Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage Kaiserbesuch in Tanger am 30. März 1905, das Unterbleiben einer Ver¬ Diese Vorwürfe und Einwände würden ganz berechtigt fein, wenn die Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage Kaiserbesuch in Tanger am 30. März 1905, das Unterbleiben einer Ver¬ Diese Vorwürfe und Einwände würden ganz berechtigt fein, wenn die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0513" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322915"/> <fw type="header" place="top"> Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage</fw><lb/> <p xml:id="ID_2537" prev="#ID_2536"> Kaiserbesuch in Tanger am 30. März 1905, das Unterbleiben einer Ver¬<lb/> ständigung mit Frankreich nach dem Sturze Delcassös im Sommer desselben<lb/> Jahres und endlich die Entsendung eines deutschen Kriegsschiffs nach Agadir<lb/> im Sommer 1911. Bei diesen drei Gelegenheiten vor allem glaubt die Kritik<lb/> ein auffallendes Mißverhältnis zwischen den angewandten Mitteln und dem<lb/> angestrebten Ziel zu erkennen. Sie schließt daraus, daß die deutsche Politik<lb/> von vorübergehenden Impulsen, mehr zu erreichen, nicht frei gewesen sei; und<lb/> da nun zwar auf die Tangerfahrt der Sturz Delcassös, dann aber auf die<lb/> Zurückweisung der Verständigung mit Frankreich die trüben Erfahrungen in<lb/> Algeciras und auf die „befreiende Tat" von Agadir die Enttäuschungen der<lb/> weiteren Verhandlungen folgten, fo gilt das alles als Beweis, daß jeder dieser<lb/> vermeintlichen großen Anläufe zu einem Mißerfolg geführt habe. Denn der<lb/> einzige wirkliche Triumph, der Sturz Delcasses — so sagt man — stehe doch<lb/> in keinem rechten Verhältnis zu einem so starken Mittel, wie es die Aus¬<lb/> spielung der Person des Deutschen Kaisers durch die Tangerfahrt gewesen sei,<lb/> und dieser Erfolg sei nicht einmal ausgenutzt worden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2538" next="#ID_2539"> Diese Vorwürfe und Einwände würden ganz berechtigt fein, wenn die<lb/> Marokkofrage aus dem Zusammenhange mit der sogenannten „großen" Politik<lb/> der europäischen Großmächte herauszulösen gewesen wäre, — wenn etwa<lb/> Frankreich nichts weiter gewollt hätte, als seinen nordafrikanischen Kolonialbesitz<lb/> durch die Erwerbung der Nordwestecke des schwarzen Erdteils zu erweitern. Man<lb/> muß aber bedenken, daß jeder Schritt, der uns in Marokko unserem wirklich<lb/> so bescheidenen Ziele näher führen sollte, zugleich ein Schachzug auf dem Brett<lb/> der europäischen Politik war. England suchte infolge einer vollständigen Neu¬<lb/> orientierung seiner Politik eine Annäherung an Frankreich und mit Hilfe dieser<lb/> Verständigung eine stärkere Sicherung seines Weges nach Indien; Frankreich<lb/> suchte eine bessere Rückendeckung für seine von dem Grundgedanken der Feind¬<lb/> schaft gegen Deutschland getragene Politik. Marokko war für beide Mächte<lb/> nur das Mittel zur Erreichung umfassenderer Zwecke. Darum benutzte Frankreich<lb/> den mit England abgeschlossenen Vertrag zu einem Akt offenkundiger Nicht¬<lb/> achtung nicht nur der deutschen Interessen in Marokko, sondern auch der poli¬<lb/> tischen Stellung Deutschlands in Europa, indem es das Abkommen der deutschen<lb/> Regierung nicht modifizierte. Die richtige Antwort darauf konnte nur ein öffent-<lb/> licher Akt gleicher Nichtbeachtung des englisch-französischen Abkommens von<lb/> seiten Deutschlands sein. Jeder gewöhnliche diplomatische Schritt hätte diesen<lb/> Zweck nicht erfüllt, weil er entweder wirkungslos geblieben wäre oder fast<lb/> unmittelbar einen Konflikt herbeigeführt hätte. Es mußte ein auffallender,<lb/> auf die ganze Welt stark wirkender, außerhalb der diplomatischen Aktionen<lb/> bleibender und doch an sich nicht provozierender Schritt sein. Diese An¬<lb/> forderungen konnte nur ein, sozusagen, höfischer Akt erfüllen.' das Betreten<lb/> marokkanischen Bodens durch den Deutschen Kaiser und seine Begrüßung im<lb/> Auftrage des unabhängigen Sultans von Marokko. Was zur Feststellung der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0513]
Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage
Kaiserbesuch in Tanger am 30. März 1905, das Unterbleiben einer Ver¬
ständigung mit Frankreich nach dem Sturze Delcassös im Sommer desselben
Jahres und endlich die Entsendung eines deutschen Kriegsschiffs nach Agadir
im Sommer 1911. Bei diesen drei Gelegenheiten vor allem glaubt die Kritik
ein auffallendes Mißverhältnis zwischen den angewandten Mitteln und dem
angestrebten Ziel zu erkennen. Sie schließt daraus, daß die deutsche Politik
von vorübergehenden Impulsen, mehr zu erreichen, nicht frei gewesen sei; und
da nun zwar auf die Tangerfahrt der Sturz Delcassös, dann aber auf die
Zurückweisung der Verständigung mit Frankreich die trüben Erfahrungen in
Algeciras und auf die „befreiende Tat" von Agadir die Enttäuschungen der
weiteren Verhandlungen folgten, fo gilt das alles als Beweis, daß jeder dieser
vermeintlichen großen Anläufe zu einem Mißerfolg geführt habe. Denn der
einzige wirkliche Triumph, der Sturz Delcasses — so sagt man — stehe doch
in keinem rechten Verhältnis zu einem so starken Mittel, wie es die Aus¬
spielung der Person des Deutschen Kaisers durch die Tangerfahrt gewesen sei,
und dieser Erfolg sei nicht einmal ausgenutzt worden.
Diese Vorwürfe und Einwände würden ganz berechtigt fein, wenn die
Marokkofrage aus dem Zusammenhange mit der sogenannten „großen" Politik
der europäischen Großmächte herauszulösen gewesen wäre, — wenn etwa
Frankreich nichts weiter gewollt hätte, als seinen nordafrikanischen Kolonialbesitz
durch die Erwerbung der Nordwestecke des schwarzen Erdteils zu erweitern. Man
muß aber bedenken, daß jeder Schritt, der uns in Marokko unserem wirklich
so bescheidenen Ziele näher führen sollte, zugleich ein Schachzug auf dem Brett
der europäischen Politik war. England suchte infolge einer vollständigen Neu¬
orientierung seiner Politik eine Annäherung an Frankreich und mit Hilfe dieser
Verständigung eine stärkere Sicherung seines Weges nach Indien; Frankreich
suchte eine bessere Rückendeckung für seine von dem Grundgedanken der Feind¬
schaft gegen Deutschland getragene Politik. Marokko war für beide Mächte
nur das Mittel zur Erreichung umfassenderer Zwecke. Darum benutzte Frankreich
den mit England abgeschlossenen Vertrag zu einem Akt offenkundiger Nicht¬
achtung nicht nur der deutschen Interessen in Marokko, sondern auch der poli¬
tischen Stellung Deutschlands in Europa, indem es das Abkommen der deutschen
Regierung nicht modifizierte. Die richtige Antwort darauf konnte nur ein öffent-
licher Akt gleicher Nichtbeachtung des englisch-französischen Abkommens von
seiten Deutschlands sein. Jeder gewöhnliche diplomatische Schritt hätte diesen
Zweck nicht erfüllt, weil er entweder wirkungslos geblieben wäre oder fast
unmittelbar einen Konflikt herbeigeführt hätte. Es mußte ein auffallender,
auf die ganze Welt stark wirkender, außerhalb der diplomatischen Aktionen
bleibender und doch an sich nicht provozierender Schritt sein. Diese An¬
forderungen konnte nur ein, sozusagen, höfischer Akt erfüllen.' das Betreten
marokkanischen Bodens durch den Deutschen Kaiser und seine Begrüßung im
Auftrage des unabhängigen Sultans von Marokko. Was zur Feststellung der
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