Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrago lose Behandlung des Stoffes, die dem Buche den Wert gibt; daß der Verfasser Nun genügt freilich ein fremdes Zeugnis für die deutsche Politik nicht, Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrago lose Behandlung des Stoffes, die dem Buche den Wert gibt; daß der Verfasser Nun genügt freilich ein fremdes Zeugnis für die deutsche Politik nicht, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0506" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322908"/> <fw type="header" place="top"> Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrago</fw><lb/> <p xml:id="ID_2523" prev="#ID_2522"> lose Behandlung des Stoffes, die dem Buche den Wert gibt; daß der Verfasser<lb/> Engländer ist, hat nur die Bedeutung eines zufälligen Nebenumstandes. Aller¬<lb/> dings darf man wohl sagen, daß nur ein Deutscher oder ein Engländer solcher<lb/> Objektivität fähig ist, und vielleicht sind uns die Engländer darin noch über¬<lb/> legen. Es ist die beste Seite der Charakterveranlagung, des Erziehung ssnstems<lb/> und der Lebensauffassung der Engländer, daß sie einen rücksichtslosen Wahr¬<lb/> heitsmut entwickeln. Wenn diese Eigenschaft außerhalb der persönlichen und<lb/> nationalen Sphäre nicht immer zur Geltung kommt, so liegt das daran, daß<lb/> ihr dem Auslande gegenüber andere Eigenheiten die Wage halten, nämlich die<lb/> nationalen Vorurteile, der maßlose Dünkel und eine uns Deutschen oft kaum<lb/> begreifliche, bis in die höchsten Kreise von Staat und Gesellschaft hineinreichende<lb/> Unwissenheit. Wo aber eine Persönlichkeit einmal durch tiefere Bildung die<lb/> nationale Beschränktheit überwunden hat, da finden wir in der Beurteilung<lb/> von Menschen und Dingen in der Regel auch jene schlechthin unbegrenzte Un¬<lb/> befangenheit, die wir an Morel bewundern müssen. Nur darf man nicht<lb/> erwarten, daß solche Urteile in England selbst aus die öffentliche Meinung den<lb/> geringsten Eindruck machen. Die Anschauungen der Nation bewegen sich viel<lb/> zu sehr in gewohnten Bahnen, in denen sie durch einen in Jahrhunderten an¬<lb/> erzogenen und erworbenen, allmählich zur nationalen Eigentümlichkeit gewordenen<lb/> Instinkt für den nationalen Vorteil erhalten werden. Man muß sich also<lb/> gegenwärtig halten, daß die Bedeutung des Morelschen Buches nur in der vor¬<lb/> urteilsloser, klaren Feststellung der Wahrheit liegt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2524" next="#ID_2525"> Nun genügt freilich ein fremdes Zeugnis für die deutsche Politik nicht,<lb/> um sie auch für den vaterländischen Standpunkt zu rechtfertigen. Eine Politik<lb/> kann in sich glänzend und erfolgreich durchgeführt und dennoch falsch sein. Hier<lb/> entscheidet selbstverständlich nur der vaterländische Standpunkt. In den meisten<lb/> Fällen wird für Deutsche kein Zweifel bestehen können, welches Ziel den deutschen<lb/> Interessen zu bezeichnen ist. Der Wege zum Ziel wird es immer sehr viele<lb/> geben. Wird einer von ihnen beschritten, ohne daß man das Ziel erreicht,<lb/> dann mag die Kritik einsetzen; dann ist wirklich etwas versehen worden. Liegt<lb/> aber nun dieser Fall in der Marokkopolitik vor? Die Frage muß auf das<lb/> bestimmteste verneint werden. Es ist ganz unmöglich, in die Erörterung der<lb/> Marokkopolitik auch nur einige Klarheit zu bringen — von einer Verständigung<lb/> darüber ganz zu geschweigen —, wenn nicht von vornherein festgestellt wird,<lb/> daß über das Ziel dieser Politik von Anfang an eine grundlegende Meinungs¬<lb/> verschiedenheit bestand. Es ist nicht an dem, daß die deutschen Interessen in<lb/> Marokko ein allgemein und zweifelfrei erkennbares Ziel hatten und daß nur<lb/> die Art der Ausführung verschiedene Möglichkeiten zuließ. Die Wahrheit ist,<lb/> daß zu jeder Zeit, im Anfang wie in: weiteren Verlauf der Entwicklung, in<lb/> bezug auf das Ziel dieser Politik zwei Ansichten nebeneinander standen, von<lb/> denen die eine die andere ausschloß. Die eine wollte, kurz gesagt, Marokko<lb/> für Deutschland erwerben; die andere lehnte diese Möglichkeit bewußt und ent-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0506]
Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrago
lose Behandlung des Stoffes, die dem Buche den Wert gibt; daß der Verfasser
Engländer ist, hat nur die Bedeutung eines zufälligen Nebenumstandes. Aller¬
dings darf man wohl sagen, daß nur ein Deutscher oder ein Engländer solcher
Objektivität fähig ist, und vielleicht sind uns die Engländer darin noch über¬
legen. Es ist die beste Seite der Charakterveranlagung, des Erziehung ssnstems
und der Lebensauffassung der Engländer, daß sie einen rücksichtslosen Wahr¬
heitsmut entwickeln. Wenn diese Eigenschaft außerhalb der persönlichen und
nationalen Sphäre nicht immer zur Geltung kommt, so liegt das daran, daß
ihr dem Auslande gegenüber andere Eigenheiten die Wage halten, nämlich die
nationalen Vorurteile, der maßlose Dünkel und eine uns Deutschen oft kaum
begreifliche, bis in die höchsten Kreise von Staat und Gesellschaft hineinreichende
Unwissenheit. Wo aber eine Persönlichkeit einmal durch tiefere Bildung die
nationale Beschränktheit überwunden hat, da finden wir in der Beurteilung
von Menschen und Dingen in der Regel auch jene schlechthin unbegrenzte Un¬
befangenheit, die wir an Morel bewundern müssen. Nur darf man nicht
erwarten, daß solche Urteile in England selbst aus die öffentliche Meinung den
geringsten Eindruck machen. Die Anschauungen der Nation bewegen sich viel
zu sehr in gewohnten Bahnen, in denen sie durch einen in Jahrhunderten an¬
erzogenen und erworbenen, allmählich zur nationalen Eigentümlichkeit gewordenen
Instinkt für den nationalen Vorteil erhalten werden. Man muß sich also
gegenwärtig halten, daß die Bedeutung des Morelschen Buches nur in der vor¬
urteilsloser, klaren Feststellung der Wahrheit liegt.
Nun genügt freilich ein fremdes Zeugnis für die deutsche Politik nicht,
um sie auch für den vaterländischen Standpunkt zu rechtfertigen. Eine Politik
kann in sich glänzend und erfolgreich durchgeführt und dennoch falsch sein. Hier
entscheidet selbstverständlich nur der vaterländische Standpunkt. In den meisten
Fällen wird für Deutsche kein Zweifel bestehen können, welches Ziel den deutschen
Interessen zu bezeichnen ist. Der Wege zum Ziel wird es immer sehr viele
geben. Wird einer von ihnen beschritten, ohne daß man das Ziel erreicht,
dann mag die Kritik einsetzen; dann ist wirklich etwas versehen worden. Liegt
aber nun dieser Fall in der Marokkopolitik vor? Die Frage muß auf das
bestimmteste verneint werden. Es ist ganz unmöglich, in die Erörterung der
Marokkopolitik auch nur einige Klarheit zu bringen — von einer Verständigung
darüber ganz zu geschweigen —, wenn nicht von vornherein festgestellt wird,
daß über das Ziel dieser Politik von Anfang an eine grundlegende Meinungs¬
verschiedenheit bestand. Es ist nicht an dem, daß die deutschen Interessen in
Marokko ein allgemein und zweifelfrei erkennbares Ziel hatten und daß nur
die Art der Ausführung verschiedene Möglichkeiten zuließ. Die Wahrheit ist,
daß zu jeder Zeit, im Anfang wie in: weiteren Verlauf der Entwicklung, in
bezug auf das Ziel dieser Politik zwei Ansichten nebeneinander standen, von
denen die eine die andere ausschloß. Die eine wollte, kurz gesagt, Marokko
für Deutschland erwerben; die andere lehnte diese Möglichkeit bewußt und ent-
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