Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage erschwerenden Einflüsse den Lockungen Frankreichs widerstand und die Berufung Daß die Konferenz in Algeciras für uns keine erfreuliche Episode war, ist Auf deutscher Seite hatte niemals eine grundsätzliche Abneigung bestanden, Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage erschwerenden Einflüsse den Lockungen Frankreichs widerstand und die Berufung Daß die Konferenz in Algeciras für uns keine erfreuliche Episode war, ist Auf deutscher Seite hatte niemals eine grundsätzliche Abneigung bestanden, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0515" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322917"/> <fw type="header" place="top"> Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage</fw><lb/> <p xml:id="ID_2541" prev="#ID_2540"> erschwerenden Einflüsse den Lockungen Frankreichs widerstand und die Berufung<lb/> einer internationalen Konferenz durchdrückte.</p><lb/> <p xml:id="ID_2542"> Daß die Konferenz in Algeciras für uns keine erfreuliche Episode war, ist<lb/> ohne weiteres zuzugeben. Der Kampf, den Deutschland dabei gegen die Koa¬<lb/> lition seiner Neider und Gegner zu führen hatte, brachte manche äußeren Ein¬<lb/> drücke mit sich, die sür ein geschärftes nationales Selbstbewußtsein schwer zu<lb/> ertragen waren, und dergleichen Eindrücke wiegen in der Welt, wie sie um<lb/> einmal ist, und bei einer Staatskunst, die auch im günstigsten Falle nicht mit<lb/> ganz offenen Karten spielen und ihre letzten und besten Gründe niemals auf<lb/> dem Markte ausschreien kann, mindestens so schwer wie die immer zum Teil<lb/> hinter den Kulissen verborgenen Tatsachen. Die unangenehmste Überraschung<lb/> war für uns wohl die Haltung Italiens; erst heute wissen wir, daß Italien<lb/> sich durch die Zusicherungen der Westmächte hinsichtlich der künftigen Erwerbung<lb/> von Tripolis gebunden hielt. Daß es sich unter den obwaltenden Umständen<lb/> mehr als Mittelmeermacht denn als Dreibundmacht fühlte, wird ihm ein kühl<lb/> rechnender Politiker kaum verdenken können. Wenn nun aber aus alledem<lb/> gefolgert wird, das Ergebnis der Algeciraskonferenz sei für uns ein Fehlschlag<lb/> und diese ganze Politik somit ein Fehler gewesen, so ist das wiederum gänzlich<lb/> unzutreffend. Frankreich war gezwungen worden, eine Rechtslage anzuerkennen,<lb/> die es jahrelang bemüht gewesen war, als nicht vorhanden anzusehen und dann<lb/> förmlich zu beseitigen. Deutschland aber gewann einen förmlichen Rechtstitel,<lb/> aus Grund dessen es seine Interessen in Marokko wahren konnte. Erst auf<lb/> dieser Grundlage wurde das deutsch-französische Abkommen vom 8. Februar<lb/> 1909 möglich, das innerhalb der Bestimmungen der Algecirasakte die besonderen<lb/> Wünsche und Ansprüche beider Mächte gegenseitig klärte und abgrenzte. Deutsch¬<lb/> land konnte jetzt den politischen und militärischen Interessen Frankreichs gewisse<lb/> Zugeständnisse machen, weil die Erfahrungen von drei Jahren inzwischen die<lb/> Lage verändert hatten. Wenn im Jahre 1905 die Dinge so gestanden hatten,<lb/> daß die förmliche Anerkennung der Gleichberechtigung aller Mächte nur unter<lb/> der Voraussetzung eines unabhängigen Marokkos zu erlangen war, so hatten<lb/> die drei Jahre nach dem Abschluß der Algecirasakte gezeigt, daß eine andere,<lb/> ebenso notwendige Voraussetzung für die Wirksamkeit der in Marokko inter¬<lb/> essierten Mächte, nämlich die Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und<lb/> der innere Friede des Landes, von der gesetzmäßigen Regierung in Marokko<lb/> nicht zu erlangen war. Indem Deutschland den ihm eigentlich daraus erwachsenden<lb/> Anteil politischer und militärischer Fürsorge innerhalb der in der Algecirasakte ge¬<lb/> zogenen Grenzen an Frankreich übertrug, blieb es seinem alten Programm getren<lb/> und wahrte sich' noch einmal die ausdrückliche und besondere Verpflichtung<lb/> Frankreichs, den deutschen Handelsbestrebungen nichts in den Weg zu legen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2543" next="#ID_2544"> Auf deutscher Seite hatte niemals eine grundsätzliche Abneigung bestanden,<lb/> Frankreich den Besitz von Marokko zuzugestehen, wenn nur eine Sicherheit gegen<lb/> die „Tunifikation" des Landes, d. h. gegen den Ausschluß jedes nichtfranzösischen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0515]
Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage
erschwerenden Einflüsse den Lockungen Frankreichs widerstand und die Berufung
einer internationalen Konferenz durchdrückte.
Daß die Konferenz in Algeciras für uns keine erfreuliche Episode war, ist
ohne weiteres zuzugeben. Der Kampf, den Deutschland dabei gegen die Koa¬
lition seiner Neider und Gegner zu führen hatte, brachte manche äußeren Ein¬
drücke mit sich, die sür ein geschärftes nationales Selbstbewußtsein schwer zu
ertragen waren, und dergleichen Eindrücke wiegen in der Welt, wie sie um
einmal ist, und bei einer Staatskunst, die auch im günstigsten Falle nicht mit
ganz offenen Karten spielen und ihre letzten und besten Gründe niemals auf
dem Markte ausschreien kann, mindestens so schwer wie die immer zum Teil
hinter den Kulissen verborgenen Tatsachen. Die unangenehmste Überraschung
war für uns wohl die Haltung Italiens; erst heute wissen wir, daß Italien
sich durch die Zusicherungen der Westmächte hinsichtlich der künftigen Erwerbung
von Tripolis gebunden hielt. Daß es sich unter den obwaltenden Umständen
mehr als Mittelmeermacht denn als Dreibundmacht fühlte, wird ihm ein kühl
rechnender Politiker kaum verdenken können. Wenn nun aber aus alledem
gefolgert wird, das Ergebnis der Algeciraskonferenz sei für uns ein Fehlschlag
und diese ganze Politik somit ein Fehler gewesen, so ist das wiederum gänzlich
unzutreffend. Frankreich war gezwungen worden, eine Rechtslage anzuerkennen,
die es jahrelang bemüht gewesen war, als nicht vorhanden anzusehen und dann
förmlich zu beseitigen. Deutschland aber gewann einen förmlichen Rechtstitel,
aus Grund dessen es seine Interessen in Marokko wahren konnte. Erst auf
dieser Grundlage wurde das deutsch-französische Abkommen vom 8. Februar
1909 möglich, das innerhalb der Bestimmungen der Algecirasakte die besonderen
Wünsche und Ansprüche beider Mächte gegenseitig klärte und abgrenzte. Deutsch¬
land konnte jetzt den politischen und militärischen Interessen Frankreichs gewisse
Zugeständnisse machen, weil die Erfahrungen von drei Jahren inzwischen die
Lage verändert hatten. Wenn im Jahre 1905 die Dinge so gestanden hatten,
daß die förmliche Anerkennung der Gleichberechtigung aller Mächte nur unter
der Voraussetzung eines unabhängigen Marokkos zu erlangen war, so hatten
die drei Jahre nach dem Abschluß der Algecirasakte gezeigt, daß eine andere,
ebenso notwendige Voraussetzung für die Wirksamkeit der in Marokko inter¬
essierten Mächte, nämlich die Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und
der innere Friede des Landes, von der gesetzmäßigen Regierung in Marokko
nicht zu erlangen war. Indem Deutschland den ihm eigentlich daraus erwachsenden
Anteil politischer und militärischer Fürsorge innerhalb der in der Algecirasakte ge¬
zogenen Grenzen an Frankreich übertrug, blieb es seinem alten Programm getren
und wahrte sich' noch einmal die ausdrückliche und besondere Verpflichtung
Frankreichs, den deutschen Handelsbestrebungen nichts in den Weg zu legen.
Auf deutscher Seite hatte niemals eine grundsätzliche Abneigung bestanden,
Frankreich den Besitz von Marokko zuzugestehen, wenn nur eine Sicherheit gegen
die „Tunifikation" des Landes, d. h. gegen den Ausschluß jedes nichtfranzösischen
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