatte, wird sich über
die Erstarkung des polnischen Bürgertums in den Städten nicht wundern. Die
Ansiedlung deutscher Bauern und die damit zusammenhängende Auflösung der
landwirtschaftlichen Großbetriebe hat, wie ich dies schon im Sommer 1908 in
diesen Heften näher begründete, auch dem alteingesessenen Handel in den Städten,
der mangels einer Industrie fast ausschließlich auf das platte Land angewiesen
ist, die Verbindungen zerstört und zwar um so schneller, als mit den Ansiedlern
auch das Genossenschaftswesen siegreich seinen Einzug in die Ostmark hielt.
Der alte Handel aber lag vorzugsweise in jüdischen Händen; die Polen fingen
erst um die Mitte der 1890er Jahre an, sich in größerem Umfange im Handel
zu betätigten. Nachdem die Juden aber ihre Handelsverbindungen verloren hatte»,
wanderten sie. beweglich wie sie sind, in die großen Städte, besonders nach
Berlin aus. Da nun aber kein geeigneter deutscher Kaufmannsnachwnchs vorhanden
war, die Protektionswirtschaft aber, die die deutschen Beamten usw. zwingt,
ausschließlich bei Deutschen zu kaufen, die wenigen deutschen Kaufleute und
Handwerker sehr schnell konkurrenzunlustig gemacht hat, konnten die Polen um
so eher in die Lücke springen, als sie offen in ihrer Nationalität bedroht, zur
höchsten Anspannung ihrer Kräfte in Handwerk und Handel geradezu gezwungen
wurden. Diese Entwicklung mußte kommen; sie war jedem klar, der überhaupt
nur über Siedlungsprobleme nachgedacht hat. Daß sie aber eine so wenig
vorbereitete deutsche Kampfmannschaft findet, das ist unsere, der Deutschen eigene
Schuld. So wenig erfreulich das hier skizzierte Bild auch ist, so haben wir


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[0643] Icchrschluß ,9,2 haben, ist es nicht mehr angängig, sie mit den geistigen Mitteln des Nationalitöten- kampfes lösen zu wollen. In einer Wirtschaftsorganisation, in der alles mobilisiert wird, wird stets derjenige die am heißesten begehrten Waren kaufen können, dem das meiste Geld zur Verfügung steht. Das aber sind in der Ostmark, wo eben der Boden die am heißesten umstrittene Ware bildet, die Polen; sie verfügen uicht nur über viele hundert Millionen Arbeiterersparnisse aus den Jndustriegegendcn, sondern auch über die etwa 600 Millionen Mark, die die An- siedlungskommission in die Ostmark getragen hat. Weil guter deutscher Boden demi falschen Gott der Handelsfreiheit geopfert wird, deshalb verlieren wir ihn an das Fremdvolk und lassen es in ihrer vermeintlichen Verlegenheit so über¬ mütig werden, daß es selbst zum Boykott deutscher Waren innerhalb der deutschen Landesgrenzen schreitet. Die Erstarkung des Polentunis, die aus dem Boykott zutage zu treten scheint, ist indessen problematischer Natur. In der Boykotterklärung brauchen wir lediglich einen gut organisierten Volkswillen zu erkennen sowie die Überzeugung bei den polnischen Führern, daß die polnische städtische Bevölkerung bereits befähigt ist, die Versorgung der Ostmark mit ihrem Warenbedarf selbständig vornehmen zu können. Wer seinerzeit das Buch Bernhards über die polnischen Wirt¬ schaftsorganisationen aufmerksam studiert hat, der wird von der Tatsache uicht überrascht sein, und wer die Wechselwirkung zwischen ländlicher Kolonisation und städtischer Gewerbeentwicklung zu beobachten Gelegenheit hatte, wird sich über die Erstarkung des polnischen Bürgertums in den Städten nicht wundern. Die Ansiedlung deutscher Bauern und die damit zusammenhängende Auflösung der landwirtschaftlichen Großbetriebe hat, wie ich dies schon im Sommer 1908 in diesen Heften näher begründete, auch dem alteingesessenen Handel in den Städten, der mangels einer Industrie fast ausschließlich auf das platte Land angewiesen ist, die Verbindungen zerstört und zwar um so schneller, als mit den Ansiedlern auch das Genossenschaftswesen siegreich seinen Einzug in die Ostmark hielt. Der alte Handel aber lag vorzugsweise in jüdischen Händen; die Polen fingen erst um die Mitte der 1890er Jahre an, sich in größerem Umfange im Handel zu betätigten. Nachdem die Juden aber ihre Handelsverbindungen verloren hatte», wanderten sie. beweglich wie sie sind, in die großen Städte, besonders nach Berlin aus. Da nun aber kein geeigneter deutscher Kaufmannsnachwnchs vorhanden war, die Protektionswirtschaft aber, die die deutschen Beamten usw. zwingt, ausschließlich bei Deutschen zu kaufen, die wenigen deutschen Kaufleute und Handwerker sehr schnell konkurrenzunlustig gemacht hat, konnten die Polen um so eher in die Lücke springen, als sie offen in ihrer Nationalität bedroht, zur höchsten Anspannung ihrer Kräfte in Handwerk und Handel geradezu gezwungen wurden. Diese Entwicklung mußte kommen; sie war jedem klar, der überhaupt nur über Siedlungsprobleme nachgedacht hat. Daß sie aber eine so wenig vorbereitete deutsche Kampfmannschaft findet, das ist unsere, der Deutschen eigene Schuld. So wenig erfreulich das hier skizzierte Bild auch ist, so haben wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/643>, abgerufen am 15.01.2025.