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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage

deutschen Interessen in Marokko allerdings eine Lächerlichkeit gewesen wäre,
wurde als eindringliche Lektion gegenüber einer versuchten Ausschaltung Deutsch¬
lands bei einer wichtigen Umgestaltung der Weltpolitik eine berechtigte Ma߬
nahme und eine Notwendigkeit. Wirksamer -- und dabei in einwandfreier,
fast harmloser Form -- konnte Deutschland nicht zum Ausdruck bringen, was
damals nicht aus Gründen der Marokkopolitik, sondern der allgemeinen Politik
auszudrücken notwendig war: daß es das englisch-französische Abkommen nicht
etwa in seiner Gültigkeit bestritt, sondern überhaupt als nicht existierend ansah.
Es ist also falsch, diesen Schritt nur an den besonderen Zielen der deutschen
Marokkopolitik zu messen.

Warum aber -- so fragt man weiter -- nahm Deutschland, wenn es in
Marokko doch nur seine Handelsinteressen sicherstellen wollte, nach dem großen
Erfolg, den es durch das Ausscheiden Delcassüs erreicht hatte, nicht die an¬
gebotene Verständigung mit Frankreich an, die auf derselben Grundlage erfolgen
konnte, wie sie 1909 tatsächlich erfolgt ist? Die Antwort ist einfach: Weil diese
Lösung die Anerkennung der französisch-englisch-spanischen Abmachungen in sich
schloß und damit Deutschland die einzige Rechtshandhabe genommen hätte,
um auch nur die bescheidensten Ansprüche für feinen Handel durchzusetzen. Die
Bereitwilligkeit Frankreichs war ein hingeworfener Köder; es wäre natürlich den
Franzosen angenehmer gewesen, wenn Deutschland die Ansprüche, die es bereits
aus eigenem Recht besaß, in einem Sonderabkommen als ein Geschenk Frank¬
reichs entgegengenommen hätte. Frankreich Hütte dann ohne eigentliche Gegen¬
leistung die Anerkennung seiner Stellung als bevorrechtete Macht in Marokko erlangt.
Das eben durfte nicht sein. Die deutschen Ansprüche bestanden für sich zu Recht --
mit oder ohne Frankreichs Erlaubnis -- und diese Tatsache konnte, solange
Marokko als unabhängiger Staat bestand, nur durch eine erneute Festlegung
der vor dem stanzösisch-englischen Abkommen vorhandenen internationalen Rechts¬
lage befriedigt werde. Ohne diese Festlegung hätte sich Frankreich nach der von ihm
allgemein geübten Praxis niemals dazu verstanden, den deutschen Interessen irgend¬
welchen Raum zu lassen -- trotz aller Verträge. Es war vollkommen richtig, was der
Kaiser in Tanger gesagt hatte, als er bei Begrüßung der deutschen Kolonie
das Versprechen, den Handel zu schützen, mit dem Zusatz begleitete, er werde
für die volle Gleichberechtigung mit allen Mächten sorgen, "was nur bei Sou¬
veränität des Sultans und Unabhängigkeit des Landes möglich ist". Es lag
im Zweck des Kaiserbesuches, den Sultan als freien Herrscher zu begrüßen und
die Gleichberechtigung aller Mächte zu betonen. Wenn das auch keineswegs,
wie später wohl behauptet worden ist, die Verbürgung der Unabhängigkeit
Marokkos für alle Zeiten, vielmehr nur die Bekundung des geltenden Rechts¬
zustandes bedeutete, so schloß doch dieses Kaiserwort für Deutschland die Mög¬
lichkeit aus, unmittelbar darauf diesen Standpunkt fallen zu lassen und ein
Sonderabkommen mit Frankreich einzugehen. Fürst Bülows staatsmännischer
Scharfblick hatte alle diese Momente richtig erfaßt, als er trotz mancher


Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage

deutschen Interessen in Marokko allerdings eine Lächerlichkeit gewesen wäre,
wurde als eindringliche Lektion gegenüber einer versuchten Ausschaltung Deutsch¬
lands bei einer wichtigen Umgestaltung der Weltpolitik eine berechtigte Ma߬
nahme und eine Notwendigkeit. Wirksamer — und dabei in einwandfreier,
fast harmloser Form — konnte Deutschland nicht zum Ausdruck bringen, was
damals nicht aus Gründen der Marokkopolitik, sondern der allgemeinen Politik
auszudrücken notwendig war: daß es das englisch-französische Abkommen nicht
etwa in seiner Gültigkeit bestritt, sondern überhaupt als nicht existierend ansah.
Es ist also falsch, diesen Schritt nur an den besonderen Zielen der deutschen
Marokkopolitik zu messen.

Warum aber — so fragt man weiter — nahm Deutschland, wenn es in
Marokko doch nur seine Handelsinteressen sicherstellen wollte, nach dem großen
Erfolg, den es durch das Ausscheiden Delcassüs erreicht hatte, nicht die an¬
gebotene Verständigung mit Frankreich an, die auf derselben Grundlage erfolgen
konnte, wie sie 1909 tatsächlich erfolgt ist? Die Antwort ist einfach: Weil diese
Lösung die Anerkennung der französisch-englisch-spanischen Abmachungen in sich
schloß und damit Deutschland die einzige Rechtshandhabe genommen hätte,
um auch nur die bescheidensten Ansprüche für feinen Handel durchzusetzen. Die
Bereitwilligkeit Frankreichs war ein hingeworfener Köder; es wäre natürlich den
Franzosen angenehmer gewesen, wenn Deutschland die Ansprüche, die es bereits
aus eigenem Recht besaß, in einem Sonderabkommen als ein Geschenk Frank¬
reichs entgegengenommen hätte. Frankreich Hütte dann ohne eigentliche Gegen¬
leistung die Anerkennung seiner Stellung als bevorrechtete Macht in Marokko erlangt.
Das eben durfte nicht sein. Die deutschen Ansprüche bestanden für sich zu Recht —
mit oder ohne Frankreichs Erlaubnis — und diese Tatsache konnte, solange
Marokko als unabhängiger Staat bestand, nur durch eine erneute Festlegung
der vor dem stanzösisch-englischen Abkommen vorhandenen internationalen Rechts¬
lage befriedigt werde. Ohne diese Festlegung hätte sich Frankreich nach der von ihm
allgemein geübten Praxis niemals dazu verstanden, den deutschen Interessen irgend¬
welchen Raum zu lassen — trotz aller Verträge. Es war vollkommen richtig, was der
Kaiser in Tanger gesagt hatte, als er bei Begrüßung der deutschen Kolonie
das Versprechen, den Handel zu schützen, mit dem Zusatz begleitete, er werde
für die volle Gleichberechtigung mit allen Mächten sorgen, „was nur bei Sou¬
veränität des Sultans und Unabhängigkeit des Landes möglich ist". Es lag
im Zweck des Kaiserbesuches, den Sultan als freien Herrscher zu begrüßen und
die Gleichberechtigung aller Mächte zu betonen. Wenn das auch keineswegs,
wie später wohl behauptet worden ist, die Verbürgung der Unabhängigkeit
Marokkos für alle Zeiten, vielmehr nur die Bekundung des geltenden Rechts¬
zustandes bedeutete, so schloß doch dieses Kaiserwort für Deutschland die Mög¬
lichkeit aus, unmittelbar darauf diesen Standpunkt fallen zu lassen und ein
Sonderabkommen mit Frankreich einzugehen. Fürst Bülows staatsmännischer
Scharfblick hatte alle diese Momente richtig erfaßt, als er trotz mancher


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[0514] Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage deutschen Interessen in Marokko allerdings eine Lächerlichkeit gewesen wäre, wurde als eindringliche Lektion gegenüber einer versuchten Ausschaltung Deutsch¬ lands bei einer wichtigen Umgestaltung der Weltpolitik eine berechtigte Ma߬ nahme und eine Notwendigkeit. Wirksamer — und dabei in einwandfreier, fast harmloser Form — konnte Deutschland nicht zum Ausdruck bringen, was damals nicht aus Gründen der Marokkopolitik, sondern der allgemeinen Politik auszudrücken notwendig war: daß es das englisch-französische Abkommen nicht etwa in seiner Gültigkeit bestritt, sondern überhaupt als nicht existierend ansah. Es ist also falsch, diesen Schritt nur an den besonderen Zielen der deutschen Marokkopolitik zu messen. Warum aber — so fragt man weiter — nahm Deutschland, wenn es in Marokko doch nur seine Handelsinteressen sicherstellen wollte, nach dem großen Erfolg, den es durch das Ausscheiden Delcassüs erreicht hatte, nicht die an¬ gebotene Verständigung mit Frankreich an, die auf derselben Grundlage erfolgen konnte, wie sie 1909 tatsächlich erfolgt ist? Die Antwort ist einfach: Weil diese Lösung die Anerkennung der französisch-englisch-spanischen Abmachungen in sich schloß und damit Deutschland die einzige Rechtshandhabe genommen hätte, um auch nur die bescheidensten Ansprüche für feinen Handel durchzusetzen. Die Bereitwilligkeit Frankreichs war ein hingeworfener Köder; es wäre natürlich den Franzosen angenehmer gewesen, wenn Deutschland die Ansprüche, die es bereits aus eigenem Recht besaß, in einem Sonderabkommen als ein Geschenk Frank¬ reichs entgegengenommen hätte. Frankreich Hütte dann ohne eigentliche Gegen¬ leistung die Anerkennung seiner Stellung als bevorrechtete Macht in Marokko erlangt. Das eben durfte nicht sein. Die deutschen Ansprüche bestanden für sich zu Recht — mit oder ohne Frankreichs Erlaubnis — und diese Tatsache konnte, solange Marokko als unabhängiger Staat bestand, nur durch eine erneute Festlegung der vor dem stanzösisch-englischen Abkommen vorhandenen internationalen Rechts¬ lage befriedigt werde. Ohne diese Festlegung hätte sich Frankreich nach der von ihm allgemein geübten Praxis niemals dazu verstanden, den deutschen Interessen irgend¬ welchen Raum zu lassen — trotz aller Verträge. Es war vollkommen richtig, was der Kaiser in Tanger gesagt hatte, als er bei Begrüßung der deutschen Kolonie das Versprechen, den Handel zu schützen, mit dem Zusatz begleitete, er werde für die volle Gleichberechtigung mit allen Mächten sorgen, „was nur bei Sou¬ veränität des Sultans und Unabhängigkeit des Landes möglich ist". Es lag im Zweck des Kaiserbesuches, den Sultan als freien Herrscher zu begrüßen und die Gleichberechtigung aller Mächte zu betonen. Wenn das auch keineswegs, wie später wohl behauptet worden ist, die Verbürgung der Unabhängigkeit Marokkos für alle Zeiten, vielmehr nur die Bekundung des geltenden Rechts¬ zustandes bedeutete, so schloß doch dieses Kaiserwort für Deutschland die Mög¬ lichkeit aus, unmittelbar darauf diesen Standpunkt fallen zu lassen und ein Sonderabkommen mit Frankreich einzugehen. Fürst Bülows staatsmännischer Scharfblick hatte alle diese Momente richtig erfaßt, als er trotz mancher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/514>, abgerufen am 15.01.2025.