Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage französische Publizist hat den Ereignissen nahe genug gestanden, um die Vor¬ Eine ganz andere Bedeutung hat natürlich das Gelbbuch, das die fran¬ Wenn wir nun aber eine Darstellung suchen, die dem deutschen Stand¬ Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage französische Publizist hat den Ereignissen nahe genug gestanden, um die Vor¬ Eine ganz andere Bedeutung hat natürlich das Gelbbuch, das die fran¬ Wenn wir nun aber eine Darstellung suchen, die dem deutschen Stand¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0505" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322907"/> <fw type="header" place="top"> Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage</fw><lb/> <p xml:id="ID_2520" prev="#ID_2519"> französische Publizist hat den Ereignissen nahe genug gestanden, um die Vor¬<lb/> aussetzung zu rechtfertigen, daß er manchen Blick hinter die Kulissen getan hat.<lb/> Dabei ist jedoch zu bedenken, daß Tardieu nicht den Ehrgeiz des Historikers<lb/> hat, die Quellen der Kenntnis des Geschehenen für alle kommenden Zeiten zu<lb/> erschließen; er bleibt auch als Versasser eines mit urkundlichen Material an¬<lb/> gefüllten Werke« von nahezu vierzig Druckbogen der Mann, der zunächst vor<lb/> der Gegenwart sein Licht leuchten lassen und auf die öffentliche Meinung seiner<lb/> Zeit wirken will. Das Wirksame geht ihm über das Wirkliche. Man kann<lb/> ihm dabei weniger eine bewußte Färbung der Tatsachen vorwerfen, als eine<lb/> Umprägung des Stoffes, wie sie einem lebhaften Temperament und einem<lb/> phantastereichen, zur Tendenz geneigten Sinn sehr leicht unterläuft, sobald es<lb/> sich um selbsterlebte Dinge handelt, an denen persönliche Interessen und patrio¬<lb/> tische Gefühle lebhaft beteiligt waren. Nötige doch schon der Titel uns ein<lb/> Lächeln ab, denn geheimnisvoll konnte die Aktion von Agadir den Franzosen<lb/> eigentlich nicht sein. Immerhin ist die Art, wie Tardieu das angebliche Ge¬<lb/> heimnis zu entschleiern sucht, sür uns interessant und lehrreich.</p><lb/> <p xml:id="ID_2521"> Eine ganz andere Bedeutung hat natürlich das Gelbbuch, das die fran¬<lb/> zösische Regierung kürzlich veröffentlicht hat. Hier lernen wir den Teil des<lb/> amtlichen Materials kennen, den die französische Regierung selbst für geeignet<lb/> hält, das französische Volk und die ganze Welt über ihre Marokkopolitik zu<lb/> unterrichten. Sehen wir dieses Material mit deutschen Augen an, so entsteht<lb/> daraus mancher Eindruck, den die französische Regierung augenscheinlich nicht<lb/> berechnet hat. Da diese Eindrücke das Gewicht der Gründe der deutschen<lb/> Politik vermehren helfen, so kann man sich dieses Ergebnis gewiß gern gefallen<lb/> lassen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2522" next="#ID_2523"> Wenn wir nun aber eine Darstellung suchen, die dem deutschen Stand¬<lb/> punkt ganz und gar gerecht wird, so müssen wir uns seltsamerweise an einen<lb/> englischen Verfasser halten. Wie schon erwähnt wurde, ist die Stimmung bei<lb/> uns in Deutschland so merkwürdig beeinflußt, daß ruhige Würdigungen unserer<lb/> Marokkopolitik selten sind. Deshalb muß es für uns überraschend wirken,<lb/> wenn ein völlig unabhängiger Ausländer das ganze, der Öffentlichkeit bis jetzt<lb/> zugängliche Material untersucht und daraus die Überzeugung gewinnt, daß die<lb/> deutsche Politik in dieser Frage nicht nur folgerichtig und den deutscheu Inter¬<lb/> essen entsprechend, sondern auch die einzige war, die sich nicht ins Unrecht setzte.<lb/> Diese gründliche und unparteiische Behandlung der Marokkofrage stammt aus<lb/> der Feder des Engländers E. D. Morel. Sein Buch führt den Titel:<lb/> ,Me>roLLO in Diploma^", und er gelangt darin zu einer überaus scharfen<lb/> Verurteilung der englischen Politik in der Marokkofrage. Man darf aber daran<lb/> nicht etwa die Hoffnung knüpfen, die englische Politik werde nun durch die<lb/> Stimme dieses aufgeklärten und offenherzigen Landsmannes zu einer Revision<lb/> ihres bisherigen Standpunktes bewogen werden. Solche Hoffnungen dürften<lb/> sich als eitel erweisen. Es ist nur die erstaunlich unbefangene und Vorurteils-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0505]
Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage
französische Publizist hat den Ereignissen nahe genug gestanden, um die Vor¬
aussetzung zu rechtfertigen, daß er manchen Blick hinter die Kulissen getan hat.
Dabei ist jedoch zu bedenken, daß Tardieu nicht den Ehrgeiz des Historikers
hat, die Quellen der Kenntnis des Geschehenen für alle kommenden Zeiten zu
erschließen; er bleibt auch als Versasser eines mit urkundlichen Material an¬
gefüllten Werke« von nahezu vierzig Druckbogen der Mann, der zunächst vor
der Gegenwart sein Licht leuchten lassen und auf die öffentliche Meinung seiner
Zeit wirken will. Das Wirksame geht ihm über das Wirkliche. Man kann
ihm dabei weniger eine bewußte Färbung der Tatsachen vorwerfen, als eine
Umprägung des Stoffes, wie sie einem lebhaften Temperament und einem
phantastereichen, zur Tendenz geneigten Sinn sehr leicht unterläuft, sobald es
sich um selbsterlebte Dinge handelt, an denen persönliche Interessen und patrio¬
tische Gefühle lebhaft beteiligt waren. Nötige doch schon der Titel uns ein
Lächeln ab, denn geheimnisvoll konnte die Aktion von Agadir den Franzosen
eigentlich nicht sein. Immerhin ist die Art, wie Tardieu das angebliche Ge¬
heimnis zu entschleiern sucht, sür uns interessant und lehrreich.
Eine ganz andere Bedeutung hat natürlich das Gelbbuch, das die fran¬
zösische Regierung kürzlich veröffentlicht hat. Hier lernen wir den Teil des
amtlichen Materials kennen, den die französische Regierung selbst für geeignet
hält, das französische Volk und die ganze Welt über ihre Marokkopolitik zu
unterrichten. Sehen wir dieses Material mit deutschen Augen an, so entsteht
daraus mancher Eindruck, den die französische Regierung augenscheinlich nicht
berechnet hat. Da diese Eindrücke das Gewicht der Gründe der deutschen
Politik vermehren helfen, so kann man sich dieses Ergebnis gewiß gern gefallen
lassen.
Wenn wir nun aber eine Darstellung suchen, die dem deutschen Stand¬
punkt ganz und gar gerecht wird, so müssen wir uns seltsamerweise an einen
englischen Verfasser halten. Wie schon erwähnt wurde, ist die Stimmung bei
uns in Deutschland so merkwürdig beeinflußt, daß ruhige Würdigungen unserer
Marokkopolitik selten sind. Deshalb muß es für uns überraschend wirken,
wenn ein völlig unabhängiger Ausländer das ganze, der Öffentlichkeit bis jetzt
zugängliche Material untersucht und daraus die Überzeugung gewinnt, daß die
deutsche Politik in dieser Frage nicht nur folgerichtig und den deutscheu Inter¬
essen entsprechend, sondern auch die einzige war, die sich nicht ins Unrecht setzte.
Diese gründliche und unparteiische Behandlung der Marokkofrage stammt aus
der Feder des Engländers E. D. Morel. Sein Buch führt den Titel:
,Me>roLLO in Diploma^", und er gelangt darin zu einer überaus scharfen
Verurteilung der englischen Politik in der Marokkofrage. Man darf aber daran
nicht etwa die Hoffnung knüpfen, die englische Politik werde nun durch die
Stimme dieses aufgeklärten und offenherzigen Landsmannes zu einer Revision
ihres bisherigen Standpunktes bewogen werden. Solche Hoffnungen dürften
sich als eitel erweisen. Es ist nur die erstaunlich unbefangene und Vorurteils-
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