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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Dichtung und Wahrheit in der MuroKofrago

Zunächst sind es naheliegende Gründe, die diese Stimmung erzeugt haben.
Der Wunsch, Deutschland möge in Marokko politisch festen Fuß fassen, hatte
ja für Leute, die ohnehin dafür gestimmt sind, daß sich die nationale Unter¬
nehmungslust nach außen hin stärker betätigen sollte, sehr viel Bestechendes.
Man darf sich daher nicht wundern, daß in nationalen Vereinen und Zeitungen
sehr eifrig dafür gearbeitet wurde. So gewann diese Überzeugung, die nicht
die unsere ist, deren Ehrlichkeit wir aber trotzdem unbefangen würdigen, eine
sehr weite Verbreitung. Daß sie sogar noch über die Kreise, denen man ein
eigenes Urteil und eine wirkliche Überzeugung zusprechen kann, weiter hinaus¬
getragen wurde, war die gleichfalls für einen erfahrenen Politiker nicht schwer
zu begreifende Folge einer Eigentümlichkeit unseres Nationalcharakters. Der
Deutsche ist im allgemeinen nicht politisch angelegt; außer bestimmten Fragen,
die ihn zufällig näher persönlich angehen, vertieft er sich nicht gern allzu sachlich
in die Politik; diese ist ihm nnr Gegenstand eines meist unklar und doch stark
empfundenen Bedürfnisses, zu kritisieren und sich zu begeistern. Nichts entspricht
daher so sehr der politischen Disposition des Durchschnittsdeutschen als die
Möglichkeit, zugleich zu kritisieren und sich zu begeistern, wenn man ihm nämlich
sagt, die Negierung tauge nichts und tue in nationalen Fragen nicht ihre
Schuldigkeit. Dann kann der gläubige Empfänger dieser Versicherung nach
Herzenslust in ungebändigter Kritik sein Nationalgefühl aufwallen lassen; das
gibt nicht nur die angenehme Erregung, die der brave Staatsbürger von Zeit
zu Zeit braucht -- denn er muß doch etwas für das Gemeinwohl tun --
sondern ist auch in der Regel kostenlos, schmerzlos und gefahrlos, weil im
tiefsten Grunde des Herzens doch das Vertrauen feststeht, daß die Regierung
die unangenehmen Folgen etwaiger Dummheiten zu verhüten weiß. Wer also
mit einiger Glaubwürdigkeit, ohne zuviel Nachdenken zu fordern, behauptet, die
Regierung habe irgendein angebliches nationales Interesse nicht schneidig genug
gewahrt, wird immer einen großen Erfolg bei der öffentlichen Meinung haben.
Eine breite Masse solcher Nachläufer stand daher auch in diesem Falle hinter
denjenigen, die aus einer von uns für irrig gehaltenen, aber immerhin auf
sachlichen Gründen beruhenden Überlegung in der Marokkofrage der Regierung
Opposition machen zu müssen glaubten. Der Druck, der von dieser Seite
immer wieder auf die Negierung auszuüben versucht wurde und die entsprechende
Behandlung der Frage in einem Teil der nationalen Presse haben dann
den Eindruck erzeugt, als ob die Regierung wirklich weitergehende Absichten in
der Marokkopolitik gehabt und sie nnr nicht eingestanden und energisch verfolgt
habe, so daß sie auf die Linie ihres ursprünglichen öffentlichen Programms
zurückgedrängt worden sei.

Diese Auffassung ist zwar völlig unrichtig, aber wenn man das, wie es
der Wahrheit entspricht, entschieden betont, so wird man von der Gegenseite
auf einige Tatsachen hingewiesen, die sich mit dem bescheidenen Ziel der
deutschen Marokkopolitik nicht zu vertragen scheinen. Diese Tatsachen find der


Dichtung und Wahrheit in der MuroKofrago

Zunächst sind es naheliegende Gründe, die diese Stimmung erzeugt haben.
Der Wunsch, Deutschland möge in Marokko politisch festen Fuß fassen, hatte
ja für Leute, die ohnehin dafür gestimmt sind, daß sich die nationale Unter¬
nehmungslust nach außen hin stärker betätigen sollte, sehr viel Bestechendes.
Man darf sich daher nicht wundern, daß in nationalen Vereinen und Zeitungen
sehr eifrig dafür gearbeitet wurde. So gewann diese Überzeugung, die nicht
die unsere ist, deren Ehrlichkeit wir aber trotzdem unbefangen würdigen, eine
sehr weite Verbreitung. Daß sie sogar noch über die Kreise, denen man ein
eigenes Urteil und eine wirkliche Überzeugung zusprechen kann, weiter hinaus¬
getragen wurde, war die gleichfalls für einen erfahrenen Politiker nicht schwer
zu begreifende Folge einer Eigentümlichkeit unseres Nationalcharakters. Der
Deutsche ist im allgemeinen nicht politisch angelegt; außer bestimmten Fragen,
die ihn zufällig näher persönlich angehen, vertieft er sich nicht gern allzu sachlich
in die Politik; diese ist ihm nnr Gegenstand eines meist unklar und doch stark
empfundenen Bedürfnisses, zu kritisieren und sich zu begeistern. Nichts entspricht
daher so sehr der politischen Disposition des Durchschnittsdeutschen als die
Möglichkeit, zugleich zu kritisieren und sich zu begeistern, wenn man ihm nämlich
sagt, die Negierung tauge nichts und tue in nationalen Fragen nicht ihre
Schuldigkeit. Dann kann der gläubige Empfänger dieser Versicherung nach
Herzenslust in ungebändigter Kritik sein Nationalgefühl aufwallen lassen; das
gibt nicht nur die angenehme Erregung, die der brave Staatsbürger von Zeit
zu Zeit braucht — denn er muß doch etwas für das Gemeinwohl tun —
sondern ist auch in der Regel kostenlos, schmerzlos und gefahrlos, weil im
tiefsten Grunde des Herzens doch das Vertrauen feststeht, daß die Regierung
die unangenehmen Folgen etwaiger Dummheiten zu verhüten weiß. Wer also
mit einiger Glaubwürdigkeit, ohne zuviel Nachdenken zu fordern, behauptet, die
Regierung habe irgendein angebliches nationales Interesse nicht schneidig genug
gewahrt, wird immer einen großen Erfolg bei der öffentlichen Meinung haben.
Eine breite Masse solcher Nachläufer stand daher auch in diesem Falle hinter
denjenigen, die aus einer von uns für irrig gehaltenen, aber immerhin auf
sachlichen Gründen beruhenden Überlegung in der Marokkofrage der Regierung
Opposition machen zu müssen glaubten. Der Druck, der von dieser Seite
immer wieder auf die Negierung auszuüben versucht wurde und die entsprechende
Behandlung der Frage in einem Teil der nationalen Presse haben dann
den Eindruck erzeugt, als ob die Regierung wirklich weitergehende Absichten in
der Marokkopolitik gehabt und sie nnr nicht eingestanden und energisch verfolgt
habe, so daß sie auf die Linie ihres ursprünglichen öffentlichen Programms
zurückgedrängt worden sei.

Diese Auffassung ist zwar völlig unrichtig, aber wenn man das, wie es
der Wahrheit entspricht, entschieden betont, so wird man von der Gegenseite
auf einige Tatsachen hingewiesen, die sich mit dem bescheidenen Ziel der
deutschen Marokkopolitik nicht zu vertragen scheinen. Diese Tatsachen find der


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[0512] Dichtung und Wahrheit in der MuroKofrago Zunächst sind es naheliegende Gründe, die diese Stimmung erzeugt haben. Der Wunsch, Deutschland möge in Marokko politisch festen Fuß fassen, hatte ja für Leute, die ohnehin dafür gestimmt sind, daß sich die nationale Unter¬ nehmungslust nach außen hin stärker betätigen sollte, sehr viel Bestechendes. Man darf sich daher nicht wundern, daß in nationalen Vereinen und Zeitungen sehr eifrig dafür gearbeitet wurde. So gewann diese Überzeugung, die nicht die unsere ist, deren Ehrlichkeit wir aber trotzdem unbefangen würdigen, eine sehr weite Verbreitung. Daß sie sogar noch über die Kreise, denen man ein eigenes Urteil und eine wirkliche Überzeugung zusprechen kann, weiter hinaus¬ getragen wurde, war die gleichfalls für einen erfahrenen Politiker nicht schwer zu begreifende Folge einer Eigentümlichkeit unseres Nationalcharakters. Der Deutsche ist im allgemeinen nicht politisch angelegt; außer bestimmten Fragen, die ihn zufällig näher persönlich angehen, vertieft er sich nicht gern allzu sachlich in die Politik; diese ist ihm nnr Gegenstand eines meist unklar und doch stark empfundenen Bedürfnisses, zu kritisieren und sich zu begeistern. Nichts entspricht daher so sehr der politischen Disposition des Durchschnittsdeutschen als die Möglichkeit, zugleich zu kritisieren und sich zu begeistern, wenn man ihm nämlich sagt, die Negierung tauge nichts und tue in nationalen Fragen nicht ihre Schuldigkeit. Dann kann der gläubige Empfänger dieser Versicherung nach Herzenslust in ungebändigter Kritik sein Nationalgefühl aufwallen lassen; das gibt nicht nur die angenehme Erregung, die der brave Staatsbürger von Zeit zu Zeit braucht — denn er muß doch etwas für das Gemeinwohl tun — sondern ist auch in der Regel kostenlos, schmerzlos und gefahrlos, weil im tiefsten Grunde des Herzens doch das Vertrauen feststeht, daß die Regierung die unangenehmen Folgen etwaiger Dummheiten zu verhüten weiß. Wer also mit einiger Glaubwürdigkeit, ohne zuviel Nachdenken zu fordern, behauptet, die Regierung habe irgendein angebliches nationales Interesse nicht schneidig genug gewahrt, wird immer einen großen Erfolg bei der öffentlichen Meinung haben. Eine breite Masse solcher Nachläufer stand daher auch in diesem Falle hinter denjenigen, die aus einer von uns für irrig gehaltenen, aber immerhin auf sachlichen Gründen beruhenden Überlegung in der Marokkofrage der Regierung Opposition machen zu müssen glaubten. Der Druck, der von dieser Seite immer wieder auf die Negierung auszuüben versucht wurde und die entsprechende Behandlung der Frage in einem Teil der nationalen Presse haben dann den Eindruck erzeugt, als ob die Regierung wirklich weitergehende Absichten in der Marokkopolitik gehabt und sie nnr nicht eingestanden und energisch verfolgt habe, so daß sie auf die Linie ihres ursprünglichen öffentlichen Programms zurückgedrängt worden sei. Diese Auffassung ist zwar völlig unrichtig, aber wenn man das, wie es der Wahrheit entspricht, entschieden betont, so wird man von der Gegenseite auf einige Tatsachen hingewiesen, die sich mit dem bescheidenen Ziel der deutschen Marokkopolitik nicht zu vertragen scheinen. Diese Tatsachen find der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/512>, abgerufen am 15.01.2025.