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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Gleiches Wahlrecht?

bei einem -- vom staatlichen Gesichtspunkt aus -- ideal gerechten Wahlrecht
niemals vernachlässigt werden.

So kommt man von selbst zu dem vernünftigeren und gesunderen Grundsatz:
für gleiche Leistungen gleiches Recht, bei ungleichen Leistungen aber auch
Abstufung des politischen Einflusses.

Dieser kritischen allgemeinen Erörterung soll zur besseren Veranschaulichung
ein Vergleich aus der deutschen politischen Gegenwart folgen. Für den, der in
großen Zügen mit obigen Darlegungen einverstanden ist, wird die Entscheidung nicht
schwer fallen, welches der beiden hier herangezogenen Wahlrechte einer vertieften
Auffassung von Gerechtigkeit mehr genügt. Ob das Reichswahlrecht, das allgemein,
geheim, direkt und gleich, scheinbar alle Forderungen der Gerechtigkeitsfreunde be¬
friedigt, oder das Wahlrecht zur Bremer Bürgerschaft, das zwar auch geheim und bis
auf einen Fall direkt ist, aber, statt alle Bürger gleich zu werten, ständische
Bevorzugung mit dem Grundsatz allgemeiner Berechtigung verbindet.

Jedes direkte Wahlrecht, dessen Ergebnis, ob gewollt oder ungewollt, die
Rechte der Wähler ungleich verteilt, läßt sich als ein Plural-(Mehrstimmen-)
Wahlrecht auffassen. Der folgenden vergleichenden Anrechnung sind als statistisches
Zahlenmaterial zugrunde gelegt: die amtlichen Veröffentlichungen über die
Reichstagswahl 1907 und die Wahl zur Bremer Bürgerschaft 1905 (Jahrbuch
für Bremische Statistik 1907). Beim Reichswahlrecht kommen die Abstufungen
des politischen Einflusses nur durch die Bevölkerungsziffern der Kreise zur An¬
schauung. Setzen wir nämlich das Wahlrecht eines Wählers in dem am dichtesten
bevölkerten Kreise Potsdam 10 (Teltow-Beeskow-Charlottenburg) 1, so hat
ein Wähler des Kreises Schaumburg-Lippe gewissermaßen 25 Stimmen. Denn
in Charlottenburg kommt ein Abgeordneter erst auf 248000 Wahlberechtigte,
in Bückeburg schon auf nicht einmal 10000. Von den hansestädtischen Kreisen
ist Hamburg III mit nur 2 und Bremen mit nur 4 Pluralstimmen erheblich
benachteiligt. Hamburg I und II mit je 6 Pluralstimmen kommen dem Durch¬
schnitt von 8 Pluralstimmen schon näher, der allein von Lübeck als dem kleinsten
hansestädtischen Wahlkreis mit nur 25000 Wahlberechtigten und daher mit
lOfachem Wahlrecht übertroffen wird. Die Beispiele mögen genügen.*)



") Durch die Reichstagswahlen von 1912 und die letzten statistisch bearbeiteten Bürger¬
schaftswahlen (1908) ist die zahlenmäßige Ungleichheit im Reich noch deutlicher geworden:
Bremen:
Reich:
Industrielle ....... 28fach
Schaumburg-Lippe.... 33fach
Charlottenburg...... Ifach
Kaufleute......... 2öfach
Gelehrte......... 17 fach
Landwirte 1 oc ^
Vegesack (allg. Wahl) . . / ^
Bremerhaven ^ 5s ab
Handwerker......./
Bremen Land u. Stadt . 1- u. 2 fach

Gleiches Wahlrecht?

bei einem — vom staatlichen Gesichtspunkt aus — ideal gerechten Wahlrecht
niemals vernachlässigt werden.

So kommt man von selbst zu dem vernünftigeren und gesunderen Grundsatz:
für gleiche Leistungen gleiches Recht, bei ungleichen Leistungen aber auch
Abstufung des politischen Einflusses.

Dieser kritischen allgemeinen Erörterung soll zur besseren Veranschaulichung
ein Vergleich aus der deutschen politischen Gegenwart folgen. Für den, der in
großen Zügen mit obigen Darlegungen einverstanden ist, wird die Entscheidung nicht
schwer fallen, welches der beiden hier herangezogenen Wahlrechte einer vertieften
Auffassung von Gerechtigkeit mehr genügt. Ob das Reichswahlrecht, das allgemein,
geheim, direkt und gleich, scheinbar alle Forderungen der Gerechtigkeitsfreunde be¬
friedigt, oder das Wahlrecht zur Bremer Bürgerschaft, das zwar auch geheim und bis
auf einen Fall direkt ist, aber, statt alle Bürger gleich zu werten, ständische
Bevorzugung mit dem Grundsatz allgemeiner Berechtigung verbindet.

Jedes direkte Wahlrecht, dessen Ergebnis, ob gewollt oder ungewollt, die
Rechte der Wähler ungleich verteilt, läßt sich als ein Plural-(Mehrstimmen-)
Wahlrecht auffassen. Der folgenden vergleichenden Anrechnung sind als statistisches
Zahlenmaterial zugrunde gelegt: die amtlichen Veröffentlichungen über die
Reichstagswahl 1907 und die Wahl zur Bremer Bürgerschaft 1905 (Jahrbuch
für Bremische Statistik 1907). Beim Reichswahlrecht kommen die Abstufungen
des politischen Einflusses nur durch die Bevölkerungsziffern der Kreise zur An¬
schauung. Setzen wir nämlich das Wahlrecht eines Wählers in dem am dichtesten
bevölkerten Kreise Potsdam 10 (Teltow-Beeskow-Charlottenburg) 1, so hat
ein Wähler des Kreises Schaumburg-Lippe gewissermaßen 25 Stimmen. Denn
in Charlottenburg kommt ein Abgeordneter erst auf 248000 Wahlberechtigte,
in Bückeburg schon auf nicht einmal 10000. Von den hansestädtischen Kreisen
ist Hamburg III mit nur 2 und Bremen mit nur 4 Pluralstimmen erheblich
benachteiligt. Hamburg I und II mit je 6 Pluralstimmen kommen dem Durch¬
schnitt von 8 Pluralstimmen schon näher, der allein von Lübeck als dem kleinsten
hansestädtischen Wahlkreis mit nur 25000 Wahlberechtigten und daher mit
lOfachem Wahlrecht übertroffen wird. Die Beispiele mögen genügen.*)



") Durch die Reichstagswahlen von 1912 und die letzten statistisch bearbeiteten Bürger¬
schaftswahlen (1908) ist die zahlenmäßige Ungleichheit im Reich noch deutlicher geworden:
Bremen:
Reich:
Industrielle ....... 28fach
Schaumburg-Lippe.... 33fach
Charlottenburg...... Ifach
Kaufleute......... 2öfach
Gelehrte......... 17 fach
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Vegesack (allg. Wahl) . . / ^
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[0409] Gleiches Wahlrecht? bei einem — vom staatlichen Gesichtspunkt aus — ideal gerechten Wahlrecht niemals vernachlässigt werden. So kommt man von selbst zu dem vernünftigeren und gesunderen Grundsatz: für gleiche Leistungen gleiches Recht, bei ungleichen Leistungen aber auch Abstufung des politischen Einflusses. Dieser kritischen allgemeinen Erörterung soll zur besseren Veranschaulichung ein Vergleich aus der deutschen politischen Gegenwart folgen. Für den, der in großen Zügen mit obigen Darlegungen einverstanden ist, wird die Entscheidung nicht schwer fallen, welches der beiden hier herangezogenen Wahlrechte einer vertieften Auffassung von Gerechtigkeit mehr genügt. Ob das Reichswahlrecht, das allgemein, geheim, direkt und gleich, scheinbar alle Forderungen der Gerechtigkeitsfreunde be¬ friedigt, oder das Wahlrecht zur Bremer Bürgerschaft, das zwar auch geheim und bis auf einen Fall direkt ist, aber, statt alle Bürger gleich zu werten, ständische Bevorzugung mit dem Grundsatz allgemeiner Berechtigung verbindet. Jedes direkte Wahlrecht, dessen Ergebnis, ob gewollt oder ungewollt, die Rechte der Wähler ungleich verteilt, läßt sich als ein Plural-(Mehrstimmen-) Wahlrecht auffassen. Der folgenden vergleichenden Anrechnung sind als statistisches Zahlenmaterial zugrunde gelegt: die amtlichen Veröffentlichungen über die Reichstagswahl 1907 und die Wahl zur Bremer Bürgerschaft 1905 (Jahrbuch für Bremische Statistik 1907). Beim Reichswahlrecht kommen die Abstufungen des politischen Einflusses nur durch die Bevölkerungsziffern der Kreise zur An¬ schauung. Setzen wir nämlich das Wahlrecht eines Wählers in dem am dichtesten bevölkerten Kreise Potsdam 10 (Teltow-Beeskow-Charlottenburg) 1, so hat ein Wähler des Kreises Schaumburg-Lippe gewissermaßen 25 Stimmen. Denn in Charlottenburg kommt ein Abgeordneter erst auf 248000 Wahlberechtigte, in Bückeburg schon auf nicht einmal 10000. Von den hansestädtischen Kreisen ist Hamburg III mit nur 2 und Bremen mit nur 4 Pluralstimmen erheblich benachteiligt. Hamburg I und II mit je 6 Pluralstimmen kommen dem Durch¬ schnitt von 8 Pluralstimmen schon näher, der allein von Lübeck als dem kleinsten hansestädtischen Wahlkreis mit nur 25000 Wahlberechtigten und daher mit lOfachem Wahlrecht übertroffen wird. Die Beispiele mögen genügen.*) ") Durch die Reichstagswahlen von 1912 und die letzten statistisch bearbeiteten Bürger¬ schaftswahlen (1908) ist die zahlenmäßige Ungleichheit im Reich noch deutlicher geworden: Bremen: Reich: Industrielle ....... 28fach Schaumburg-Lippe.... 33fach Charlottenburg...... Ifach Kaufleute......... 2öfach Gelehrte......... 17 fach Landwirte 1 oc ^ Vegesack (allg. Wahl) . . / ^ Bremerhaven ^ 5s ab Handwerker......./ Bremen Land u. Stadt . 1- u. 2 fach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/409>, abgerufen am 15.01.2025.